Archiv für die Kategorie „Potsd. Tageszeitung“

Nachgetreten

Freitag, 29. Mai 2009

Jan Bosschaart über selbstgerechte Anwälte und ein kleines Hoffnungslicht

Die Stadt hat mal wieder verloren, und der Uferweg für alle ist wieder ein Stück weiter in die Ferne gerückt. Nun lässt sich natürlich erneut der Konjunktiv als tröstender Freund anrufen: Wenn die Stadt gleich 1990 reagiert hätte; wenn sie früher einen Bebauungsplan verabschiedet hätte; wenn der späte Bebauungsplan zumindest rechtssicher gewesen wäre; wenn sie rechtzeitig Ufergrundstücke ge- und ein eigenes nicht verkauft hätte, ja dann flanierten noch heute die Potsdamer und ihre Gäste am Ufer entlang. Sicher sind Fehler gemacht worden, früher und heute, die Gerichte lassen daran keinen Zweifel. Die unsäglich arrogante, oberlehrerhafte und selbstgerechte Art, in der ein Anwalt gestern der Stadt die Leviten zu lesen glaubte, zeugt hingegen nicht nur von schlechtem Charakter und von billigem Nachtreten, sie ist eine pauschale Beleidigung für die ganze Stadt und alle, die ein Interesse am Uferweg haben. Und kein einziger der Kläger konnte behaupten, er habe nicht gewusst, dass dort ein Weg über sein Grundstück führt – sei er nun gewidmet oder nicht. Dem Richter immerhin ist zu danken, denn er hat der Stadt Mut gemacht: Wegen der großen geschichtlichen Bedeutung ist ein Uferweg noch nicht vom Tisch – wenn er denn endlich mal richtig angepackt würde.

Erschienen am 29.05.2009

„Keine netten Menschen“

Freitag, 22. Mai 2009

Ausflug: Eine Art Katastrophentourismus: Grüne schippern am Griebnitzseeufer

POTSDAM | Jonathan ruft unverdrossen „Hallo!“, zu jedem Boot, das vorbeizieht – ganz gleich, ob jemand zurückruft. Diese bedingungslose Freundlichkeit haben nur Zweijährige. Sie wirkte anrührend und seltsam deplatziert auf jenem Floß, mit dem der Kreisverband der Grünen am Mittwochnachmittag jeden, der wollte, über den Griebnitzsee schipperte – um den Schaden am nur noch teilweise erkennbaren Uferweg sichtbar zu machen, damit die Potsdamer sich nicht an die Sperrung gewöhnen und „um Flagge zu zeigen“, wie Kreisvorsitzende Eva Benirschke erklärt. Dieses Flaggezeigen wird ein wenig dadurch erschwert, dass eine Grünen-Flagge, ökologisch korrekt mit Seil am Floß befestigt, gleich beim ersten Anlegeversuch in den Fluten des Sees versinkt. Irgendwer aus dem Floßinneren merkt an, dass das nicht geschehen wäre, wenn man statt eines Plastikstiels einen ökologisch wünschenswerten Holzstiel benutzt hätte: Dann wäre die Flagge geschwommen.

Es ist der zweite symbolische Kollateralschaden des politisch motivierten Ausflugs. Der erste tritt ein, als Seeanrainer und Stadtverordneter Wolfhard Kirsch (Bürgerbündnis) von seinem gesperrten Grundstück aus etwas zum Floß ruft. Man versteht sich nicht – akustisch wie inhaltlich – und so setzt sich Kirsch ans Steuer eines Motorbootes, umkreist das Floß und erklärt von Deck zu Deck, dass er einst kompromissbereit war und das auch dokumentieren könne. Es fallen einige weniger freundliche Sätze, dann gibt Kirsch Gas. Eine Verfolgung ist weder gewünscht noch angesichts von sechs PS aussichtsreich. Doch auf dem Floß bleibt der Nachgeschmack ob dieser Symbolik und trübt die Stimmung.

