Showdown am Tag der Einheit

Stichwahl: Beim Kampf um den Posten des Oberbürgermeisters in Potsdam gibt es eine Wiederauflage des Duells von 2002

Amtsinhaber Jann Jakobs und Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg an einem ganz normalen Tag vor der Entscheidung.

POTSDAM| Wenn es wirklich stimmt, dass der frühe Vogel den Wurm fängt, dann sieht es gut aus für Hans-Jürgen Scharfenberg: Es ist erst kurz nach 5 Uhr morgens, als im Musikerviertel, einer Aufreihung von Einfamilienhäusern im Potsdamer Plattenviertel „Am Stern“, das Licht angeht. Kurz darauf fischt der schon sehr muntere Herausforderer drei Zeitungen aus dem Briefkasten – ein festes Morgenritual. In der Küche erhebt sich derweil ein Heidenlärm: Die Wellensittiche Bubi und Karli haben Starterlaubnis und erobern sofort die Lufthoheit über den Kaffeetassen. Mit der Lektüre von zwei Lokalzeitungen und dem unvermeidlichen „Neuen Deutschland“ versüßen sich Scharfenberg und seine Frau Ursula das Frühstück. Es ist, gerade jetzt im Wahlkampf zuweilen der eine oder andere harte Brocken Lesestoff darunter: Scharfenbergs IM-Tätigkeit in den 1980er Jahren verfolgt seine Kandidatur wie ein böser Schatten. „Eigentlich ist das nur ein mediales Problem“, sagt Scharfenberg zwischen zwei Bissen. „Im Gespräch mit den Bürgern spielt es fast keine Rolle.“ Kurze Zeit später fährt er in den Landtag.
Das Holztor in der russischen Kolonie Alexandrowka öffnet sich gegen 8.30 Uhr mit leisem Quietschen. „Das müsste mal gemacht werden“, sagt Amtsinhaber Jann Jakobs lächelnd. Es ist ein Satz, von dem Jakobs Herausforderer behauptet, er tauge auch als Motto für dessen erste Amtszeit. Auch Jakobs hat zu diesem Zeitpunkt bereits die Tageszeitungen und zwei Tassen Kaffee intus und macht sich zu Fuß auf den Weg zum Rathaus, vorbei an Touristengruppen, die in der milden Herbstsonne die Alexandrowka erkunden und nicht ahnen, dass der zügig schreitende Herr im Anzug der Oberbürgermeister ist. Seinem Herausforderer entkommt er selbst bei diesem Gang am frühen Tag nicht – exakt 17 Mal lächelt Hans-Jürgen Scharfenberg von Laternenpfählen und fordert bezahlbare Wohnungen und sanierte Schulen. Er ist ihm in den letzten acht Jahren keinen Tag von den Fersen gewichen. 122 Stimmen trennten Jakobs und Scharfenberg bei der Stichwahl 2002, den Schreck hat der Amtsinhaber nie ganz vergessen – lag er doch nach dem ersten Wahlgang fast 15 Prozent vor seinem Verfolger. Dass das Duell dieses Mal auf den Tag der Einheit fällt, macht die Sache noch eine Spur brisanter: Dann streiten ein Ostfriese und ein ehemaliger IM um die Hoheit über Ostdeutschlands boomende Landeshauptstadt.
Das Büro ist klein und bis unter die Decke mit Akten vollgestopft. Kein Familienfoto, kein persönlicher Gegenstand, lediglich eine Autogrammkarte des Volleyballteams, dessen Vorsitzender Hans-Jürgen Scharfenberg ist, schmückt die Wand von Raum R606 im Landtag. Und nur ein Wahlplakat des Herausforderers an der Tür weist darauf hin, dass die Tage zwischen Wahl und Stichwahl eben nicht politische Routine sind. Es wirkt ein wenig, als hänge es zur trotzigen Selbstvergewisserung dort. Denn natürlich weiß im Landtag jeder, dass Hans-Jürgen Scharfenberg einen zweiten Anlauf auf den Rathausthron unternimmt. Sie zählen ihn hier ohnehin zum Mobiliar: Seit 1991 arbeitet er auf dem Brauhausberg, zunächst als Angestellter der Fraktion, dann als Abgeordneter. Mit Fleiß und Unermüdlichkeit hat er sich den Ruf eines Innenexperten erworben, sagen die Kollegen anerkennend. Es sind derselbe Fleiß und dieselbe Unermüdlichkeit, mit deren Hilfe sich Scharfenberg auch in der Stadtpolitik einen umfassenden Durchblick erarbeitet hat.
