Archiv für die Kategorie „Reportage“

Ellys Knipser

Donnerstag, 15. Mai 2008

Castingshows und das Internet haben einen neuen Modeltypus geschaffen

Seit Heidi Klum im Fernsehen nach neuen Supermodels sucht, werden Modelbörsen im Internet von Mädchen überrannt. Doch statt Geld und Glamour folgt meist ein Vagabundieren zwischen verhängten Wohnzimmern und muffigen Mietstudios.

Elly hat ihren Rollkoffer dabei. Obwohl er relativ neu ist, wirkt er ziemlich abgewetzt. Die schlimmsten Stellen hat sie mit Aufklebern geflickt. Auf einem steht „Mad world – real life“. Der Koffer sieht aus, als könne er den Inhalt mehrerer begehbarer Wandschränke in sich aufnehmen. Und das tut er offenbar auch. Elly, klein, schlank und etwas überschminkt, hält die frisch gefönten schwarzen Haare mit einer Hand aus dem Gesicht, während sie große Teile des Kofferinhalts auf dem Boden des Wohnzimmers ausbreitet: neun paar Schuhe und Stiefel mit bedenklich hohen Absätzen, eine Kollektion abenteuerlich kurzer Röcke, einen Schwung knapper Oberteile, verschiedene knallenge Jeans, dazu Strümpfe, Strapse, Unterwäsche in allen Formen und Farben, zur Krönung eine Corsage aus Leder und ein Brautkleid. Damit Peter aussuchen kann.
Peter ist noch mit dem Aufbau befasst. Prüfend schiebt er einen von zwei Studioblitzern mal hierhin und mal dorthin, stellt sich dann hinter seine Kamera, sieht hindurch, macht „hmm“ und schiebt den Blitzer erneut. Peter ist ein etwas nachlässig gekleideter Mittfünfziger und kommt aus Berlin gereist, um Elly zu fotografieren. Sein Studio ist das Wohnzimmer eines Potsdamer Freundes, das Peter mit einem schwarzen Tuch über der Schrankwand und seinen Blitzern in ein improvisiertes Set verwandelt.
Gefunden und gebucht hat er Elly über ein Internet-Portal namens Fotocommunity, das Models und Fotografen zusammenbringt. Davon gibt es einige in Deutschland, seit im Internet die Communitys wie wild sprießen. Seit auch noch Heidi Klums „Supermodels“ über den Bildschirm stöckelten, werden diese Angebote förmlich überrannt – auf manchen melden sich pro Tag bis zu 80 neue hoffnungsfrohe Models an. Die Seiten heißen Model-Kartei, Aktfotocommunity, oder 123model, und sie funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Anmelden, Fotos einstellen, Arbeitsbereiche eingrenzen – das Spektrum reicht von Portrait über Fashion bis Dessous, Halbakt und Akt – und abwarten. Alles Weitere regeln Angebot und Nachfrage.
An beiden mangelt es nicht. Elly, die unter verschiedenen und ständig wechselnden Pseudonymen bei allen angemeldet ist, sagt, nach dem hundersten Shooting habe sie aufgehört zu zählen. Das war nach vier Monaten im Geschäft und ist jetzt ein halbes Jahr her. Auch Peter kann nicht klagen. Er shootet ein- bis zweimal die Woche, erklärt er unwillig. Vielmehr sagt er nicht, denn das Reden darüber ist Peter unangenehm. Warum er an einem Dienstagvormittag Zeit hat? Wozu er die Fotos macht? Wieviel Erfahrung er hat? Peter winkt ab. Außerdem läuft die Zeit, wie er mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr andeutet.
Für drei Stunden hat er Elly gebucht, „bis Dessous“, wie sie sicherheitshalber noch einmal klarstellt. Bezahlt wird bar und im Voraus, die Rechte am Bild behält Peter. Meist sieht Elly von den fertigen Fotos keines. „Manche senden mir ein, zwei davon zu, aber das ist die Ausnahme“.
Was mit den weiteren geschieht, will sie lieber gar nicht wissen. Dann schließt sich die Wohnzimmertür. „Ans Set gehören nur Knipser und Model“, hat Peter entschieden. Natürlich heißt Elly nicht Elly. Wie sie wirklich heißt, weiß im Modelkosmos niemand. Wenn Elly anruft, unterdrückt sie ihre Telefonnummer. Kontaktaufnahme ist nur über das Internet mit seiner schützenden Anonymität möglich. Außerdem behält Elly auf diese Weise die Kontrolle: Sie entscheidet, wen sie wann zurückruft. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu ihrer Eigenwerbung im Onlineprofil und den begeisterten Fotografenkommentaren: In beiden kommt das Wort „Zeigefreude“ vor. Doch die gilt nur für Ellys Körper. „Das muss so. Das ist Schutz“, sagt sie, als wäre es ein Befehl und schneidet mit einer ruckhaften Geste jede in der Luft liegende Nachfrage ab.
Adrian ist sauer. Mehr als drei Stunden hat der Eineinhalbjährige seine Mutter entbehren müssen, nun thront er auf seinem Kinderstuhl im Café und buhlt um ihre Aufmerksamkeit, indem er nachdrücklich versucht, seinen Obstsalat mit dem Löffel in die Tischplatte einzuarbeiten. Zudem wirft er Servietten, Schnuller, Brotstücke und alle Gegenstände, derer er noch habhaft werden kann, mit Entschlossenheit hinter sich und schaut dann erwartungsvoll in die Runde.
„Ist manchmal nicht einfach mit Job und Kindern“, kommentiert Elly und schlürft ihren Milchcafé. Der Rollkoffer steht hinter ihrem Sitz. Adrians älterer Bruder Fabian ist derweil noch beim Babysitter, denn Elly hat heute noch ein Shooting. Adrian wird gleich „vom neuen Papa geholt“, der erst seit drei Monaten der neue Papa ist, sich aber „rührend um die Kleinen“ kümmert, wie sie betont. „Es macht den Job leichter“, sagt sie. Es ist das zweite Mal, dass der Begriff „Job“ fällt, und Elly spricht die Anführungszeichen immer mit.
Eigentlich ist sie ja noch im Mutterschutz, eigentlich müsste sie sich ja längst bewerben. Aber auf ihren alten Job als Kellnerin hat sie keine Lust – Schichtarbeit, abends nie da, schlechte Bezahlung, kaum Zeit für die Kinder – da sind ihr ihre Knipser lieber. Während sie erzählt, vertilgt Elly eine riesige Frühstücksplatte, obschon es längst Mittag ist. Am Morgen sei dafür keine Zeit geblieben, und überhaupt gehe sie lieber mit leerem, flachem Bauch zum Shooting.
Elly redet sich in Fahrt. Überhaupt sei das Gewicht bei Community-Models nicht so wichtig wie bei den Hungerhaken im Fernsehen. Im Gegenteil, ihre weiblichen Formen machten sie bei den Knipsern erst recht beliebt. Mit nur 1,62 Meter und viel Oberweite hätte sie bei den Agenturen ja ohnehin keine Chance. Zweimal hat sie es versucht, durch ihre Shootings ermutigt. Die haben sich nicht mal die Mühe gemacht abzusagen. Nein, da bleibt sie lieber bei ihren Knipsern.
Knipsern? Elly kichert. „So nennen wir Models die Fotografen aus dem Internet.“ Es gibt feine Differenzierungen: „Schrankwand-Knipser“ – solche ohne eigenes Studio, die vor dem Wohnzimmerschrank zu Hause belichten -, „Spannerknipser“, die keinen Film oder keine Karte in der Kamera haben, sondern nur die Zeit mit dem Model buchen, und schließlich die „Semis“, Hobbyfotografen mit Ambitionen und Erfahrung, deren Bilder vorzeigbar sind. Elly hat aber keine Präferenzen. „Wer zahlt, gewinnt“, sagt sie und schaut dabei so abgeklärt, als habe sie „das Business“, wie sie es nennt, erfunden.
Was nur begeistert sie an diesem Vagabundieren zwischen Wohnzimmern und muffigen Mietstudios? „Das da“, sagt sie und zeigt auf den Koffer hinter sich, „ist das wirkliche Leben. In andere Rollen schlüpfen, mal Zeit für mich haben, im Mittelpunkt stehen, und dafür auch noch Geld bekommen“. Doch welches Leben sind dann Adrian und Fabian, der neue Papa und der Kellnerjob? Elly überlegt. „Na ja, das ist halt ,dieses Leben’“, antwortet sie und verschränkt die Hände vor der Brust. Es klingt ein wenig, als wäre es nur der Vorhof zu etwas Größerem. Dann sagt sie nichts mehr. Ihre Laune ist spürbar gesunken.
Fast hätte sie beim Gehen den Rollkoffer vergessen, so unangenehm muss das Sprechen über „dieses Leben“ gewesen sein. Doch sobald Adrian im Buggy sitzt, fällt er ihr der Koffer wieder ein. Ein Ruck am Griff, dann geht sie los, schiebt das Kind vorneweg. Das wirkliche Leben zieht sie rumpelnd hinter sich her.