Sie wird nicht besser, als die Mitreisenden das ganze Ausmaß der Baumaßnahmen sehen: Die möglicherweise illegal auf den schmalen Pfaden angerollten 30-Tonner haben ganze Arbeit geleistet. Manche Grundstücke sehen aus, als habe es nie einen Weg gegeben, andere erinnern an Kraterlandschaften. Eine Frau fragt genau dahin, wo es den Grünen weh tut: Warum sie nicht Enteignungen fordern, wie es die Linke tut. Eva Benirschke schweigt eine Weile, dann sagt sie: „Wir können uns doch nicht den Linken anschließen.“ Außerdem widerstrebe es ihr, den Anrainern, „ auch noch Steuergelder in den Rachen zu werfen.“ Jonathan grüßt derweil mit seinem unverdrossenen „Hallo!“ jemanden auf einem Ufergrundstück. „Lass das!“, sagt seine Mutter und drückt das Ärmchen herunter, „das sind keine netten Menschen“. So geht es zwischen Dampferanlegestelle und Park Babelsberg hin und her – eine Form von ohnmächtigem Katastrophentourismus auf einem Holzfloß. Grüne und Sympathisanten bleiben dabei weitgehend unter sich, an Bord sind Sätze wie „Jetzt genieß doch mal die Fahrt, Malte, und ärger’ Dich nicht“ zu hören. Irgendwann schwappt eine Welle über den Bug und macht alle, die ganz vorn sitzen, patschnass. „Grüne gehen baden“, titelt ein Mitreisender. Ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Doch irgendwo auf dem schlammigen Grund des Griebnitzsees liegt eine Parteiflagge.

Erschienen am 22.05.2009

Hinreizend

Freitag, 22. Mai 2009

Jan Bosschaart glossiert den fast schon poetisch geführten Kampf ums Haus des Reisens

Dass das Haus des Reisens in ein Haus des Abreißens gewandelt wird, ist nun gewiss. Dass es um den Abriss einen Aufriss gibt, war zu erwarten. Dass die mehrgeschossige Argumentation so durch die Decke geht, nimmt dann aber doch Wunder. Zu fast schon poetischen Ausführungen hat sich die „Andere“ in einer Erklärung hinreißen lassen: Um dem zu folgen und das Haus des Reisens als „Erholung fürs Auge“ und als „interessanten Ruhepunkt im Umfeld eintöniger Barockfassaden“ zu begreifen, müsste einem aber schon ein Abrissstein auf den Kopf fallen. Nimmt man diese Denkweise jedoch ernst, bietet sich optische Befriedung an vielerlei Stellen an. Das von postmoderner Grafitti-Hochkultur und Rost geprägte FHP-Gebäude wäre nach behutsamer Umbettung geeignet, das Auge von all dem eintönigen Barock in Sanssouci zu entlasten – und von den grauenhaften Sichtachsen. Das Belvedere verlöre viel von seiner anstrengenden Filigranität, nutzte man es als Randbebauung des umgelagerten, in seiner Klarheit innerlich reinigenden Mercure-Hotels weiter. Und Touristengruppen sollten nicht durchs kreuzlangweilige Holländische Viertel, sondern in den Schlaatz: Nur hier lässt sich der „Geist des Optimismus und der Zukunftsgewandtheit“, der die „Andere“ am Haus des Reisens reizt, ohne barocken Zierrat erleben.

Erschienen am 22.05.2009

Mustergültig in Musterhausen

Dienstag, 12. Mai 2009

Online: Linken-Fraktionschef Scharfenberg wird Opfer der Tücken des Internet-Wahlkampfes

Die Seite heißt „Scharfenberg für Potsdam“, doch für ein paar Tage drehte sich dort alles um Muster- hausen – offenbar eine Stadt mit ähnlichen Problemen.

