WAS BLEIBT: Aufrechter Gang

Moralisch betrachtet mag der aufrechte Gang ja wünschenswert sein, orthopädisch ist er hingegen eine Katastrophe, das kann Ihnen jeder Evolutionsbiologie bestätigen und jeder Physiotherapeut sie spüren lassen. Und da Kommunalpolitik auf die Knochen geht, ist der aufrechte Gang dort zuweilen zu anstrengend. Stattdessen wird gebuckelt, gerobbt, ausgesessen, auch gekrochen oder sich in Höhlen zusammengekauert. Haben Sie zum Beispiel in den letzten Wochen diesen … wie hieß er gleich? … Oberbürgermeister irgendwo gesehen? Wir nicht. Aber er ist ja nicht allein mit diesem Phänomen: Sobald sich in dieser Stadt irgendwo Widerstand gegen ein Vorhaben regt – und er regt sich ja derzeit allerorten – gelangen die Stadtveordneten in ein Dilemma: Bleiben sie ihren Ansichten und Beschlüssen treu oder hören sie auf das Volk, das sie ja wieder wählen soll? In der ersten Phase der Verarbeitung dieses Konflikts sinkt meist der Kopf des Abgeordneten aus der aufrechten Haltung nach vorne, wo er nicht nur unentschlossen pendelt, sondern auch ein wenig die Blutzufuhr zum Gehirn drosselt. Das sorgt für Erinnerungslücken, wie man sich noch kürzlich zu diesem Projekt positioniert hatte. In hartnäckigen Fällen wird sogar vergessen, dass ja nicht die böse Stadtverwaltung da ein in der Bevölkerung ungeliebtes Projekt vorantreibt, sondern auf Weisung eines Stadtverordnetenbeschlusses handelt, den man selbst mit unterstützt hatte.
Später, nach Versammlungen mit aufgebrachten Bürgern, kommt dann eine gebeugte Haltung hinzu: Der Druck der Verantwortung lastet schwer auf den Schultern, die sich in einer Art Kompensationsbewegung daraufhin hochziehen: „Ich weiß auch nicht, ich war ja dafür, traue mich aber nicht, Ihnen das zu sagen, vielleicht können wir ja noch Änderungen im Detail fordern, ich muss da mal mit der Fraktion drüber reden“, soll das heißen. Wird der Gegendruck noch ärger, bieten sich die Klassiker an: Aussitzen (bis der Beschluss gefallen ist, und Beschluss ist Weisheit der vielen, da kann man nichts machen), Einknicken (wir haben zwar recht, können aber nicht gegen die Bevölkerung regieren) oder – für sehr Fortgeschrittene – kompletter Richtungswechsel bei gleichzeitiger Beibehaltung des aufrechten Ganges (verlangt viel Übung, ist nur besonderen Talenten zugänglich). Nur die ganz Dummen drücken den Rücken durch und halten die Nase in den Orkan, wenn sie einen Beschluss für richtig halten. Gewinnen können sie damit nichts außer ein bisschen Respekt und warmen Reden beim Abschied dereinst. Aber deren Bandscheiben, die möchten Sie nicht sehen!

Erschienen am 01.06.2011

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