Infoxbox: DER HOBBYMODEL-MARKT IN DEUTSCHLAND

13 500 Models und 9 500 Fotografen haben sich beim Branchenprimus „Model-Kartei“ angemeldet. Das Durchschnittsalter der Frauen beträgt 19 Jahre.
In der „Model-Kartei“ sind etwa sieben Prozent der Teilnehmer jünger als 18 Jahre, 44 Prozent zwischen 18 und 25 Jahren und 24 Prozent zwischen 26 und 35 Jahre alt.
Seriöse Schätzungen gehen von 25 000 bis 30 000Hobbymodels in Deutschland aus.
Mehr als vier Fünftel davon präsentieren sich ausschließlich in der weitgehenden Anonymität des Internets und werden auch dort gebucht.
Üblicherweise gewähren neue Gesichter in diesen Foren zwei bis drei kostenlose Foto shootings, um an vorzeigbares Bildmaterial zu gelangen, mit dem sie dann für bezahlte Shootings werben.
Der Stundenverdienst liegt zwischen zirka zehn Euro für Portraitaufnahmen zwischen 20 bis 30 Euro für (bekleidete) Ganzkörperaufnahmen und bis zu 50 Euro für Aktbilder.
Die meisten Models benutzen diese Fotoshootings als teilweise lukrativen Nebenverdienst neben Schule, Studium oder Job.
Die Durchlässigkeit zu den Berufsmodels ist gering: Bislang ist kein Internet-Model in den Kreis der bekannten Schönheiten aufgestiegen. Die werden nach wie vor von Talentsuchern aufgespürt, unter Vertrag genommen und gezielt gefördert.
In den großen Agenturen gelten die Internet-Models hingegen eher als Schmuddelkinder – nicht zuletzt wegen der häufig publizierten Aktaufnahmen, die in der Branche als anrüchig gelten.
Der Heidi-Faktor: Laut Model-Kartei-Betreiber Hendrik Siemens melden sich während der Ausstrahlung von Heidi Klums Modelcasting-Show mehr und vor allem jüngere Mädchen an als im Jahresmittel.

Erschienen am 15.05.2008

Einsamer Protest ohne Promille

Samstag, 3. Mai 2008

Gedenken. Mit Wodka wollten die Linken ans Kriegsende erinnern, doch es blieb bei Zitronenlimonade

Falkensees linke Jugend lud zur 24-stündigen Mahnwache auf dem Rathausvorplatz. Wegen polizeilicher Auflagen erwies sich das als kein leichtes Unterfangen.

FALKENSEE Es sollte ein Protest gegen Faschismus mit viel Promille werden: Wodka, Transparente, eine Mahnwache über Kerzen, um an das Kriegsende am 8. Mai 1945 und die Bücherverbrennung in Falkensee am 5. Mai 1933 zu erinnern. Kurz nach 15 Uhr am Freitag brennen aber nicht mal die Kerzen: Der Wind bläst sie immer wieder aus. Sebastian, Luise und ein dritter Mitstreiter von den Falkenseer „Socialists“ – Nachnamen werden hier ungern verraten – haben auf dem Rathausplatz am Denkmal der Opfer des Faschismus Position bezogen. Von weiteren Mitstreitern keine Spur, und statt der Wodkaflaschen kreisen Cola und Zitronenlimonade. „Auflage“ sagte Sebastian als Organisator schulterzuckend, die Versammlungsbehörde beim Landkreis hat Alkohol und Transparente verboten, auch das Campen auf dem Platz wurde nicht gestattet. Das verspricht eine kühle Nacht zu werden, und als es auch noch zu regnen beginnt, schrumpft das Häuflein kurzfristig auf zwei zusammen, die sich unter einem Schirm zusammendrängen. „Kein Wunder“, sagt Luise, „’ne Aktion ohne Musik, Alkohol und Transparente ist halt keine Aktion“, und Sebastian wärmt sich an der Erinnerung an letztes Jahr, als sie die Baracke des ehemaligen KZ-Außenlagers im Geschichtspark verhüllten. Ein dritter wendet ein, dass auch die Erinnerung an die Bücherverbrennung unter der Friedenseiche, deren Datum die Socialists recherchiert haben, ohne entsprechendes Schild „’bisschen schräg“ sei – „wie ein Museum ohne Erklärungstafeln“. Doch Auflage ist Auflage, Ordnungsstrafen mag hier niemand bezahlen, die linke Jugend protestiert und mahnt zur Not auch lautlos, frierend und mit Zitronenlimonade. Krawall überlässt man der Antifa, die allerdings, wie jemand einwirft, in Falkensee „eher ein Problem mit Alkohol als mit Nazis“ habe – der Mangel an Gegnern und Reibung schröpft offenbar nicht nur die Socialists. Die philosophieren derweil darüber, dass es in Falkensee eine gut organisierte Gegenöffentlichkeit gibt und Rechte daher kaum einen Fuß auf den Boden bekommen. Mit dem Himmel klart sich derweil auch die Stimmung im Protesttrio auf: Per Telefon melden drei Mitstreiter ihr Eintreffen an, und für 20 Uhr haben sich „Genossen von der Linken“ angemeldet.