Der Wahlkampf hat seine eigenen Gesetze. Journalisten können auf zunehmende Dünnhäutigkeit bei Politikern gegenüber Kritik und Pressefotografen auf großen Andrang vor der Linse bei Scheckübergaben und Kita-Grundsteinen bauen. Etwas später als die Allgemeinheit haben auch Landtagskandidaten den Charme des Internets entdeckt und stellen auf eigenen Webseiten, mit Facebook-Einträgen, Online-Videos, Blogs und SMS-Beschuss die Bits und Bytes in den Dienst des Wahlkampfs.
Mancher schießt dabei übers Ziel hinaus und biedert sich in einem Maße an, dass sich die junge Zielgruppe angewidert wegdreht; andere belassen es bei lustlosen Anmeldungen auf vermeintlich coolen Seiten, stellen ein Passfoto drauf und drei Passagen aus dem Wahlprogramm und behaupten auf Presseterminen, sie seien jetzt „online voll dabei“ – wohl hoffend, dass die Damen und Herren von den Medien von den Begriffen FaceBook, YouTube und Twitter so verwirrt sind, dass sie nicht nachschauen.
Doch der Online-Wahlkampf hat seine Tücken. Das musste Linken-Stadtfraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg erfahren, der sich erneut um einen Landtags-Sitz bewirbt. Er ließ hastig eigene Seiten freischalten, als der Potsdamer SPD-Landtagskandidat Mike Schubert (SPD) jüngst mit seiner „M-Community“ online ging. Doch Scharfenbergs Seiten gehörten offenbar zu einem Mustersatz, den die Linke allen ihren Kandidaten zur Verfügung stellt. Daran ist nichts auszusetzen, schließlich sorgt es dafür, dass alle Seiten der Partei ähnlich aussehen und sich das Wahlvolk schnell zurechtfindet. Dumm nur, dass Scharfenbergs Mitarbeiter vergessen hatten, außer dem Namen ihres Kandidaten weitere Parameter zu ändern. Ein Wochenende lang ließ sich daher lesen, dass Scharfenberg vom „Linke-Verband Musterhausen“ für „ein weltoffenes Musterhausen“ eintritt. Schließlich nehme „Musterhausen als Stadt der Wissenschaft“ die Bürgerrechte ernst und trete daher für Zuwanderung ein. Auch, dass in Musterhausen 3000 Menschen arbeitslos sind und 5000 Menschen als arm gelten, lernte der interessierte Surfer – und erfuhr so nebenbei einiges über politisches Phrasendreschen, denn offenbar sind das Sätze, die fast überall gelten.
Wer den Kandidaten darauf ansprechen möchte, hat spätestens am 1.Dezember – ein paar Wochen nach der Wahl – dazu Gelegenheit: Dann weilt Scharfenberg nämlich laut Internet ab 23 Uhr im Hotel Mustermann zum 2.Musterhausener Parteitag.
Nach drei Tagen waren die Standard-Seiten verschwunden. Die Adresse verweist nun auf die – ganz klassische – Seite der Linksfraktion im Landtag. Und im Hintergrund wird in aller Ruhe an einer mustergültigen Version gefeilt, die dann sicher auch direkten Potsdam-Bezug hat.

Erschienen am 12.05.2009

22 Meter und 47 Schritte

Samstag, 2. Mai 2009

Besuch: Während Camilla durch Sanssouci geführt wurde, warteten die Fans geduldig auf einen kurzen Blick

POTSDAM | Sie kommt nur bis „Countess“, dann scheitert sie an der Staatsmacht. Die Polizisten nehmen ihre Absperr-Aufgaben sehr ernst und keinerlei Rücksichten auf überzeugte Royalisten. Deshalb muss Karina Ristel (31) ihren Satz, der mit „Aber ich möchte doch nur Camilla sehen, sie ist schließlich…“ beginnt und dann zum 33 Worte umfassenden offiziellen Titel von Camilla Mountbatten-Windsor übergeht, hinter der imaginären Absperrung vollenden, die die Polizisten am Eingang zum Schlosspark gegenüber der historischen Mühle ausweisen.

Den Unterschied zwischen Aristokratie und gemeinem Volk markiert diesmal – über die klassischen Ständegrenzen hinweg – ein zehn mal sieben Zentimeter messendes Stück Plastik, das einigen um den Hals baumelt. Wer es hat, ist geadelt und darf sich dem Tross um Stiftungsdirektor Hartmut Dorgerloh, Innenminister Jörg Schönbohm und Bürgermeister Jann Jakobs anschließen. Wer nicht, muss sich zum Pöbel zählen und wird von Polizei und Botschaftsangehörigen auch so behandelt. Dass die Britische Botschaft selbst bei Presseakkreditierungen offenbar gewürfelt hatte, statt nach medialer Bedeutung zu entscheiden, sorgt für zusätzliche gute Laune vor dem Tor.

