Schaulust und Seitenhiebe

Fasziniert von Fußballfotos, angeraunzt von Ortsvorstehern: Die Stadt lud zur 65. Stadtwanderung

Es ging um „Wohnen und Arbeiten“ in Potsdam, aber auch um alten Ärger, neue Entdeckungen und das ganz normale Leben.

Es scheint ihn wirklich zu interessieren. Wer schon einmal Bürgermeister, Minister oder Abgeordnete auf Vor-Ort-Terminen erlebt hat, weiß, wie aufgesetzt das wirken kann – das gedehnte „Lecker!“ beim zwölften Gürkchen auf dem Messerundgang und das fünfte gepresste „Schön haben Sie’s hier“ im Wähler-Wohnzimmer beim Stadtteilrundgang lässt selbst Berufspolitiker mit allumfassendem Bürger-Umarmungs-Drang nicht mehr sonderlich überzeugend wirken. Jann Jakobs dagegen ist entweder sehr breit interessiert oder ein unglaublich begabter Schauspieler. Der Oberbürgermeister steht beim Tischler Gänserich in Fahrland und interessiert sich für Schleifbänke und Spanabsauganlagen, als hinge seine Leben davon ab. Er entdeckt den alten Ofen zum Veredeln von Spanplatten in der Ecke der Werkhalle, den selbst der Chef schon halb vergessen hatte.
Dass selbst das noch steigerbar ist, lernen selbst seine zur Mitreise verpflichteten Beigeordneten im Dachgeschoss von Ralf Grengel. Grengel gehört die „Powerplay Medienholding“, er hat vor zehn Jahren sein Zehn-Mann-Unternehmen und den Familienwohnsitz in eine Villa mit Seeblick verlegt und steuert von dort ein Unternehmen, das die Herzen von Sportfans höher schlagen lässt: Er schreibt Bücher mit, für und über Athleten wie Katarina Witt, Claudia Pechstein und Graciano Rocchigiani, erstellt das Stadionmagazin für Hertha BSC und hält das größte historische Sportfotoarchiv unter seiner Ägide. Jakobs betritt das Büro und ist sofort verzaubert, als er an den Wänden ein großes Foto von der einzigen Saison Franz Beckenbauers beim Hamburger Sportverein entdeckt und eines, auf dem Fritz Walter das Bundesverdienstkreuz von einem seltsam jugendlichen Helmut Kohl bekommt. Auf einem extra Ständer steht die 50 mal 75 Zentimeter große, in Holz und Leder gebundene Edelchronik des FC Bayern, 25 Kilo schwer, 3000 Euro teuer und für 1444 Euro Aufpreis mit einem Bild der „Jahrhundertelf des Vereins“ versehen: einer Fotomontage der besten Spieler der Vereinsgeschichte in einer Mannschaft. Jakobs erkennt sie alle, auf Anhieb, Ralf Grengel ist begeistert, die Kultur- und Sportdezernentin Iris Jana Magdowski applaudiert, der Rest des Trosses schweigt andächtig. Als Jakobs dann noch erfährt, dass der Macher und Sportgeschichtsfanatiker Grengel alle Jahrgänge der Fachzeitschrift „Kicker“ seit 1936 im Keller hat, ist es fast um seine Selbstbeherrschung geschehen. Mitarbeiter müssen Jakobs zaghaft aber bestimmt daran erinnern, dass weitere Termine warten.
Es geht um „Wohnen und Arbeiten in Potsdam“ bei der vierten Stadtwanderung in diesem Jahr. Insgesamt ist es bereits die 65., und Jakobs ist der einzige, der bei allen dabei war. Alles beginnt in Groß Glienicke, wo Ortsvorsteher Franz Blaser Jakobs und den Beigeordneten die Pläne für ein Nahversorgungszentrum und Wohnungen am Kreisverkehr vorstellt. Ein Rewe-Markt, eine Drogeriefiliale, ein Bekleidungsgeschäft und ein Tierfutteranbieter sollen dort den existierenden Discounter auf der anderen Straßenseite ergänzen