Dann will Sebastian eine kurze Rede halten und etwas auf der Akustikgitarre spielen – trotz Musikverbots. Alles lässt er sich halt auch nicht verbieten. 24 Stunden, bis heute um 15 Uhr, soll die Mahnwache andauern. Die drei sind entschlossen, auszuharren. Mittlerweile brennen sogar die Kerzen. „Seht ihr, wird doch keine kalte Nacht“, ermuntert sich Luise und zieht den Kragen höher.

Erschienen am 03.05.2008

Eine halbe grüne Woche

Freitag, 2. Mai 2008

Landwirtschaft: Etwa 10 000 Besucher stürmten am ersten Tag die Brandenburgische Landesschau

Bis einschließlich Sonntag lädt die Brala zur Leistungsschau der märkischen Bauern ein. Mit dem gestrigen Auftakt startete sie verheißungsvoll.

PAAREN IM GLIEN Lina fand’s „’n bisschen öde“. In ihren weißen Reiterhosen und mit einer Cola in der Hand lehnte sie am Infostand. Mit dieser Einschätzung dürfte Lina unter den etwa 10 000 Besuchern am Eröffnungstag die Ausnahme gewesen sein. Aber sie litt auch unter zwei erschwerenden Bedingungen: Sie war von ihrem Gestüt abkommandiert, um Besucherfragen zu beantworten, und sie ist erst 15: „Ich interessiere mich vor allem für Jungs. Und für Pferde“, erklärte sie, halb entschuldigend. Zumindest an Pferden mangelte es auf der Brandenburgischen Landesschau (Brala) jedenfalls nicht – so wenig wie an anderem Getier.

Das begann gleich hinter dem Eingang mit dem Ferkelstreicheln beim Schweinezüchterverband und setzte sich im Zelt der Pferdezüchter, wo Lina lümmelte, nahtlos fort. Noch ein Zelt weiter, bei den Schweinezüchtern, ging es um Leistungsgenetik, große Gesäuge, Lebenstagzunahme, Muskelfleischanteil und Eber, deren Waschbrettbäuche gepriesen wurden. Wäre nicht ab und an eine Sau ausgebüxt und hätte mit Besucherhilfe und durch schnell mit Sitzbänken gebaute Gänge eingefangen werden müssen, man hätte glauben können, es ginge um Objekte.

Auf der Freifläche fuhren derweil Traktoren und andere Landmaschinen im Kreis, während der Moderator dem staunenden Publikum alles über Baujahre, Motorisierung und Einsatzzweck erzählte. Die Besucher standen dicht an dicht und fotografierten.

Bei den Schafzüchtern ließen sich die Brala-Gäste über die Unterschiede zwischen Skudde, Quessant- und Steinschaf aufklären und vertieften die soeben gewonnenen Erkenntnisse beim Beschauen und Probestreicheln der Rassen. Das Zelt war der vermutlich einzige Ort auf dem MAFZ-Gelände, wo sich jeder ungestraft anblöken ließ. Vor allem die Kinder hatten hier ihren Spaß – der vierjährige Justin ließ sich gar auf einen Wettstreit ein und blökte mit einem Lämmchen um die Wette.

Welchen Weg die Milch von der Kuh bis in den Joghurtbecher nimmt, ließ sich in der Milchhalle minutiös verfolgen: Von der Schwarzgefleckten über das Milchlabor bis zur Aufbereitung, Verpackung und dem Verkauf waren alle Stationen dort. Gleich am Eingang warb eine Kuh per Transparent für einen fairen Milchpreis: 40 Cent sollen es sein, forderte sie im Namen der Bauern.

Auf fairen Umgang dürfen künftig auch Legehennen hoffen: Ab Ende 2009 ist die Käfighaltung verboten. Landkost-Ei aus Bestensee feierte das mit einem Plakat und zeigte, welche Käfige dann überflüssig werden – und wie die neue Haltung aussieht. Dennoch reichlich beengt fühlten sich die Küken, die in der Geflügelhalle zum Streichelangriff der Kinder freigegeben waren. Letztere waren von der Möglichkeit, die flauschigen-gelben piepsenden Knäule zu schmusen, sehr angetan. Erstere eher weniger.
Doch sogar für Lina fand der erste, ereignisreiche Brala-Tag noch ein gutes Ende: Am Nachmittag stand sie mit einem jungen Herrn am Infostand – ebenfalls ein Reiter.

Erschienen am 02.05.2008

Leih-Omas dringend gesucht

Freitag, 25. April 2008

Soziales: Arbeiter-Samariter-Bund bringt omaferne Kinder und enkelarme Senioren zusammen

Für den Job wird heute Mobilität erwartet. Doch der Umzug zur Arbeit zerreißt Familien. Wunschgroßeltern können das abmildern.

FALKENSEE Manchmal ist es bei den Knobels ruhig. Zu ruhig. „Dann sitzen wir uns abends gegenüber und gucken uns ein bisschen blöde an“, sagt Wilfried Knobel. Die Runde lächelt, das irritiert Knobel. Ihm ist es sehr ernst: „Meine Frau ist auch so’n bisschen krank, aber wenn Kinder da sind, ist sie gesund“, fügt er hinzu. Fast klingt es verzweifelt: „Wir haben zwar vier eigene Enkel, aber die sind aus dem Alter raus, wo sie oft kommen. Deshalb sind wir hier“, sagt Wilfried Knobel und schaut erwartungsvoll in die Runde.