Für jene, die warten müssen, dauert Camillas Besuch exakt 22 Meter oder 47 Schritte. So lange braucht die in ein elegantes weißes Kleid und blauen Mantel gehüllte Herzogin von Cornwall, um von der schwarzen Limousine bis zum Tor zu gelangen. Fröhlicher Applaus von etwa 80 Schaulustigen hallt ihr nach. Karina Ristel indes ist den Tränen nahe. Sie hatte sich wesentlich mehr Nähe erhofft. Nicht nur, weil sie ohne zu stocken von „Her Royal Highness“ über neun Titel bis „Princess of Scotland“ kommt und Camillas Lebenslauf herunterbeten kann wie jenen von Prinz Charles, Lady Diana und anderen Royals, sondern auch, weil sie unbedingt sehen wollte, wie Camilla, die sie sonst nur „im Paket mit Charles“ zu Gesicht bekomme, sich allein schlägt im Damenprogramm. Daraus wird nun nichts. „Sie müssen das verstehen“, sagt ihr Freund entschuldigend und ungefragt zu dem Häuflein Wartender, das stehen geblieben ist, als die Menge sich auflöst und auf die Rückkehr der Herzogin zur Limousine wartet, „sie trägt selbst Unterwäsche mit dem Wappen der Windsors“. Er lächelt verkniffen, trippelt ein wenig auf der Stelle und sieht so aus, als könne er sich nicht entscheiden, ob Scham oder Stolz stärker sind. Die anderen schauen kurz konsterniert und setzen sich dann an der Rampe in die Sonne. 15 Minuten sieht der Zeitplan der Herzogin für Schloss und Gemäldegalerie vor, die Wartezeit gilt als überschaubar. Gegenüber nimmt ein als Friedrich II. gewandeter Flötenspieler seine Musik wieder auf. Auch er wurde kurzzeitig verscheucht. Die Polizisten sind im Park oder ziehen sich zu den Autos zurück. Alles klebt am Magneten Camilla, der Eingang verwaist. Zehn Minuten vergehen, es kommt ein wenig Langeweile auf. Langeweile, die ins Philosophische mündet. „Warum eigentlich der Rummel? Die Frau hat weder was geleistet noch stellt sie was dar noch ist sie schön. Sie hat nur zufällig einen möglichen Thronfolger kennengelernt“, sagt ein älterer Herr. Die Frage bleibt ohne Antwort. „Polizisten in grünen Hosen mit weißen Sakkos sehen echt scheiße aus“, bemerkt eine jüngere Stimme nach weiteren Minuten. Wieder Stille. „Sie ist das mit dem Tampon ja auch nie losgeworden“, versucht es einDritter. Aussichtslos. Die Gruppe brät in der Sonne und kommt zu keinem Gespräch. Mittlerweile sind fast 40 Minuten vergangen. „Mich nervt dieser Flötenschlumpf da oben echt schwer“, sagt ein Jugendlicher. Alle nicken. Die Laune ist auf dem Tiefpunkt. „Man müsste so eine Plastikkarte um den Hals haben“, bringt es eine Dame auf den Punkt. Dann plötzlich: Bewegung. Erst ein Pulk rückwärts laufender Touristen, dann die Pressemeute, dann die Polizei, die wieder alles an die Seiten drängt. Camilla lächelt immer noch, blinzelt in die Sonne, schüttelt ein paar Hände. 22 Meter, 47 Schritte. Die Herzogin besteigt die Limousine. Konvoi ab. Applaus hallt ihr nach. Karina Ristel hat erneut eine Träne im Auge – und Friedrich II. greift wieder zur Flöte.