und die Versorgung sichern, falls der kleine Laden im Seecenter 2014 die Pforten schließt. Außerdem entstehen – hauptsächlich nördlich der Potsdamer Chaussee – 70 bis 100 Wohnungen in Einzelhäusern und im Geschosswohnungsbau, die Stadt kümmert sich um die Erschließung. Der nötige Bebauungsplan ist noch im Werden, Erik Wolfram vom Bauamt zeigte sich aber optimistisch, dass schon im nächsten Jahr die ersten Spaten in die Erde gestochen werden. Für Franz Blaser ist das eine „dringend nötige städtebauliche Abrundung“ des Ortes, nur Ortsbeiratsmitglied Andreas Menzel (Grüne), erklärter Gegner des Projekts, murrt vernehmlich, wofür ihn Blaser anraunzt. Die Kulturdezernentin hatte Menzel bereits mit „Was will denn die Promenadenmischung hier?“ begrüßt und dabei offen gelassen, ob sie Menzel oder dessen mitgebrachten Hund meinte. „Das ist ein ungarischer Mudi“, gab der ungerührt zurück.
Angeraunzt wurde der Stadtwanderungs-Trupp auch von Fahrlands Ortsbürgermeister Claus Wartenberg, der nicht nur wegen der oberbürgermeisterlichen Fußballfaszination wartengelassen wurde, sondern auch sauer ist, dass der Bauherr Semmelhaack in seinem Ort zwar Hunderte Wohnungen gebaut hat und weitere 450 ab dem nächsten Jahr bauen will, „aber die versprochene Infrastruktur nicht herstellt“. Speziell beklagen die Fahrländer das Fehlen eines Arztes und einer Apotheke – erst recht, wenn der Ort demnächst um weitere 1000 Anwohner anschwillt. Die Stadt und Semmelhaack-Vertreter Berko Dibowski betonen daraufhin erneut, dass man keinen Arzt und Apotheker zur Ansiedlung zwingen könne, was Wartenberg noch eine Spur wütender macht: „Diese Ausreden höre ich schon seit fünf Jahren.“ Ihm entgleiten endgültig die Gesichtszüge, als der Trupp nach wenigen Minuten wieder aufbricht, um die beim Fußballfachsimpeln verlorene Zeit aufzuholen.
In Bornim wird am Hügelweg die letzte Freifläche ab nächstem Jahr mit 200 Wohnungen in 40 Häusern bebaut, die Erschließung hat schon begonnen. Erik Wolfram schafft es, das in drei Minuten zu erläutern, exakt eine Oberbürgermeisterzigarettenlänge, dann geht’s zum Schlusspunkt, der Semmelhaack-Siedlung am Krongut Bornstedt. 114 Häuser habe man dort gebaut, sagt Berko Dibowski, seit 2007, nun sei alles so gut wie fertig. Der Bau zog sich, weil das Grundwasser Probleme machte, auch der Verkauf lief schleppend, nun vermietet Semmelhaack einen großen Teil der Häuser. „Das läuft viel besser“, sagt er. „Die sehen alle gleich aus“, bemängelt jemand aus der zweiten Reihe. „Die haben verschiedene Farben“, wendet Dibowski ein.
Ansonsten ist auch diese 65. Stadtwanderung die bewährte Mischung aus „Wir schauen uns auch mal vor Ort an, worüber wir sonst in Sitzungen nur hören“ und Betriebsausflug. Der Baudezernent fehlt, was allgemeinen Unmut hervorruft, der Finanzdezernent sagt kein Wort und ist auf sein Handy konzentriert, die Kulturdezernentin stellt am Ortsschild von Groß Glienicke erschreckt fest, dass das ja „am Arsch der Welt“ liege und die Sozialbeigeordnete Elona Müller-Preinesberger juchzt auf einer Fahrländer Brache, als ihr Handy ihr meldet, dass sie soeben zum fünften Mal Oma geworden ist. Das ganz normale, pralle Leben halt.

Erschienen am 15.09.2012

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