Die Runde im ASB-Kulturhaus ist an diesem Mittwoch auf stattliche 13 Mitglieder angewachsen. Damit hat selbst Koordinatorin Bettina Hegewald nicht gerechnet, weshalb eilig Stühle herangeschleppt werden. Vier Kinder nebst Eltern sind gekommen, um künftige Wunschgroßeltern zu beschnuppern, neben den Knobels sitzen drei weitere interessierte Mietgroßeltern da. Das ginge auf.

Doch es ist eher ein glücklicher Zufall: Der ASB verzeichnet wesentlich mehr Eltern, die nach ehrenamtlichen Omas und Opas suchen, als umgekehrt. Die Idee finden aber alle Anwesenden toll: Wegen der vom Arbeitsmarkt geforderten Mobilität verlieren viele junge Familien den engen Kontakt zu den Großeltern, und viele Großeltern bleiben zurück, wenn die Kinder samt Enkeln wegziehen müssen. Beide zusammenzubringen, ist daher eine naheliegende Idee.

Das findet auch Anke Dommerdich, die mit ihrer dreijährigen Tochter Paula („bin aber schon fast vier Jahre alt“) gekommen ist. Die Großeltern leben in Rostock, ihr Mann ist in der Woche unterwegs, da wünscht sie sich manchmal Unterstützung, einen Rat oder die Möglichkeit, Kummer loszuwerden. Die agile und freundliche Paula erobert indes die Herzen der Anwesenden.

Der fünfjährige Jan sieht seine Großeltern in Nordrhein-Westfalen gar nur zweimal im Jahr. Seine Eltern Heike und Dirk Bäcker wünschen sich deshalb freiwillige Großeltern, die sich idealerweise sogar in die Familie integrieren lassen. Soweit möchte die potenzielle Leihoma Ursula Matzies nicht gleich gehen. Sie geht im Juli in Rente und bietet sich zunächst als Aushilfe bei der Kinderbetreuung an. Mit dem sechs Monate alten Marc-Oliver, einem bildhübschen Mulatten mit riesigen Knopfaugen, hat sie sofort Freundschaft geschlossen und lässt ihn kaum noch von ihrem Arm. Mutter Dagmar Rachner-Nfor sieht das gern: Ihre Eltern sind tot, die anderen Großeltern des Kindes leben in Kamerun.

Koordinatorin Bettina Hegewald bittet nach der Vorstellung alle in die Frühlingssonne hinaus, um Kennenlernspiele zu absolvieren. Auch wenn alle Spaß daran haben – nötig ist das nicht mehr: Die siebenjährige Sandra führt längst Knobels Hund Chico stolz an der Leine, Marc-Oliver fühlt sich bei Ursula Matzies pudelwohl, Irene Marsch umwirbt die fast vierjährige Paula nach Kräften und Knobels stehen mit deren Mutter in Verhandlung. Kämen mehr Senioren, es könnte jedes Treffen so fröhlich unter der sinkenden Frühlingssonne enden. Und Knobels müssten sich abends nicht mehr ein bisschen blöde angucken.

Info: Interessierte melden sich beim ASB unter (03322) 28 44 25. Das nächste Treffen ist am 21. Mai, 15 Uhr.

Erschienen am 25.04.20008

Mehr Sicherheit dank teurer Technik

Samstag, 19. April 2008

Feuerwehr: Neue Drehleiter übergeben / Stadt konnte sparen

Die Vorgeschichte war lang, doch das Warten lohnte: Falkensee hat eine neue Drehleiter – und noch gespart.

FALKENSEE Wenn Männeraugen wie die von Kindern strahlen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Der Sohn bekommt die Eisenbahn geschenkt, die Papa nie hatte, oder die Feuerwehr ein neues Auto. Letzteres war gestern in Falkensee zu beobachten: Gestandene Männer in Uniform, die sich an Größe und Kraft ihres neuen Drehleiterfahrzeugs begeisterten, die an jedem Hebel ziehen und jeden Knopf drücken mussten, dazu ein Maschinist, der in bester Captain-Kirk-Manier auf seinem Kommandosessel vor Schalttafeln und Bildschirm thronte, per Funk den Überblick behielt und die lokale Prominenz mit einem Finger fast geräuschlos in luftige Höhen von 30 Metern und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbeförderte.

Zunächst galt es aber, auf das edle Stück zu warten. Stadtbrandmeister Michael Sahr begann daher mit seiner Rede, in der er das neue Fahrzeug das größte Ereignis seit der 100-Jahr-Feier der Wehr im Jahr 2004 nannte. Er erinnerte an das lange Ringen um die Drehleiter, an den Stadtverordnetenbeschluss von 2006, in dem man sich schweren Herzens zu der Investition von 650 000 Euro entschloss, an die Freude über die Ernennung zur Stützpunktfeuerwehr, die das Vorhaben förderfähig machte und der Stadt in Kombination mit der Sammelbestellung des Landes fast 400 000 Euro sparte – Geld, das nun für anderen Feuerwehrbedarf ausgegeben werden kann.

Die Rede war durch, doch von der Drehleiter noch keine Spur. Die Damen brachten Sekt, die Kameraden traten von einem Fuß auf den anderen, erste Witze machten die Runde: Altbürgermeister Jürgen Bigalke, der mit an Bord saß, genieße die Aussicht über seine Stadt wohl zu lange. Die Musik spielte „Triumpfwagen des Feuers“ und niemandem fiel mehr ein Grußwort ein, da bog sie endlich mit Blaulicht um die Ecke, und in den Augen der Feuerwehrmänner stand nur noch ein Wort: Bescherung!

Erschienen am 19.04.2008

Forschen Schritts durch die Geschichte

Samstag, 19. April 2008

Historie: Im Olympischen Dorf haben die Führungen wieder begonnen / Nasskaltes Wetter sorgte bislang für wenig Andrang

Der Abriss zweier Plattenbauten im Olympischen Dorf ist so gut wie abgeschlossen. Dafür kommen jetzt die Besucher.

ELSTAL Die Bedingungen sind nicht eben optimal: Es ist kalt, ein fieser, eisiger Nieselregen dringt durch jede Jacke und die Truppe, die sich am Eingang des Olympischen Dorfes sammelt, könnte motivierter sein. Die meisten sind Ein-Euro-Jobber, die von der Akademie Seeburg zum Dorfrundgang abkommandiert wurden: Um sich weiterzubilden, und weil sie in einem Tourismus-Projekt später Flyer entwerfen sollen. Ob’s nun dem Wetter geschuldet ist oder dem Umstand, dass viele das Olympische Dorf längst kennen: Kommentare wie „Hat einer ein Koppkissen bei?“ und demonstratives Gähnen lassen nur auf gut verborgene Begeisterung schließen.