Erschienen am 02.05.2009

Publikumsjoker

Samstag, 25. April 2009

Jan Bosschaart über einen dringend nötigen Wechsel der Strategie am Griebnitzsee

Da hieß es immer, die Enteignungsdrohung sei die ultimative Waffe der Stadt in Sachen Griebnitzseeuferweg. Papperlapapp! Die ultimative Drohung ist ein neuer Uferweg auf – möglichst hohen! – Stelzen vor den nun gesperrten Grundstücken, wie ihn jetzt die SPD ganz perfide ins Gespräch gebracht hat. Herrlich, wie es sich da hoch über den Wassern aufs gemeine Millionärsvolk herunterschauen, ihm in die mahagonimöblierten Schlafzimmer linsen und in den Kopi Luwak spucken ließe. Man kennt das Prinzip aus Zoos, wo Hängebrücken über die Krokodilwelt führen, oder aus dem Dschungelcamp, wo die lästerlichsten Kommentare aus der Höhe des Sozialneids auf die nichts ahnenden Protagonisten platschen. Sollte sich das als Erfolg erweisen – und dazu ist die Idee geradezu verdammt – ließe sich das am Heiligen See nahtlos fortsetzen. Wir haben schon, voller Vorfreude, den Ruf aus luftiger Höhe über dem Jauchschen Grundstück im Ohr: „Huhu Günther, kuck mal hoch, hier ist dein Publikumsjoker!“

Erschienen am 25.04.2009

Angebiedert

Freitag, 24. April 2009

Jan Bosschaart über falsche Lehren aus dem amerikanischen Wahlkampf

Dass Politiker gern Barack Obamas furiosen Wahlkampf kopieren, dessen Strategien aber nicht auf Deutschland übertragbar sind, ohne dass man sich lächerlich macht, lernte schon SPD-Generalsekretär Hubertus Heil. Als er einen vollen Saal mit Parteimitgliedern zu „Yes we can!“-Rufen aufforderte, kam keine Antwort. Potsdams SPD-Vorsitzender Mike Schubert versucht es nun im Internet und hat auf seiner Website die „M-Community“ gegründet. M wie Mike. Dort rührt er alle Internetseiten zusammen, die im Verdacht stehen, irgendwie – der Leser verzeihe die Begriffswahl – in, hip, cool oder hype zu sein, er twittert und facebookt, flickert und youtubet, was der HTML-Generator hergibt. Die ganze Seite schreit: „Ich will die junge Zielgruppe!“ Dabei wird die coole Community auch noch mit der Brechstange beworben: „Brandenburgs erster Onlinenetzwerker“ sei Schubert, und „ein gefragter Mann“, denn alle Welt wolle wissen, was die M-Community sei. „Was Facebook kann, kann ich nämlich schon lange“, sagt er – und übersieht, dass außer seinen Parteigängern niemand einen Grund findet, warum er nicht gleich auf die Originalseiten zugreift. Der Zielgruppe, der sich Schubert damit anbiedert, ringt er jedenfalls nur ein mildes Lächeln ab: No, he can’t.

Erschienen am 24.04.2009

Aurasehen für den Anfänger

Samstag, 18. April 2009

Messe: Drei Tage „kommerzialisierter Obskurantismus“ im Waschhaus

Noch bis Sonntag informieren die Esoteriktage über Geistheilung, Hellsicht und Aurafotografie.