Scharfenbergs Vormittag gehört der parlamentarischen Routine: In der Fraktionssitzung geht es um Agrarstrukturen und Finanzen. Zwischendrin ein schnelles Mittagsmahl in der Landtagskantine, Scharfenberg kommt auf dem Hinweg vor grüßen kaum zum Reden, referiert und gestikuliert zwischen Kassler und Rosenkohl sowie einem Sturzkaffee über die Gestaltungsmöglichkeiten, die ihn am Oberbürgermeisterposten reizen, dann Grußmarathon zurück in die Sitzung, denn bei der Polizeireform ist der Innenexperte gefragt.
Den Amtsinhaber erwartet zunächst die „kleine Morgenlage“. Büroleiter, Chefsekretärin und Pressesprecher planen den Tag. Hinter verschlossenen Türen tagt kurz darauf die Beigeordnetenkonferenz. Danach Treffen mit dem Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung, um die nächste Sitzung durchzusprechen. Es herrscht Einigkeit, nur über die Nichtöffentlichkeit eines Tagesordnungspunktes ist der Präsident anderer Meinung und sagt das auch deutlich. Jakobs reagiert, wie er immer reagiert, wenn ihm Anwürfe drohen. Er lehnt sich zurück, trommelt nervös mit den Fingern auf der Tischplatte und schaut zuweilen in die Luft. Man einigt sich schließlich, verschiedener Meinung zu bleiben, dann geht der Herr Präsident, dafür kommt der Büroleiter mit einem Stapel Akten: Terminabstimmungen. Zirkusfreikarten? Werden gespendet. Bitten um Grußworte: werden gewährt. Einladungen ohne Grußworte: werden wohl abgewogen und verworfen. Flüche, wenn wichtige Termine zeitgleich liegen. Es ist Oberbürgermeisteralltag, doch Jakobs hat sichtlich Spaß am Dirigieren mit leiser Stimme. „Zu Hause muss ich das manchmal abstellen“, sagt er aufblickend, „da ermahnt mich meine Frau des Öfteren, dass ich nicht immer Chef bin.“ Über ablehnen, zusagen, Vertretung schicken verrinnt die Zeit. Drei Tassen Kaffee später ist es früher Nachmittag, ein Termin mit Schülern im Rathaus steht an. „Haben Sie schon was gegessen?“ fragt die Sekretärin. „Nee, keine Zeit. Aber oben gibt’s ja Kuchen.“
Hans-Jürgen Scharfenberg schwärmt indes in seinem Büro vom Gestaltenkönnen. Opposition mache Spaß, doch brauche er stets die dreifache Energie, um etwas durchzusetzen, was er als Oberbürgermeister mit einem Anruf erledigen könnte. Scharfenberg kann Fragern konzentriert zuhören, wirkt aber immer etwas ungehalten, sobald er zu wissen glaubt, worauf die Frage hinausläuft. Wenn er sich ärgert, zieht sich eine tiefe Falte quer über seine Stirn, als wollte sie den Kopf in zwei Scheiben spalten: Unten der Ärger, oben der Politprofi. Wenn Scharfenberg über die Potsdamer Politik redet, ist die Falte Dauergast auf seiner Stirn. Er bezichtigt den Amtsinhaber abwechselnd der Ignoranz und des Ideenklaus: 120 Millionen für die Sanierung der Schulen, ein „Freiland“ für die alternative Jugendkultur, kostenloses Schüleressen – „das alles waren unsere Ideen, für die wir jahrelang kämpften, und wenn sie dann endlich kommen, stellt sich der Jakobs hin und schlägt sich auf die Brust“. Scharfenberg presst die Sätze heraus, in der Stirnfalte könnten mittlerweile Schwalben brüten. Wenn es ganz schlimm wird mit dem Ärger, geht er zu Hause aufs Rudergerät. „Zehn bis 15 Minuten voller Einsatz, dann geht es wieder“, sagt er und lächelt. Die Stirn ist sofort geglättet. Wer Scharfenberg auf diesem Gerät sieht, könnte es mit der Angst zu tun bekommen: ums Material und die Knochen des Herausforderers.
Im Foyer des Rathauses wartet derweil die Schülergruppe aus der italienischen Partnerstadt Perugia auf Jann Jakobs. Seine Pressechefin instruiert ihn beim Hetzen über die Gänge, dass er die Lehrerin bereits kenne. „Wie hieß die gleich?“ Schulterzucken. Jakobs geht trotzdem auf die Dame zu, als habe man noch gestern Abend gemeinsam gefeiert, und als ihm jemand den Namen zuflüstert, fließt er in seinen nächsten Satz ein, als sei das das Natürlichste der Welt. Überhaupt läuft der Amtsinhaber bei solchen Artigkeiten zur Höchstform auf: Er rühmt die italienischen Einflüsse auf die Architektur Potsdams, und die Lacher gewinnt er, als er einräumt, dass das Potsdamer Nachtleben so aufregend sei, dass die Jugendlichen lieber nach Berlin führen. Dann geht er ansatzlos ins Standortmarketing über, preist Potsdam als Stadt der Medien und der Wissenschaft und muss auch schon wieder weiter. Den Kuchen hat er nicht angerührt, aber wenigstens auch keinen weiteren Kaffee getrunken. Sondern Wasser. „Das darf ich zu Hause sowieso keinem erzählen, diese Kaffeetrinkerei“, sagt der gebürtige Ostfriese.
