Europa in drei Stunden

Mit zwei schlösserbegeisterten Amerikanern auf einem Kurztrip durch die Landeshauptstadt

Über die Bedeutung des Tourismus für Potsdam wird viel geredet, doch wie erleben eigentlich ausländische Gäste die Stadt? Die MAZ machte die Probe und begleitete zwei Amerikanerinnen auf ihrem Tagestrip.

Der Tag in Potsdam beginnt für Leah und Marybeth Berger mit einem Überfall: Kaum haben sie die S-Bahn am Vormittag am Hauptbahnhof verlassen, stürzen sich die Männer mit den Stadtrundfahrts-Prospekten auf sie. Mit sicherem Blick haben die Werber die drei untrüglichen Touristenindikatoren entdeckt: Reiseführer in der Hand, suchender Blick, ausländischer Akzent. Doch Mutter und Tochter Berger kommen aus Dayton, Ohio, USA und sind aufdringliche Werbung gewohnt: Souverän pflücken sie jedem Werber eine Broschüre aus der Hand und schreiten mit freundlich-kühlem Lächeln ungerührt weiter, direkt zur Touristinfo, wo sie die eben gewonnenen Zettel Berater Florian Sonnenschein zur Entscheidung vorlegen. Der tippt routiniert auf einen Anbieter und verkauft ihnen die Tickets, während er zugleich einem Spanier die Frage nach der nächsten Toilette beantwortet und einem Franzosen erklärt, wie er ins Holländische Viertel kommt – jeweils in deren Muttersprache natürlich.
Die Bergers schlendern indes zum Stadtrundfahrtsbus und wehren weitere Werberüberfälle durch Vorzeigen ihrer Tickets ab. Kurz zuvor haben sie noch einen Blick auf den Vorplatz des Bahnhofs geworfen, sich dann schulterzuckend angesehen und irgendwas mit „Industriegebiet“ gemurmelt. Der Weg zum Bus gefällt ihnen besser: Wasser, Grün und der Turm der Nikolaikirche.
24 Stunden zuvor hatten sie noch nie von Potsdam gehört. Die Bergers befinden sich auf einer Europa-in-drei-Wochen-Tour, haben in Frankreich begonnen, wo Leah, Mitte 20, demnächst für ein bis drei Jahre Englisch unterrichten wird, sind dann nach Hamburg und schließlich nach Berlin gekommen – jeweils für zwei Tage. Die Tour am Vortag mit dem Bus durch Berlin hat sie nicht erfüllt, doch an der Glienicker Brücke sahen sie Wasser und Schlösser und entschieden spontan: Morgen muss es dieses Potsdam sein, das sie hartnäckig für einen Teil von Berlin erklären. In ihrem Reiseführer stehts es ja schließlich auch so.
Der Regen pausiert, weshalb Busfahrer Siggi das Dach geöffnet hat und sich Reiseleiterin Jutta Romanowski auf deutsch und englisch in die Herzen der Gäste zu scherzen versucht. Die Nikolaikirche nehmen Bergers mit anerkennendem Nicken zur Kenntnis, an den Hillerbrandtschen Häusern entfährt ihnen ein „beautiful“, die Klickrate des Fotoapparates steigt. Das Brandenburger Tor erklären sie für kleiner, aber schöner als dessen Berliner Version, die verfallenen und beschmierten Häuser in der Zeppelinstraße könnten ihrem Urteil nach auch irgendwo in Chicago stehen.
Mit dem ersten Stopp am Neuen Palais kommt nicht nur der erste Schauer, sondern auch der erste Schock: Man kann diesen riesigen Park betreten, ohne Eintritt zu bezahlen. „Unglaublich“, findet Marybeth Berger, und ist darüber so erstaunt, dass sie die Dame, die um freiwilligen Parkeintritt bittet, glatt ignoriert. Wer denn das alles bezahlt, will sie wissen. Der Staat, also der Steuerzahler, sagt Jutta Romanowski. „Das ist Kommunismus“, entfährt es einem anderen amerikanischen Tourteilnehmer. Die Bergers hören es nicht mehr, denn die Mopke gefällt ihnen so gut, dass sie ins Schwärmen geraten – vor allem über ihre namensgebenden Pflastersteine. Als Jutta Romanowski erklärt, dass die Wege im Park 78 Kilometer lang sind und es allein bis zum Schloss Sanssouci 2,2 Kilometer sind, erleiden Bergers ihren nächsten Schrecken: Und es gibt keine Autos im Park, die einen weiterbringen?
Zum Glück fährt der Tourbus die Truppe weiter. Nächster Halt: Sanssouci. Den Begriff kannte Marybeth Berger bislang nur, weil ihr Lieblings-Wellness-Tempel in Dayton auch so heißt. Jetzt ergibt er Sinn, sagt sie. Direkt davor stehend, erscheint ihr die Sommerresidenz klein, doch von den unteren Terrassen aus werden die „Wows“ und „Greats“ immer lauter. „Das ist wirklich der schönste Teil von Berlin“, entfährt es Leah Berger, die sich daraufhin erneut von einem mitreisenden Potsdamer belehren lässt, dass man ja schließlich „keen Stadtteil und och keen Vorort“ sei. Okay. An Friedrichs Grab staunen sie über die Kartoffeln darauf und über die Erklärung dafür sowie über den Umstand, dass des Alten Fritz’ Frau in Sanssouci Hausverbot hatte. Schnell noch ein paar Postkarten gekauft, dann geht’s nach Cecilienhof. Erste Ermüdung macht sich breit, die Alexandrowka rauscht an den Bergers eher vorbei, ebenso Jutta Romanowskis Erklärungen zum KGB-Städtchen und der Mauer. Mutter und Tochter Berger sind wegen der Schlösser und Parks hier, die jüngere deutsche und europäische Geschichte nehmen sie entfernt zur Kenntnis. Stattdessen begeistern sie sich für das Konzept der Kleingärten, dass sie schlicht „ingenious“ – genial – finden und wundern sich, dass die Autos, Straßen und überhaupt alles in Europa so klein sei.
Cecilienhof gefällt den Bergers sofort. Das ab 1914 im englischen Stil errichtete Schloss könnte im Gegensatz zu den Barock- und Rokokobauten auch in den USA stehen und erweckt nach zwei Wochen in Europa daher fast heimatliche Gefühle.
Im Neuen Garten staunen sie über die vielen Fahrräder und dass die nicht nur diese komischen Klingeln haben, sondern sie auch benutzen, weil der amerikanische Teil der Reisegesellschaft regelmäßig den gesamten Weg blockiert.
In der Brandenburger Straße endet die Tour. Den „Broadway“ finden die Bergers ganz „okay“, das Holländische Viertel hingegen außerordentlich „cute“ – niedlich.
Bei einer heißen Schokolade resümieren sie, dass ihr Tag von Potsdam ein wunderschöner gewesen sei. Marybeth Berger sagt, eigentlich sei das statt Europa in drei Wochen Europa in drei Stunden gewesen, nach all den italienischen und französischen Baueinflüssen, der Alexandrowka und dem Holländischen Viertel. Und Leah Berger ergänzt, sollte sie zurückkehren – was sie im gleichen Atemzug ausschließt, schließlich geht es morgen nach München, dann nach Venedig und Rom –, so würde sie lieber hier als am Potsdamer Platz Quartier nehmen. Und all ihren Bekannten wolle sie’s auch empfehlen, es sei, so ist Leah überzeugt, nun einmal „der schönste Teil von Berlin“.

Erschienen am 24.08.2011

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