SCHIFFBAUERGASSE| Das Seminar zur Selbstheilung muss krankheitsbedingt leider ausfallen, verkündete eine Notiz. Davon abgesehen ging es am Eröffnungstag der Esoterik- und Naturheiltage im Waschhaus gestern aber munter zu. Auch wenn vom „großen Andrang“, den der Veranstalter ausgemacht haben wollte, nicht die Rede sein konnte, kamen doch rund 50 Besucher gleich zur Eröffnung in die Schiffbauergasse. Der Veranstalter rechnet mit 3000 bis Sonntagabend.
Gleich in der Eingangshalle dominiert der Stand mit den Heilsteinen. Der Besucher lernt, dass es Steine gegen Bandscheiben und Haarausfall, Lernschwäche und Schluckauf, Tumore und Sodbrennen, Leberschäden und Schlaganfall gibt; solche, die „Sensiblen ein dickes Fell schenken“ und andere, die „aus Drama Komik“ machen, was auch das Motto des Standes sein könnte. Doch die Verkäuferin nimmt ihre Steine sehr ernst, sie rät den Käuferinnen, sie jeden Abend unter klarem Wasser von negativen Energien zu reinigen und pendelt für jede Interessentin den richtigen Stein aus. Wer will, kann selbst ein Pendel erwerben und über dem Diagramm die Sinnfragen des Lebens anhand der fundamentalen Alternativen „ja“, „nein“ und „vielleicht“ entscheiden lassen. Man kennt das noch vom „Willst-du-mit-mir-gehen?“-Zettel aus der Grundschule. Ein vierter Punkt ermöglicht dem Pendel, die Antwort zu verweigern. Wer auf soviel Hilfe nicht mit ausreichend Barschaft vorbereitet ist, darf glücklicherweise mit Kreditkarte zahlen. Ein Stein gegen akuten Geldmangel oder fehlendes Vertrauen in Esoterik ist aber nicht im Angebot.
So geht es weiter. Eine Schamanin drückt den Besuchern Amulette in die Hand und trommelt dann mit geschlossenen Augen so lange, bis sich deren Probleme offenbaren. Wer mag, darf das Amulett für 45 Euro mitnehmen. Der Bücherstand bietet alles über Engel, Schamanen, Rituale, Magie in den Farbschlägen weiß, schwarz und rot, über Kabala, Karma und Hellsicht für den Hausgebrauch. Ein paar Meter weiter probiert ein Herr, dem die Beine wehtun, die feinstofflich aktive Bettwäsche. Dafür setzt er sich 30 Minuten in die Ecke, das Kopfkissen vor die Brust gepresst, und hofft auf Besserung. Nach 30 Minuten Sitzen tun die Beine wirklich weniger weh, und zum Glück nimmt der Anbieter auch EC-Karten, also ist die Bettwäsche gekauft. Am anderen Ende lassen die Besucher Fotos von ihrer Aura machen. Mit Deutungshilfe kostet das 20 Euro, mit mündlicher Erklärung vom Aurafotografen 25 Euro.
Eine Psychotherapeutin, die nachher schon den Tsunami von 2004 vorausgesehen hatte und alles wichtige im Voraus durch den Wind spürt, bietet die Wohnungsbefreiung von Geistern für 190 Euro an. Büros sind offenbar schwerer zu entgeistern, sie kosten nämlich 350 Euro. Andere Anbieter heilen das innere Kind oder helfen bei der spirituellen Partnersuche. Mancher bietet auch einfach nur „das beste Wasser der Welt“ zu Literpreisen, die selbst Tankwarte neidisch machten oder Massagebürsten, Kräutertees und Holundergelee. Die Kunden sind mehrheitlich fasziniert und überzeugt.
Lediglich eine Dame, die ihren Namen nicht verrät, zieht von Stand zu Stand, um den Anbietern ins Gewissen zu reden: Dass das doch Unsinn sei, Geschäftemacherei und gotteslästerlich obendrein. Das ist angesichts der versammelten Esoterikbranche, die sie den „kommerzialisierten Obskurantismus“ nennt, ein eher sportliches Unterfangen. Vielleicht hätten ihr die Seminare „Familienstellen mit Engeln“ oder „Aurasehen für Anfänger“ besser getan.

Erschienen am 18.04.2009

„Hier bin ick richtich“

Samstag, 21. März 2009

Gesundheit: Seniorenmesse öffnete gestern ihre Pforten / Breites Angebot von Augenklinik bis Zahnersatz

165 Unternehmen und Einrichtungen buhlen auf der Seniorenmesse um die „Generation 50plus“. Ein Rundgang mit einem Vertreter der Zielgruppe.