Dorfführer Klaus Michels, ehemaliger Sport- und Russischlehrer, lässt sich davon aber wenig beeindrucken: An seiner Jacke perlt der Regen ebenso ab wie die allzu laut geflüsterten Kommentare an seiner Begeisterung. Also setzt der 70-Jährige mit einem „Und los!“ den müden Tross in Gang, als starte er einen Crosslauf und eilt forschen Schritts voran.

Michels kennt sich auf dem 55 Hektar großen Areal aus wie in seiner Hosentasche, das wird mit jedem Wort klar. Er kennt die Lage jedes Gebäudes, ob es nun noch steht wie die rund 20 ehemaligen Sportlerunterkünfte oder von den russischen Streitkräften abgerissen wurde wie die repräsentative Empfangshalle und etwa 100 weitere Sportlerheime. „Junge, der kennt wohl selbst jeden Stein hier mit Vornamen“, entfährt es einem Teilnehmer, und trotz aller Unlust schwingt Respekt in diesem Satz.

Klaus Michels hat sich einen Zeitplan von zwei Stunden gesetzt, und er ist entschlossen, das zu schaffen. Im Sauseschritt geht’s zunächst zum Kommandantenhaus, er erklärt, was davon noch steht und wie es früher aussah, welche Teile warum fehlen und ist schon weiter unterwegs zum Waldsee, der inzwischen ausgetrocknet ist. Die Sauna, auf Wunsch der finnischen Mannschaft angelegt, existiert auch nicht mehr, doch Michels hat ein Foto davon dabei. Er zeigt es und sprintet zum Hindenburghaus weiter, im Laufen darum bittend, die Privatgespräche wenigstens leiser zu führen, damit die dann doch Interessierten ihn verstehen können.

Eveline und Frank Unger sind zwei dieser „dann doch Interessierten“: Sie haben 49. Hochzeitstag und sind fest entschlossen, aus diesem Anlass „etwas Neues aufzunehmen“. Rathenow und Nauen kennen die Steglitzer Rentner mittlerweile bestens, nun ist das Olympische Dorf dran. Sie sind begeistert – nicht nur von Klaus Michels’ Führung, die sie als „exzellent“ und „rhetorisch brillant“ loben, sondern auch von der Schönheit des Geländes und dem Einsatz der DKB-Stiftung für dessen Erhalt, den sie „segensreich“ nennen. Einzig den geringen Bekanntheitsgrad des halbverfallenen Schmuckstücks vor den Toren Berlins beklagen sie und sind wild entschlossen, in ihrem Bekanntenkreis für einen Besuch zu werben.

Während Klaus Michels mit den beiden über den „Thing“ und die „Bastion“ zur Speisehalle der Nationen weitereilt, die restliche Gruppe wie einen störrischen Hund hinter sich herziehend, muss DKB-Mitarbeiter Jens Becker die Bauarbeiter bremsen. Vor wenigen Wochen haben sie mit dem Abriss zweier der hässlichsten Plattenbauten aus der Zeit der russischen Garnison begonnen, jetzt sind sie ihm etwas zu zügig, denn das Olympische Dorf erregt zunehmend Medieninteresse: Der „Spiegel“, die „Zeit“, die „New York Times“ gar, wollen über die Erhaltung des Dorfes und die Entfernung der russischen Hinterlassenschaften berichten, doch vom ehemaligen russischen Café etwa kündet nur noch ein Hinweisschild, das Haus ist weg, der Boden planiert, selbst Gras schon gesät.

Klaus Michels, der sonst mit kritischen Worten nicht spart, nennt das Wirken der DKB am Ende seines Rundgangs unverhohlen „großartig“, trotz Meinungsverschiedenheiten im Detail. Die abkommandierten Ein-Euro-Jobber sind da längst ins Wochenende enteilt, und so hat er nun Zeit, im Trockenen der Sporthalle stehend, die interessierten Fragen der Ungers zu beantworten. „Waren doch optimale Bedingungen“, sagt er lächelnd, bevor er sich auf sein Rad schwingt, um nach Hause zu fahren.

Erschienen am 19.04.2008

Wiederauferstehung und so

Samstag, 22. März 2008

Ostern: Dieter Langner geht mit Kaninchen und anderen Haustieren in Seniorenheime

Die Berührung eines Tieres erweckt in pflegebedürftigen Menschen nicht nur Erinnerungen – manche holt sie gar für Momente ins Leben zurück .

NAUEN „Huch, das ist ja schrecklich“, sagt die alte Dame und quiekt vor Vergnügen, als sie das Kaninchen in den Schoß gesetzt bekommt. „Der beißt bestimmt“, fügt sie hinzu, während sie das friedlich mümmelnde Kaninchen liebevoll streichelt, völlig in ihr Tun versunken. Dieter Langner, der ihr das Tier reichte, will wissen, wie es ihr damit geht. „Ich habe Angst, aber es ist schön“, sagt die Dame, und als das Kaninchen einschläft, ist sie glücklich. Ein beschauliches Bild: Die gepflegte alte Frau im Rollstuhl, auf ihren Knien ein selig schlummerndes Langohr, davor ein stolzer Kaninchenbesitzer. Als die Dame kurz darauf verwirrt aufschaut und fragt, wem denn die Katze auf ihrem Schoß gehöre, bekommt das Bild einen Riss.

Doch für Dieter Langner (68) sind solche Risse unwesentlich. Nicht die Demenz der Patienten zählt, sondern die Freude, die seine Tiere den alten Frauen und Männern schenken. Also zieht Langner, pensionierter Tischler und seit 54 Jahren Kleintierzüchter, dreimal im Monat mit seinen Frettchen, Hühnern, Tauben, Enten und Kaninchen in die beiden Pflegeheime des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Nauen. Um als stolzer Züchter seine Tiere zu zeigen, und weil es den Senioren merklich gut tut. Wenn er es besonders krachen lassen möchte, bringt er einen Esel oder eine Ziege mit. Heute sind es Kaninchen. „Weil doch Ostern ist und so“, sagt Langner. Die Frauen vom ASB haben alles österlich dekoriert. Zunächst scheu, dann mit wachsender Begeisterung knabbern die Mümmelmänner daraufhin kurzerhand die Deko weg.

