Versehrt an Körper und Seele

Bildung: DDR-Dopingopfer berichtet am OSZ „Johanna Just“ aus seinem Leben

Dass mancher die DDR nicht unbeschadet am Charakter überstand, hatten die Schüler schon gehört. Bernd Richter erweiterte ihr Wissen ins Körperliche.

POTSDAM | Anschaulicher kann Geschichtsunterricht kaum sein. „So wie ich hier sitze, bin ich ein Produkt der DDR“, sagt Bernd Richter gleich zu Beginn.
Er meint damit nicht nur, wie das Land, in dem er aufwuchs, seinen Charakter prägte, sondern auch und in erster Linie seinen Körper. Einen Körper, der fast alle Knorpelmasse abgebaut hat, der unter einer schweren Gerinnungsstörung des Blutes leidet, mit Embolien und Thrombosen kämpft und zeitweise nur durch Morphium vom Druck der Schmerzen entlastet werden kann. Er hat sich wirklich nichts dabei gedacht, sagt Richter, und die Schüler des Oberstufenzentrums (OSZ) „Johanna Just“ in der Berliner Straße glauben es ihm, als er, der begabte Sportler, der familiären Problemen auf dem Sportplatz davonlaufen oder sie mit dem Diskus und dem Hammer von sich werfen konnte, in der Sportschule „Vitamintabletten“, „Eiweißpillen“ und „Spezialessen“ angedient bekam.
Es war Anfang der 70er Jahre, Richter war erst in der 9. Klasse und gerade in die Jugend-Nationalmannschaft gekommen – der Begriff Doping war noch nicht etabliert. Dass dem 15-Jährigen Brüste wuchsen, wurde mit dem „vermehrten Schwitzen“ beim Sport erklärt, wie auch andere hormonelle Probleme, die er lieber nicht vor den 18- und 19-jährigen Zuhörern, überwiegend Frauen, erzählt. „Was wir da bekommen haben, war noch nicht mal für Tierversuche zugelassen“, weiß Richter heute.
Es war ziemlich still in der Aula, als Richter seine Erzählung begann. Eingeladen hatte Bildungsminister Holger Ruprecht (SPD), der gestern auf „Kreistour“ war und nach einem empörten Brief einer Gymnasiastin, die DDR-Geschichte käme in Brandenburgs Schulen zu kurz, beschloss, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen: Bereits zum 21. Mal trat der Minister in Sachen DDR-Geschichte nebst einem weiteren Zeitzeugen auf. Doch die recht glatt und glücklich verlaufene Vita des Ministers verblasst neben der brüchigen des Gastes: Die Dopingerfahrung war erst der Anfang.
Als er kurz darauf nicht nach Kuba zu einem Wettkampf reisen durfte, beschloss der 17-Jährige, über Ungarn und Jugoslawien in den Westen zu fliehen. Von einem Freund verraten, wurde er in Jugoslawien gefasst, was ihm tage- und nächtelange Verhöre in Budapest, in Berlin-Hohenschönhausen und der Potsdamer Lindenstraße einbrachte. Im dortigen Stasi-Untersuchungsgefängnis musste er ein halbes Jahr Einzelhaft erdulden, eine Qual, an der Richter auch hätte sterben können: Seinem Körper, der zehn Stunden Training am Tag gewohnt war, drohte bei so plötzlichem Trainingsabbruch Herzversagen.
Selbst nach der Entlassung aufgrund einer Amnestie wurde es immer nur vorübergehend besser: Ob in der Armee oder bei der GST (Gesellschaft für Sport und Technik), ob beim Versuch, sich selbstständig zu machen oder bei der Arbeit in der Potsdamer Bauverwaltung: Stets legten Stasi oder SED dem Unbequemen Steine in den Weg.
Die Schüler nahmen es mit Schrecken und fragten vergleichsweise viel nach. Einer bat gar um zusätzlichen Geschichtsunterricht zur DDR.

Erschienen am 08.09.2009

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