POTSDAM| Nein, bitte, nicht auch noch die Frau vom Beerdigungsinstitut anmotzen! Bitte! Nicht! Zu spät. Horst Kutzmann ist einfach zu gut in Fahrt. „Sacht mal, spinnt ihr, oder watt? Ditt is ’ne Messe, um fit zu werden, nich um begraben zu werden.“ Der 67-Jährige mit den buschigen silbernen Augenbrauen ist wirklich gut in Form: Er ist erst beim zehnten Stand der „Gesundheits- und Seniorenmesse“ in der Metropolishalle angelangt – „Friedwald – Begraben unter Bäumen“ steht auf dem wandfüllenden Foto hinter der angeraunzten Frau – und hat schon elf Aussteller angeschnauzt. „Beim Thema Tod bin ick empfindlich“, sagt er so abfällig, dass man die enthaltene Entschuldigung kaum heraushört. Dem Tod, sagt Kutzmann, sei er nämlich kürzlich „vonner Schippe jehopst“ – Herzinfarkt, Ambulanz, Intensivstation, Reha-Klinik, „dit volle Projramm“. Seither ernährt er sich gesünder, raucht nicht mehr und schränkt seinen Bierkonsum ein. „Tut dem Körpa jut“, betont er. Der Stimmung offenbar nicht.
Aber Horst Kutzmann ist ja auch nicht zur Messe gekommen, um „den Gute-Laune-Drops zu machen“, wie er betont, sondern weil er sich informieren will, wie er wieder auf die Beine kommt. Schließlich heißt die Messe „Vital 50plus“, da müsse es doch etwas für ihn geben, ist Kutzmann überzeugt. Eine Hoffnung, die sich zumindest an den ersten Ständen nicht einlöst. Mit eloquenten Schuhputzern, schwitzenden Glasbläsern und Damen, die polnischen Zahnersatz anpreisen, hatte der Rentner nicht gerechnet. Und er lässt es sie auch gern wissen. Lediglich der Anbieter von Brillenputztüchern findet ein wenig Gnade vor seinen Augen: „In den Lappen is wenigstens Alkohol drin“, sagt er. Kurze Pause. Lächelt er jetzt? Er lächelt! Das ärztliche Bierverbot scheint ihn dennoch schwer zu quälen.
Es geht weiter: Der Schmuckstand, die Haarentfernung, der Pfannenhändler und die Pediküre finden keine Gnade vor seinen Augen, doch weil Horst Kutzmann langsam die Puste ausgeht – „bin halt noch nich aufm Damm“ –, hat er zumindest das Motzen eingestellt.
Kritisch beäugt er die Karawane der Politprominenz, Fraktionsvorsitzende, Stadtverordnete, Messe-Verantwortliche, die von Stand zu Stand zieht und für jeden ein freundliches Wort hat. „Blöder Häppchentourismus“ ist alles, was dem zu Atem kommenden Kutzmann dazu einfällt.
Doch es wird besser: Die Angebote des SC Potsdam gefallen dem Rentner durchaus. Der Verein hat gleich Trampolin, Trimmrad und Hanteln aufgebaut und kann im Gespräch nicht nur das „Bewegungs- und Aufbautraining“, sondern auch den „Reha- und Gesundheitssport“ empfehlen. „So hatt ick mir ditt das vorjestellt“, sagt Kutzmann, schon versöhnlicher, und wippt in Schuhen auf dem Trampolin herum, als keiner hinschaut.
Die Infrarot-Kabinen, die ausgestellt werden, gefallen dem ehemaligen Schlosser auch, versprechen sie doch Fitness ohne Bewegung, doch beim Preis von mehr als 6000Euro winkt er dankend ab. Immerhin kein Anranzer an den freundlichen Verkäufer. Die Messe beginnt offenbar zu wirken.
Sie büßt noch einmal etwas ein, als er das Vortragsprogramm studiert: „Moderne Handchirurgie“, Sturzprävention, Demenz, Arthrose, Zahnimplantate, Krampfadern, Schnarchen und der Gesundheitsfonds sind nicht Kutzmanns bevorzugte Themen. Bei „gesunde Ernährung“ und „Patientenverfügung“ gar schwillt die Ader an seinem Hals bedrohlich an, doch dann entdeckt der Rentner die Punkte „Herz-Rhythmus-Störung“, „Herzschwäche“ und „Schlaganfall“, und er lässt sich zufrieden auf einen der noch zahlreichen leeren Stühle fallen. „Hier bin ick richtich. Ick habs ja jewusst“, ist alles, was er noch sagt.

Erschienen am 21.03.2009

Geschmacksprobe für ein Förderinstrument

Dienstag, 17. März 2009

Europa: EU-Kommissar kostete die süßen Auswirkungen seines Sozialfonds

Vladimír Špidla entscheidet für gewöhnlich an seinem Brüsseler Schreibtisch. Die Auswirkungen können durchaus lecker sein, lernte er gestern.