Einzige Konstante in Langners kleinem Reisezoo ist Terrier Hapsi, der nicht von Herrchens Seite weicht – es sei denn, der setzt ihn jemandem auf den Schoß. Dann übermannt Hapsi der Diensteifer, er schaut besonders nett und lässt alles, aber auch wirklich alles, mit sich machen. „Davon kann sich jeder Sozialarbeiter ’ne Scheibe abschneiden, was Hapsi so mitmacht“, kommentiert das Herrchen.

In Lucia Herrmann steigen Erinnerungen auf, als sie ihr Kaninchen in Empfang nimmt. „Wir hatten drei Pferde, Kühe, Schweine, Hühner, Kaninchen und sehr viel Land“, erzählt die 82-Jährige und verrät auf Nachfrage, dass sie von ihrer Jugend in Ostpreußen spricht. 1945 musste sie von dort fliehen: 20-jährig und „ungeküsst“, wie sie betont. Die Erinnerung an all die Tiere und das Land, das sie zurückzuließen, an den Krieg, das Feuer auf dem Hof, an die Vertreibung, das tut ihr gerade wieder weh. Dass die Tiere Erinnerungen wecken, ist durchaus gewollt. Dass es immer angenehme sind, kann niemand garantieren.

„Die allermeisten Effekte sind aber sehr positiv“, berichtet Dorothea Münzer, Leiterin der Tagespflege: „Der Körperkontakt regt den Tastsinn an. Etwas Warmes, Lebendiges, Bewegliches am oder auf dem Körper zu haben, wirkt belebend und aktivierend auf die Leute.“ Noch schöner ist es, wenn Langners Langohren längst verstummte Menschen zum Reden bringen. So wie Lilly Hoffmann. Die 83-Jährige sagt meistens nichts, und wenn doch, dann versteht sie niemand.

Als Dieter Langner bei ihr steht und das Kaninchen auf ihren Schoß setzt, greift sie so fest zu, dass die Pflegerinnen schon um die Gesundheit des Nagers fürchten. „Lasst sie mal, die will nur das Leben spüren“, stoppt Langner gutgemeinte Rettungsversuche. Der Griff lockert sich, Lilly Hoffmann hebt den Kopf und sagt: „Das hatte ich zu Hause auch.“ Klar und deutlich sagt sie es, und die Umstehenden sind so erstaunt, dass sie für einen Moment verstummen. Pflegeleiterin Dorothea Münzer lächelt nur. „So was passiert öfter.“

Dieter Langner gibt sich angesichts solch kleiner Wunder eher gelassen. Dass er hier gebraucht und gemocht wird, freut ihn aber sichtlich. „Als ich das erste Mal kam, gab es ein Gekreische, keiner wollte ein Tier anfassen. Mittlerweile rufen sie schon an, wenn ich mich nur fünf Minuten verspäte“, berichtet er stolz. Tagelang würden die alten Menschen über die Tiere sprechen und sich die Fotos anschauen, die bei Langners Besuchen gemacht werden.

So fangen sie nicht nur an zu reden, sondern kommen auch miteinander ins Gespräch. Auch Lilly Hoffmann, die, einmal im Schwung, nun zu ihrer Sitznachbarin sagt, sie halte ihr Kaninchen falsch und ihr prompt den richtigen Griff zeigt. „Ist halt Ostern“, kommentiert Dieter Langner, „da geht’s doch um Wiederauferstehung und so.“

Erschienen am 22.03.2008

Ein bisschen anachronistisch

Samstag, 9. Februar 2008

Nostalgie: Der ehemalige „Chor der Parteiveteranen“ hat die Wende überlebt und so manchem Mitglied das Weltbild gerettet

Sie sind im Durchschnitt 72 Jahre alt, und sie proben im Sitzen – doch die Stimmen des einstigen Parteichors sind noch ungebrochen.

