Das unterschätzte Wartezimmer

Wartezimmer gehören zweifelsohne zu den am meisten unterschätzten Orten dieses Universums. Der gewöhnliche Patient hält den Aufenthalt dort für vergeudete Zeit. Das ist ein grober Irrtum. Erstens ermöglicht so ein Wartezimmer dem hypochondrisch begabten Patienten, sämtliche möglichen Diagnosen für seinen — sagen wir: juckenden Zeh — im Kopfe schon einmal durchzuspielen und sich schließlich für die Schlimmstversion zu rüsten: Dass der Arzt ihn ernst anschaut und ihm eröffnet, wie lange er noch zu leben habe. Andere begnügen sich mit dem Studium der Zeitschriften, was in der Regel auch neue Einblicke gewährt, denn da liegen Titel, die man zuhause nicht hält: Klatschfreunde müssen plötzlich zum „Spiegel” oder zur „Zeit” greifen, und politisch Interessierte erfahren gegen ihren Willen, was frau diesen Sommer so an den Füßen trägt und welches Adelspaar wie viele Nachfolger aus welcher außerehelichen Beziehung erwarten darf. Die richtig hohe Kunst verlangt indes etwas Beobachtungsgabe, doch wer hinreichend oft zum Arzt muss, bildet die ganz schnell en passant aus. Dann werden sogar Paardynamiken im Nu transparent. Etwa gestern, als Sie erst einen Fachartikel las, um dann Ihm zu sagen: „Siehste, hier steht, Alkohol ist nicht nur schlecht für die Gesundheit, er macht auch gleichgültig.” Worauf er trocken replizierte: „Mir doch egal.”

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