POTSDAM | „Ach“, sagte der Herr Kommissar, „da wird die ganze abstrakte Arbeit doch mal sinnlich“. Sprach’s und ließ sich eine Praline mit Cassis-Likör auf der Zunge zergehen. „Bei uns in Böhmen“, fügte Vladimír Špidla genießerisch hinzu, „sind ja alle Pralinen mit Alkohol.“ Das trifft auf die kleinen Meisterwerke von Tanja Hofmann und Franziska Tölcke in der Kurfürstenstraße zwar nicht immer zu, aber der EU-Kommisar für Beschäftigung, Chancengleichheit und soziale Angelegenheiten fühlte sich in der kleinen Manufaktur nebst Café dennoch sichtlich wohl. Ganz unaufgeregt, mit nur kleiner Entourage, wehte der hohe Herr aus Brüssel hinein, fast auf Zehenspitzen, um sich vor Ort ein Bild von den Segnungen des Europäischen Sozialfonds zu machen. Mit Hilfe dieser Förderung nämlich gründeten Hofmann und Tölcke vor etwas mehr als einem Jahr ihr „Lekker Snoepjes“ im Holländischen Viertel – das heißt soviel wie „leckeres Naschwerk“. Dass Vladimír Špidla die Segnungen seiner Programme mal erschmecken darf, ist selbst für den Kommissar nicht selbstverständlich, und auch die Handarbeit gehört nicht unbedingt zum täglichen Brot des promovierten Historikers und ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten. Doch beim Versuch, selbst eine Praline in weiße Schokolade zu tauchen, schlug er sich ganz wacker, auch wenn Špidla geradezu rührend um die Hygienevorschriften besorgt war und sich erst umständlich in Gummihandschuhe zwängte, obgleich ihm alle zuriefen, er möge doch nur beherzt zugreifen.
Der Kommissar weilte für eine Asien-Europa-Konferenz in Potsdam und nutzte die Gelegenheit, sich von den Segnungen der EU-Programme vor Ort zu überzeugen. Über die Gründungswerkstatt „Enterprise“ waren Tanja Hofmann und Franziska Tölcke bei ihrem Gang in die Selbstständigkeit beraten worden. Die Werkstatt erhielt dazu Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land Brandenburg. „Ich kann diese kostenlose Beratung nur empfehlen“, schwärmte Tanja Hofmann, die sich „vom ersten Tag an gut betreut“ fühlte.
Špidla fühlte sich seinerseits im „Snoepjes“ so gut betreut, dass er gegen den Terminplan noch einen Espresso trank und Pralinen mit nach Brüssel nahm. Geschenkt wollte er sie nicht, er zahlte brav selbst. Und natürlich nahm er welche mit Alkohol. Wie zuhause üblich.

Infobox: Gründungsförderung in Brandenburg
Mehr als 6,7 Millionen Euro stellt das Brandenburger Arbeitsministerium aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und Landesmitteln im Jahr 2009 bereit. Die EU gibt jeweils 75 Prozent der Fördersumme, das Land die restlichen 25 Prozent.
Die Gründungswerkstätten für junge Menschen bis 28Jahre, aus denen auch „Lekker Snoepjes“ hervorgingen, brachten seit 2003 rund 660 Brandenburger in die Selbstständigkeit.
In Potsdam betreute die Werkstatt „Enterprise“ zwischen März 2007 und Februar 2009 17 Gründerinnen und 14 Gründer, so Pressesprecherin Cornelia Grasme.
Seit 2003 sind in Brandenburg 230 Unternehmen durch diese Maßnahmen an den Start gegangen, davon 40Prozent von Frauen geführte Start-Ups.
Die Werkstätten helfen vor allem durch Betreuung, Beratung und Begleitung auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Sie gewähren keine finanzielle Unterstützung, helfen aber beim Beantragen von Fördermitteln und Krediten.
Viele Gründer profitieren auch nach der Förderung noch von den Jungunternehmer-Netzwerken, die sie in dieser Zeit bilden.

Erschienen am 17.03.2009


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