Wären da nicht die Anrufe im Minutentakt, Hans-Jürgen Scharfenberg könnte jetzt für ein bis zwei Stunden Akten studieren. Stattdessen redet er darüber, worüber er am meisten reden muss und am liebsten nicht mehr redete: die Akte, jene Eisenkugel an seinem Bein, den Hemmschuh seiner Ambitionen. Als Innenminister wurde er nach der letzten Landtagswahl sehr ernsthaft gehandelt, doch: die Akte. Wie oft er wohl gedacht hat, die 122 Stimmen, die 2002 fehlten, wären ohne jene Akte leicht zu bekommen gewesen? „So denke ich nicht. Es ist, wie es ist.“ Glaubt er das wirklich selbst? Er belässt es bei einem undeutbaren Lächeln. Stattdessen fällt ihm ein, dass dem Amtsinhaber die Jacke des Oberbürgermeisters eigentlich zu groß sei. Er ist wieder auf sicherem Terrain.
Konfrontiert mit diesem Vorwurf, lächelt Jann Jakobs und überrascht mit einem Eingeständnis: Er habe in der Tat erst in die Oberbürgermeisterrolle hineinwachsen müssen, sagt er. Schließlich sei die Berufspolitikerrolle nichts, was er je angestrebt habe. In den oberen Zirkeln der Brandenburger SPD blieb er mit dieser Einstellung ein Außenseiter – als profunder Arbeiter geschätzt, aber nie offen für höhere Ämter gehandelt. Er habe zu Beginn seiner Amtszeit ständig das Gefühl gehabt, bei aufkommenden Problemen Feuerwehr spielen zu müssen, sagt Jakobs, „das hat sich gegeben“. Mancher wirft ihm das als Zögerlichkeit oder mangelnde Führung vor – der Amtsinhaber begreift es als Stärke. Früher habe er auch länger zugehört, das leiste er sich heute nicht mehr, sagt Jakobs.
Auf einem sandigen Radweg im Stadtzentrum haben sich eine Handvoll Protestierer gesammelt, um gegen die teure Asphaltierung des Weges zu protestieren. Sie haben große Plakate dabei, doch die Empörung will nicht so recht auf die Passanten überschwappen. Der Weg ist bei Regen ein Pfützenmeer und bei Trockenheit eine Staubwüste, Asphalt ist den meisten Radlern willkommen. Eigentlich ist er auch Hans-Jürgen Scharfenbergs Partei willkommen, denn die setzt sich seit Langem für besseren Verkehr in der Stadt ein und war im Bauausschuss für die Asphaltierung. Doch nun ist Wahlkampf, und Scharfenberg setzt sich mit einer Selbstverständlichkeit an die Spitze des Protestes, als habe er den Widerstand dagegen erfunden. Die SPD legt ihm das als Opportunismus aus – wo immer sich in der Stadt Widerstand regt, führt ihn Scharfenberg gern an, auch wenn er vorher anderer Meinung war. Scharfenberg ficht diese Kritik nicht an. Er wischt sie mit Argumenten weg: Der Asphalt ist teurer, die Art und Weise, wie die Stadt hier vorging, sei „Rambomanier“, das gehöre auf den Prüfstand.
Es ist Abend geworden. Während Jann Jakobs noch in gewohnter Eloquenz und ohne eine Minute Vorbereitung eine Ausstellung zur Rolle der Frau in Wohnungsgenossenschaften eröffnet und dabei die anwesenden Soziologinnen mit seiner Sachkenntnis verblüfft, gehört der Abend des Herausforderers erneut einer Fraktionssitzung der Linken – diesmal auf Stadtebene. Es gibt süßen Sekt auf das Resultat des Wahlkampfs und einen genauen Blick auf die Ergebnisse. Zu Hause arbeitet Scharfenberg an einem Programm für die ersten 100 Tage nach der Wahl und einem Brief an die Wähler. Um 22.30 Uhr erlischt das Licht im Musikerviertel. In der Alexandrowka brennt es noch bis kurz nach Mitternacht. Nachdem er noch etwas Post bearbeitet hatte, überrascht Jakobs seine Frau mit einer Rückkehr vor 21 Uhr. Sie fragt ihn verdutzt: „Was machst denn Du hier?“

Erschienen am 29.09.2010

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