Broschüren statt Bußgeld

Stadt, Polizei und Behindertenbeirat erinnerten Radler in Babelsberg daran, dass Gehwege für sie tabu sind

Dutzende Radfahrer erwischte ein Infoteam gestern Nachmittag in nur zwei Stunden auf Babelsberger Gehwegen.

Der Absprung ist so schnell und elegant, dass mancher Stuntman vor Neid erblassen würde, das Gesicht danach die reine Unschuld. Binnen Sekundenbruchteilen hat die junge Frau ein Schaufenster im Blick, schiebt das Rad nun, als habe sie seit Stunden nichts anderes getan. Polizeiobermeister Hans-Thomas Christ lässt sie dennoch nicht vorbei. Charmant, aber bestimmt, weist er sie darauf hin, dass sie doch eben auf dem Gehweg geradelt sei. „Waaaas?“ Entsetzter Blick aus grünen Augen. Nein, da müsse er sich verguckt haben. Erst als Christ erklärt, dass er nur aufklären möchte und nicht etwa fünf Euro Bußgeld kassieren, bekommt er ein Geständnis.
So geht es gestern Nachmittag zwei Stunden lang. Die Stadt, der Fahrradclub ADFC, der Behindertenbeirat und die Polizei haben sich zusammengetan, um etwas gegen das Radlerunwesen auf Gehwegen zu tun. Statt Knöllchen verteilen sie Broschüren mit der Aufschrift „Rücksicht kommt an“. Schwerpunkte der Kontrolle sind der Weg vor dem Thalia-Kino und die Mündung der Schornsteinfegergasse auf die Karl-Liebknecht-Straße.
Dass die meisten Radler durchaus wissen, dass sie etwas Verbotenes tun, beweist der Umstand, das 80 Prozent der Gehsteigradler hastig abspringen, wenn sie der Polizei oder auch nur der gelben Warnwesten des Infoteams ansichtig werden. Manche wechseln auch schleunigst die Straßenseite oder müssen plötzlich eiligst etwas im nächsten Geschäft erledigen. Bar jeden Schuldbewusstseins sind hingegen zwei 14-Jährige, die munter auf die Streife zuradeln und erwartungsvoll schauen, was man von ihnen wolle. Sie zeigen sich danach mustergültig einsichtig und sagen sogar „danke“, bevor sie weiter schieben.
So gute Erfahrungen macht Stefanie Seidel eher selten. Sie ist blind, und Radler auf Gehwegen sind für sie ein fast schon existenzielles Problem. „Wenn ich aus dem Weg geklingelt werde und mich schnell zur Seite drehe, verliere ich regelmäßig die Orientierung“, erzählt sie. Selbst wenn sie nur fünf Minuten von Zuhause entfernt sei, verlaufe sie sich dann oft so gründlich, dass sie erst nach einer Stunde wieder den Weg zurück finde. Und viele Gehwegrowdys seien zudem auch noch unfreundlich oder machten sich über sie lustig. Der Aktionstag ist Stefanie Seidel daher ein Herzensbedürfnis, was man ihr anmerkt, wenn sie mit den Erwischten spricht. Seidel wohnt in der Brandenburger Vorstadt, wo es besonders schlimm sei, weil die engen Gehwege auch noch mit parkenden Rädern zugestellt würden. Auch Rollstuhlfahrer kämen da oft kaum durch.
Angesichts der geballten Menschenmenge, der Polizei und der Presse gibt es kaum jemanden, der an diesem Nachmittag nicht Einsicht zeigt oder heuchelt. „Was die Leute allerdings ab der nächsten Ecke tun, darüber sollten wir uns nicht zuviele Illusionen machen“, sagt ein Polizist. Die Gründe für die Fehlfahrten sich vielschichtig: Einer sagt, das Fahren auf dem Kopfsteinpflaster schade seinen Bandscheiben, andere empfinden die Fahrbahn auf der Karl-Liebknecht-Straße als zu gefährlich, weil dauernd Autos ein- und ausparken. Das noch größte Verständnis haben die Polizisten, wenn Eltern ihre Kinder – bis zehn Jahre dürfen die auf dem Gehweg fahren – auch auf dem Gehweg begleiten. Verboten ist es dennoch, und die Ermahnung hilft. Meistens. Nur ein Vater fährt aus der Haut. „Wenn jetzt etwas passiert, mache ich Sie verantwortlich“, ruft er, und fährt schlicht weiter. Da hätte dann wohl doch eher ein Knöllchen geholfen. Die Broschüre lässt er demonstrativ liegen.

Erschienen am 22.05.2012

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