Rumpelnde Wahlwerbung
Politik: Grüne und Linke chauffierten den Wähler mit Straßenbahnen durch die Stadt
Gute Laune, quietschende Bremsen: Grünen-Bundeschefin Claudia Roth und Landtagskandidaten der Linken waren auf Tour.
POTSDAM | Es herrscht nicht wirklich Gedränge an diesem Dienstagabend, auch wenn am Hauptbahnhof jedes zweite Plakat für „Straßenbahnfahren mit Claudia“ wirbt. Das mag daran liegen, dass Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, mit satten zwei Stunden Verspätung in die historische Gotha-Bahn steigt. Selbst der Ruf „Bis Platz der Einheit, kostenlos!“, von eifrigen grünen Parteigängern in die kühle Nacht gerufen, verhallt nahezu ungehört. Nur eine Gruppe Schwaben, die eigentlich in eine andere Richtung wollte, steigt der Landsfrau zuliebe ein. Und Harri. Harri trägt Leggings mit Tigerdruck, Gummischuhe und eine Art Nachthemd unter einer Sportjacke, seine Habe fährt er in einem ausgedienten Kinderwagen vor sich her: Decke, Bierflaschen, Leergut. Er steige ein, weil er auf Verpflegung und ein warmes Plätzchen hoffe, sagt er. Letzteres kann ihm die Tatrabahn bieten, ersteres nur bedingt: Wasser und Weintrauben schenken die Grünen aus, eine Mischung, von der Harri sagt: „kriechick Dünnsch… von“. Mit dieser Haltung steht er schnell allein. Die Grünen sagen, es wäre wegen des Geruchs.
Indes hat Claudia Roth, die auch nach einem langen Tag, der um 7 Uhr mit vier Tassen Kaffee und einer Parteiklausur in Nürnberg begann, recht munter wirkt, das Mikrofon der Straßenbahn ergriffen und freut sich zunächst, dass Schwaben an Bord sind: „Wenn’s was umsonst gibt, da fahrt’s schon mit, gell?“ frotzelt sie. Die Stimmung bleibt auch gut, als Roth sagt, in Ostdeutschland hielten viele die Grünen für einen Luxus, den man nur in guten Zeiten wählen könne, weil sie sich um Mopsfledermäuse und Gräser kümmerten. Was natürlich so nicht stimme. Es sei höchste Zeit, sagt sie, dass die Mark grüner würde, den abtrünnigen Parteigänger Platzeck müsse man an seine frühen Ziele mahnen, und Kohle sei nun wirklich keine Zukunftsenergie. Sie beklagt die „Ausschließerei“ im Bundestagswahlkampf, schließt aber im selben Satz die „Jamaika-Koalition“ aus und erzählt, dass Trams schon als Kind für sie das Größte waren. Am Platz der Einheit befragt Roth den Zugführer zu technischen Details, Harri indes steigt aus; er ist an diesem Abend kein Grünen-Wähler geworden. „Die kommt also mittn Fliega und ’n Auto und will mia watt über Ökolojie erzähln“, sagt er im Fortgehen, den Kinderwagen vor sich her schiebend. Claudia Roth muss indes mit dem Bus weiter nach Rostock. 25000 Kilometer legt sie in neun Wochen Wahlkampf zurück. „Das geht mit dem Fahrrad nunmal nicht“, stöhnt sie.
Weniger gehetzt und bester Laune drehen zwölf Stunden später die Linken eine Runde durch die Stadt. Landtagskandidatin Anita Tack hat eingeladen, Hans-Jürgen Scharfenberg und Bundestagskandidat Rolf Kutzmutz sind mit an Bord der diesmal knallroten Tatra. Als verkehrspolitische Sprecherin hat Tack die Straßenbahn als Wahlkampfmobil erwählt, als Kämpferin für eine Wiederbelebung des Bahnhofs Pirschheide das Fahrziel festgelegt. Und die Lieblingsforderung der Linken, den kostenlosen Schülerverkehr, kann sie so auch noch zwanglos anbringen.
Von Harri keine Spur, doch es hätte ihm gefallen: Es gibt starken Kaffee und handfeste Brötchen. Als dann auch noch sechs Kinder mit zwei Erziehern auf dem Weg zur Kita „Firlefanz“ zusteigen, ist der Wahlkampftraum nahezu perfekt. Die Jüngstwähler sind an verkehrspolitischen Fragen zwar eher desinteressiert, nehmen Bonbons und Luftballons aber gern an. Auch die weitere Klientel ist dankbar: Eine ältere Dame kommt nun schneller zur Apotheke, ein älterer Herr rechtzeitig zum Arzt: „Janz tolle Idee“, lobt er. An jeder Haltestelle tobt ein Junglinker heraus, um Wahlplakate über die Fahrpläne zu kleben. Einmal wäre die Bahn fast ohne ihn weitergefahren, doch die resolute Anita Tack lässt stoppen: „Die Linke vergisst keinen“, sagt sie, als ihr Helfer wieder an Bord ist.
Erschienen am 24.09.2009