BERLIN Beim 60. Jahrestag der Gründung der DDR-Grenztruppen haben sie auch gesungen. Die liebevoll geführte Chronik vermerkt es genau: Es war am 1. Dezember 2006 in Strausberg (Märkisch-Oderland). Der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler war dabei und andere ranghohe Ex-NVA-Leute. Der Ernst-Busch-Chor sang das „Einheitsfrontlied“ von Brecht. „Bisschen anachronistisch“ findet Jochen Fischer das beim Durchblättern der Chronik, und auch historisch nicht korrekt: 1946 gab es die DDR noch nicht. Aber Fischer ist ja auch nur hier, weil er jeden Dienstag seine Frau zur Chorprobe bringt, wie er betont.
Die probt mit etwa 50 anderen Mitgliedern des Ernst-Busch-Chors im Kulturhaus Berlin-Karlshorst gerade einen russischen Walzer. Gäbe es hier nicht modernes Mobiliar, man könnte glauben, es habe die Wende nie gegeben. Das ist den meisten Chormitgliedern durchaus willkommen. Schließlich hieß das Ensemble bis zur Wende „Chor der Parteiveteranen der SED“ und unterstand direkt der SED-Bezirksleitung. Um Mitglied zu werden, bedurfte es 25-jähriger Parteimitgliedschaft, davon mindestens 15 Jahre als Funktionär.
Dass der Chor die Wende überhaupt überlebte, verdankt er vornehmlich Rolf Stöckigt. Der frühere Professor für die Geschichte der Arbeiterbewegung kam 1987 mit seiner Pensionierung zum Ensemble und freute sich auf einen ruhigen Lebensabend. Der November 1989 machte einen Strich durch diese Rechnung: Stöckigt wurde Vorsitzender und musste die Sänger durch die Wendewirren dirigieren. „Der alte Vorstand tat sich schwer, die waren ohne Anleitung durch die SED völlig hilflos“, erinnert er sich. Gegen einige Widerstände boxte Stöckigt, der noch heute im Vorstand wegen seiner liberalen Haltungen kritisiert wird, die neue Satzung durch: Die parteipolitische Unabhängigkeit sicherte das Überleben des Chores. Auch im Repertoire räumte er auf: „,Die Partei, die Partei, die hat immer recht’, das haben wir ersatzlos gestrichen. Stattdessen singen wir jetzt ,Die Gedanken sind frei’“, sagt der 86-Jährige. Seit dem Jahreswechsel ist Rolf Stöckigt kein aktiver Sänger mehr. Nicht, weil die Stimme nicht mehr mitspielt, sondern weil ihn seine Beine nicht mehr lange genug tragen. Er ist mit diesem Problem nicht allein: Der Chor probt im Sitzen, das älteste Mitglied ist 99, das jüngste 60 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 72. Chorleiter Klaus Hartke, der früher beim Ernst-Weinert-Ensemble, der „Musiktruppe der NVA“ arbeitete, sagt, er müsse neue Lieder abschleifen, ihnen die Höhen und Tiefen nehmen, weil die alternden Stimmen mit dem Neuen nicht so gut zurechtkommen. „An der Stimmgewalt mangelt es aber nicht, die muss ich eher bremsen.“ Das 250 Lieder starke Repertoire hat er behutsam erweitert. Neben die Kernkompetenz der Arbeiterlieder – am liebsten von Hanns Eisler – sind Volkslieder und klassische Chöre getreten, sogar das eine oder andere Kirchenlied hat sich eingeschlichen. „Das Publikum soll ja bedient werden“, sagt Hartke, als wolle er sich entschuldigen. Die Parteilieder der SED probt er hingegen nicht mehr, „das wäre irreal“, auch nicht die Grenzerlieder aus seiner Zeit als Oberst der Nationalen Volksarmee,, „obwohl einige davon sehr schön sind“, wie er betont.
Rolf Stöckigt mag keine Interviews. Die zahlreichen Journalisten, die immer noch anfragen, kommen meist nur, um sich lustig zu machen über die ewig Gestrigen. „Die wollen gar nicht wahrhaben, dass wir nur noch ein antifaschistischer Chor sind, der Wert legt auf seine Tradition aus der Arbeiterbewegung.“ Dass es je ein Arbeiterchor war, darf aber bezweifelt werden: Auf der Mitgliederliste stehen ein Ex-General beim Wachbataillon, Offiziere, Ex-Generaldirektoren von Kombinaten und Wissenschaftler.
Seiner Linie ist der Chor treu geblieben. Neben etwa 25 Konzerten pro Jahr vermerkt die Chronik, die stets ein bisschen an Wandzeitung erinnert, auch Spendensammlungen für Kuba, eine Grußnote an Täve Schur zum 75., das „Lob des Revolutionärs Ernst Thälmann“ und die Forderung, das KPD-Verbot aufzuheben.
Immer häufiger sind auch Traueranzeigen ehemaliger Mitglieder eingeklebt und Fotos vom Singen an deren Gräbern. Während sie vorn „Conquest of paradise“ proben, erzählt Rolf Stöckigt, dass einige Mitglieder in Chorkleidung beerdigt werden möchten. In einer Uniform, die sie mit den Genossen verbindet, die noch immer, wenn nicht gar stärker als zu DDR-Zeiten, zusammenhalten. Genossen, die eine Welt pflegen, die nur noch in ihren kollektiven Erinnerungen und den Liedern besteht. Sie haben ihr Paradies nach der Wende nicht erobert – aber verteidigt.

Info-Box: ERNST-BUSCH-CHOR
Der „Chor der Parteiveteranen der SED“ wurde 1972 gegründet. Er entstand im Rahmen der Singebewegung.
Die SED fand schnell Gefallen an dem Ensemble, unterstützte es finanziell und unterstellte den Chor schließlich der Bezirksleitung in Berlin.
1983 benannte sich der Chor nach dem Schauspieler, Regisseur und Sänger Ernst Busch, der unter anderem durch seine Interpretationen von Arbeiterliedern Ruhm erntete.
Busch zu Ehren gibt der Chor noch heute jährlich ein großes Konzert an oder um Buschs Geburtstag, dem 22. Januar.
Rund 4000 Menschen hören den Chor jährlich – bei fünf eigenen Konzerten und zahlreichen Gastauftritten, etwa dem Pressefest des „Neuen Deutschland“.
2008 erscheint die dritte CD des Chors.

Erschienen am 09.02.2008

Freibier statt Wegzugsprämien

Freitag, 8. Februar 2008

Aschermittwoch: Linkspartei und SPD dienen der CDU als Zielscheiben / Hilke und Pflüger geben sich angriffslustig

Rund 900 Gäste kamen zum politischen Kehraus der CDU nach Doberlug-Kirchhain. Es war der erste mit Ulrich Junghanns als Hauptredner.

DOBERLUG-KIRCHHAIN Der Mann von der CDU-Ortsgruppe Elsterland nimmt gleich drei Freibier, denn er will auf Nummer sicher gehen, was einen unterhaltsamen Abend angeht: „Beim Schönbohm“, sagt er entschuldigend, „war’s immer amüsant. Der Uli ist zwar ein guter Mann, aber kein Gute-Laune-Drops.“ Dass viele Parteimitglieder diese Auffassung über ihren Vorsitzenden Ulrich Junghanns teilen, muss bezweifelt werden: Von Beginn an ist die Stadthalle in Doberlug-Kirchhain (Elbe–Elster) gut gefüllt. Mit 500 Gästen hat die CDU gerechnet, fast 900 sind gekommen. Vielleicht ist es Neugier darauf, wie sich Junghanns bei seinem Aschermittwochs-Debüt schlägt, vielleicht ist die Lust auf zünftige Generalabrechnung bei Bier, Brezeln und Blasmusik auch nach einer Zwangspause im Vorjahr gewachsen: Infolge der E-Mail-Affäre fiel der Politische Aschermittwoch der märkischen CDU 2007 aus.
Zunächst stürmt Generalsekretär Rolf Hilke für ein zehnminütiges Grußwort auf die Bühne – und sichert sich sogleich Aufmerksamkeit: „Die SPD plant eine Einöde im Süden Brandenburgs, sie will ihn verwildern lassen“, ruft er. „Doch bei der CDU gibt’s keine Wegzugsprämie, sondern Freibier fürs Kommen.“ Hoppla, da reiben sich einige im Saal die Augen. Das geht ja munter los. Und Hilke legt nach: „Die Linke im Land schnürt munter Wünsch-Dir-was-Pakete, und die SPD rennt blind hinterher. Doch egal, wie schnell sie läuft, die Linke ist immer schon da.“ Da hat Hilke einen Rat für den Koalitionspartner: „Wer sich parfümiert neben einen Misthaufen stellt, lässt den nicht besser riechen. Er fängt nur selbst an zu stinken!“ So geht es weiter. Applaus im Saal, Erstaunen, Begeisterung. „Das waren die längsten zehn Minuten des heutigen Abends“, sagt der Moderator, denn Hilke hat sich 20 Minuten lang in Form geredet. Was der Moderator nicht wissen kann: Unterhaltsamer wird es nicht mehr.
Ulrich Junghanns gibt sich aber redlich Mühe. Der Satz „Es gibt viele Themen, die man ansprechen müsste“, gehört dennoch nicht zu den eindrucksvollsten Eröffnungen. Dann ist er erstmal bei der Lage in Hessen, bevor er zur märkischen SPD kommt: Ihr hält Junghanns vor, derzeit Eintrittskarten für die nächste Regierungskoalition zu verteilen: „Mindestens der Mindestlohn ist offenbar gefordert“, ruft er und warnt vor Rot-Rot in der Mark. Zur Situation in seiner Partei sagt Junghanns, „in der Brandenburger CDU unter Prinz Ulrich kann man sich wohlfühlen“. Falls das Ironie war angesichts des Machtkampfes mit Ex-Generalsekretär Sven Petke, lässt er es sich nicht anmerken. Am Schluss versucht Junghanns dann noch einen Witz über dicke Märker. Niemand lacht. „Das mit den Scherzen, das sollte er lassen“, diagnostiziert der Mann aus dem Elsterland trocken über seinen leeren Biergläsern. Ganz anders Berlins CDU-Fraktions chef Friedbert Pflüger. Der kommt zwar deutlich zu spät aus Köln – die Band spielte, um die Zeit zu dehnen, schon den „Holzmichl“ – steht aber ab dem ersten Wort auf dem Gaspedal. „Seien Sie stolz auf Ulrich Junghanns. Er ist der erfolgreichste Wirtschaftsminister der neuen Länder. Brandenburg hat mehr Wachstum als Berlin“, ruft er. Jubel. „Berlin und Brandenburg gehören zusammen!“ Tosender Applaus. Als er ein „tugendhaftes, bescheidenes Preußen“ beschwört, das Werte wie „Anstand, Ehre und Pünktlichkeit“ zu schätzen wisse, gibt es stehende Ovationen. Dass Pflüger die Gäste warten ließ, ist vergessen. „Das Land sollte von niemandem regiert werden, der diese Tugenden als Sekundärtugenden disqualifiziert, als Tugenden, mit denen man auch ein KZ führen könnte“, ruft Pflüger, mittlerweile seines Jackets entledigt, in Anspielung auf ein uraltes Oskar-Lafontaine-Zitat. Zum Schluss kommt er noch zu seinem Lieblingsthema: dem Weiterbetrieb des Flughafens Tempfelhof. „Ich danke Uli Junghanns, Sven Petke und Jörg Schönböhm, dass sie sagen, wir brauchen Tempelhof weiterhin“, ruft er. „ Tempelhof gefährdet Schönefeld nicht. Das steht weder im Grundgesetz noch in den zehn Geboten.“

Erschienen am 08.02.2008

„Wie früher!“

Montag, 14. Januar 2008

Jahrestag: Zehntausende gedachten in Berlin Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs

BERLIN Hilde Ketter ist vorbereitet. Dick angezogen und zusätzlich von einer Decke gewärmt, sitzt die 72-Jährige kurz nach 9 Uhr am Sonntagmorgen auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Frankfurter Allee, auf dem Schemel neben sich ein kleines Fernglas und eine Thermoskanne mit frischem Kaffee. Unter ihr, ein Stück die Allee hinab, sammeln sich etwa 50 linke Gruppen zum alljährlichen Gedenkmarsch anlässlich des Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Mit Trommeln, Trillerpfeifen und Parolen vertreiben sie die Kälte, allgegenwärtige Polizisten kontrollieren jeden Neuankömmling auf Waffen und Wurfgegenstände, und die Demonstrationsleitung erinnert per Megaphon an die Regeln: Keine Stahlkappenschuhe, schön zusammenbleiben und Transparente stets in Laufrichtung halten, nicht zur Seite. „Von mir aus kann’s losgehen“, sagt Frau Ketter, die bereits bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen ist und langsam ungeduldig wird. Die Kälte kriecht selbst unter die Decke.
Doch unten schert man sich nicht um die Wünsche der älteren Dame, die „aus Nostalgie“ jedes Jahr den Gedenkmarsch zu Ehren der 1919 von rechten Freikorps ermordeten Arbeiterführern beobachtet. Mit „den Sozen“ habe sie zwar „nichts am Hut“, sagt sie, doch „den Aufmarsch“ schaue sie gern an. „Auch wenn früher viel mehr los war“, fügt sie enttäuscht hinzu. Zu DDR-Zeiten organisierte Politbüro das Gedenken an „Karl und Rosa“, Hunderttausende zogen damals zur „Gedenkstätte der Sozialisten“ auf dem Friedhof Friedrichsfelde. An diesem Sonntag sind es immerhin 3400 Demonstranten, die sich in den Zug einreihen, der „mit kommunistischer Pünktlichkeit“, wie der Sprecher betont, um exakt 10 Uhr startet.
Zwei Punkte sind es, die den Umzug in diesem Jahr herausheben: Zum einen haben rechte Gruppen Krawall angedroht, weshalb die Demonstrationsleitung ein wenig nervös wirkt, zum anderen ist es 20 Jahre her, dass eine kleine Gruppe Dissidenten 1988 auf der Demonstration mit einem Rosa-Luxemburg-Plakat für Meinungsfreiheit warb: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ stand darauf, es war nur kurz zu sehen, bevor Sicherheitskräfte das unterbanden, sorgte aber für Wirbel in westdeutschen Medien. Beide Punkte spielen an diesem Sonntag jedoch keine große Rolle: Von Rechten ist weit und breit nichts zu sehen, wohl auch wegen der massiven Polizeipräsenz, und weil eine NPD–Gegendemonstration verboten wurde. Und an die Dissidenten erinnert niemand öffentlich. Die Linkspartei nimmt ohnehin nicht am Umzug der tendenziell sehr linken Gruppen teil, sondern beschränkt sich auf stilles Gedenken und eine Kranzniederlegung, an der unter anderem Parteivorsitzender Lothar Bisky, Fraktions chef Gregor Gysi und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau teilnahmen. Auch viele Nichtparteigänger kommen an diesem Tag zum Ehrenmal, die meisten mit einer roten Nelke in der Hand. Die Veranstaltungsleitung spricht von etwa 70 000 Besuchern.
Als der Demonstrationszug endlich unter ihrem Balkon vorbeikommt, hellt sich auch Hilde Ketters vor Kälte gerötetes Gesicht auf: Sie hat eine DDR- und eine FDJ-Fahne in der Menge ausgemacht. Als der Zug auch noch die „Internationale“ anstimmt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Wie früher!“ sagt sie.

Erschienen am 14.01.2008


%d Bloggern gefällt das: