Archiv für die Kategorie „Glosse“

Die Show geht weiter

Mittwoch, 26. August 2009

Das sind jetzt so Tage, in denen dem Journalisten die Menschen, mit denen er professionellen Umgang pflegt, seltsam leer, wie automatisiert, ja roboterhaft erscheinen. Er kommt sich manchmal vor, als sei er in einen dieser Filme geraten, in denen ein einziger Überlebender zwischen entseelten Marionetten herumstakst, seine Beunruhigung nimmt zu, steigert sich in Angst. Zum Glück ist das nur eine Phantasie, doch das Wissen darum mildert den Eindruck nur bedingt. Am Freitag beispielsweise, als gezeigt wurde, wie der Landtag in Potsdams Mitte aussehen wird, da vermutete der Journalist, die SPD werde es gut finden, die CDU gut mit Abstrichen, und die Bürgerinitiativen fürs Schloss seien trotz historischer Kubatur und Fassade nicht zufrieden. Und wirklich: „Wunderschön!“ sagte die SPD, „schön, aber noch Änderungen nötig“, sagte die CDU, „schrecklich“, „großkotzig“ und „wie ein Toaster“ sagten die Initiativen. Die Linke sagte noch etwas zum Thema ÖPP, und beim Verlassen des Alten Rathauses beschlich den Journalisten das dumpfe Gefühl, dass er das auch schon hätte niederschreiben können, bevor er die Frage stellte. Die unangenehme Idee, dass er mit seinen Fragen zur Verfestigung dieses Prinzips beiträgt, verdrängte er.
Sicher, es ist Wahlkampf, die Geschlossenheit wächst, Minderheitenmeinungen treten zurück, der Wähler könnte ja verschreckt sein, wenn eine Partei sich Menschen leistete, die die Vernunft über einzelne Punkte des Wahlprogramms stellen. Und sicher, was will man erwarten, wenn schon sämtliche Kandidaten das gleiche, freundlich-kompetente, Vertrauen stiftende „Kreuz-mich-an“-Lächeln von Plakaten senden, die sich im Kern nun nur noch durch die Farbwahl unterscheiden? Eben.
Nehmen wir die Meldung, Potsdam würden in den nächsten zwei Jahren je 13 Millionen Euro im Haushalt fehlen. Da war ein Aufschrei zu erwarten, und noch bevor der Journalist zum Hörer greifen konnte, trudelten die Aufschreie im Mailfach ein. „Alle Projekte auf den Prüfstand“, lautete erwartungsgemäß die zentrale Forderung. Kurz darauf tagte der Finanzausschuss, und wenn schnell eines klar war, dann das: Es sollen alle Projekt auf den Prüfstand – so lange sie von den anderen Fraktionen kommen. Die Ideen der eigenen Partei hingegen sind unkürzbar, unerlässlich, unausweichlich. Das sind so Augenblicke, in denen der Berichterstatter sich gern von seinem Beobachterposten erhöbe und einzelne Abgeordnete auf den Bauch herumdrehte, um zu schauen, ob sich in deren Rücken ein viereckiges Loch befinde, in das der Fraktionsvorsitzende vor der Sitzung einen Schlüssel gesteckt und ordentlich gedreht hat, auf dass dieses Programm auch vornahmegemäß die nächsten drei Stunden ablaufe. Oder im Nacken nach eine Klappe schaute, in die die Kassette mit dem immergleichen Ton geschoben wird. Es ist gut, dass er das nicht tut, der Journalist, denn es droht die Gefahr, dass er fündig würde. Dann allerdings bräche sein Welt- und Berufsbild zusammen. Deshalb schreibt er lieber eine Glosse und geht hernach in den Bauauschuss. The show must go on!

Erschienen am 26.08.2009

„Prachtkind“ und „’n reinet Jewissn“

Montag, 24. August 2009

Eine Telefonkonferenz von Hasso Plattner mit Rainer Speer offenbarte eklatante Stilunterschiede

Es dauerte 40 Minuten, das Gespräch, dass Finanzminister Rainer Speer (SPD) am Mittwoch mit Hasso Plattner führte. Speer wollte das Okay von Plattner zur Vergabeentscheidung für den Landtagsneubau. Als Schenker von 20 Millionen Euro für die historisch korrekte Fassade hatte Plattner ein Wörtchen mitzureden. Die auf achteinhalb Minuten verdichtete Version, die am Freitag die Presse zu sehen bekam – und die im Internet für jedermann abrufbar steht – zeigt aber nicht nur, dass Plattner in dieser Videokonferenz von Potsdam nach Palo Alto in Kalifornien seinen Segen zur Entscheidung gab, sondern auch eklatante Stilunterschiede: Plattner sitzt um 7 Uhr Ortszeit taufrisch wirkend in einem modernen Konferenzraum und plaudert locker über den Entwurf, Speer hockt etwas geduckt vor der Kamera und wirkt ein wenig wie der Schuljunge, der zur Tafel zitiert wurde. „Morgen Herr Minister, ist es ein Prachtkind geworden?“, fragt Plattner generös und betont, er sei froh, damals „den Anruf gemacht“ zu haben. Speer sieht dank erhöhter Kameraperspektive aus, als kniete er vor dem Tisch, hinter ihm eine Ledercouch mit Karokissen. Er berlinert, was das Mikro hergibt.
Großzügig betont Plattner nun, dass trotzdem nicht die ganze Innenstadt in Barock aufgebaut werden müsse, als sei das allein seine Entscheidung, und lobt das „wunderschöne Potsdam“. Speer hingegen will vor allem Absolution. „Wir ham beede noch’n Vertrach mitnanda“, sagt er nach einer Weile. „Ick hab’ ’n reinet Jewissen. Den hab’ ich erfüllt“, grummelt er ins Mikro. „Das kann ich voll bestätigen“, entgegnet Plattner, der sich, vom Minister angesteckt, selbst ertappt, wie er „das Ding“ zu dem Schloss sagt, sich aber noch schnell korrigiert. „Jruß darüber“, endet Speer. Er hätte auch „Tschüssikowski“ oder „Rinnjehauen“ sagen können, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Plattner indes lässt beste Wünsche an den Ministerpräsidenten bestellen.

Erschienen am 24.08.2009

Was bleibt: Eine Keks-Phantasie

Mittwoch, 5. August 2009

Jetzt, wo ihr Nachfolger in den Startlöchern steht, bereits erste Veranstaltungen besucht und Projekte begutachtet, können wir es ja sagen: Am Ende ist sie nicht am Battis-Bericht oder an schlechter Kommunikation gescheitert, die Baubeigeordnete Elke von Kuick-Frenz. Sondern an der Geschichte mit den Keksen.
Aus baulicher Sicht sind diese Kekse eine ganz simple Angelegenheit: Trocken-bröseliger grundhafter Aufbau, Vollmilch-Deckschicht und – als fassadäres Highlight – eine Applikation aus weißer Schokolade in Form eines Turmes. Poetisch veranlagte Naturen wären da schon hellhörig geworden: Der Turm, ein Solitär, wehrhaft, aber sehr einsam. Doch Journalisten sind nicht poetisch veranlagt. Wären sie es, säßen sie im Feuiletton und nicht bei der Baubeigeordneten. Der in Rede stehende Keks jedenfalls gehört zu einer Kekssammlung, wie es ihrer tausende gibt. Der durchschnittliche Journalist wird wöchentlich im Schnitt 3,72 Mal mit solchen Keksen konfrontiert, die meist als launiges Beiwerk zu nur mäßig genießbarem Filterkaffee bei Presseeinladungen am späten Vormittag daherkommen. Ist nicht zufällig noch ein stets hungriger Fotograf im Raum, bleiben sie meist unangetastet, die Kekse.
Nicht so in Zimmer 1.023 des Stadthauses, wenn die Beigeordnete Neuigkeiten für die Presse vorhielt. Sie griff bei den Turmkeksen stets beherzt zu – als Gastgeberin ihr gutes Recht. Was die Sache nicht unerheblich komplizierte, ist, dass es derer je Packung nur zwei gibt – der Kekse, nicht der Beigeordneten. Und: Sie betonte stets launig und lauthals, dass diesen Keksen ihr unumstößliches Interesse gälte. Hätte sie wortlos gekrümelt, die Geschichte wäre wohl anders verlaufen. Zunächst ließen die Reporter die Beigeordnete gewähren, denn sie haben ein prinzipielles Misstrauen, wenn sie auf Terminen gefüttert werden sollen. Doch dann berichteten sie in der Redaktion von der Vorliebe der Beigeordneten, und die Dinge nahmen einen dramatischen Lauf. Redaktionsleiter nämlich, die Natur und die Berufssoziologie wollen es so, sind per Definition Alphatiere – beim nächsten Termin in 1.023 folglich harrten der Beigeordneten keinerlei Turm-Kekse mehr, stattdessen aber zwei vollgekrümelte Lokalchefs mit diabolischem Grinsen. Der Brunnen war augenblicklich vergiftet, der Fehdehandschuh geworfen, das Kriegsbeil exhumiert. Doch man wird nicht Beigeordnete im nur mit paramilitärischen Methoden zu überlebenden Bauressort Potsdams, wenn man sich nicht zu wehren weiß: Beim nächsten Termin erschien Kuick-Frenz deutlich früher, um Vorräte sicherzustellen. Die Journaille ihrerseits schlug zurück, in dem sie eine Vorhut aus niederen Chargen – Volontäre, freie Mitarbeiter – zur Keksreservierung entsandte. Die sich auf beiden Seiten unvermeidlich einstellenden Keksverluste wurden durch böse Zeitungskommentare auf der einen und zurückgehaltene Informationen auf der anderen Seite kompensiert. Eine normale, kritisch-würdigende Zusammenarbeit erwies sich fürderhin als unmöglich. Das Klima war vergiftet, das Gebäck auch, und so bröselte der Keks – man ging sich gehörig auf denselben. Am Ende, man muss es sagen, hatte die Beigeordnete keine Chance mehr gegen die geballte veröffentlichte Meinung. Der weiße Turm war befleckt, die Wiederwahl unmöglich. Und der einzige Hunger, der blieb, war der nach Vergeltung.

Erschienen am 05.08.2009

Untilgbares Jucken

Samstag, 25. Juli 2009

Jan Bosschaart über die stupende Bescheidenheit und Selbstlosigkeit der Politik

Es heißt, wer einen Selbstlosen kratzt, sieht einen Heuchler bluten. Das klingt ein wenig zynisch, zugegeben, passt aber erschreckend gut zum Landtags- und Bundestagswahlkampf, der in vollem Gange ist. Politiker zeichnen sich in dieser krisenhaften Phase ihrer Vita durch besondere Dünnhäutigkeit aus, Journalisten durch ein besonderes Jucken in den Fingern. Damit folgen beide Seiten lediglich professionellen Instinkten, und es wäre demnach müßig, das eine für schlecht und das andere für gut zu erklären. Was das Jucken aber so unerträglich macht, ist die unglaublich sendungsbewusste Allgegenwart der Damen und Herren Kandidaten, die – schon im Alltag schwer erträglich – in Wahlkampfzeiten die Ausmaße von Intimitätsterror erreichen können. Da werden jahrelang ignorierte Journalisten plötzlich lächelnd als „Liebe Frau Y.“ in den als Umarmung verbrämten Würgegriff genommen, jeder Besuch im Altersheim zum Must-Have-Pressetermin stilisiert und müde Internetauftritte durch Hinzuklöppeln vermeintlich cooler Jugendseiten als letzter Schrei beworben. Das alles als Heuchelei zu brandmarken, ginge natürlich völlig an der Sache vorbei. Vielmehr handelt es sich ausnahmslos um selbstlosen Einsatz fürs Gemeinwohl ohne jedwedes machtpolitische Kalkül. Komisch nur, dass dieses fiese Prickeln in den Fingerspitzen trotz dieser, mit treuherzigem Augenaufschlag vorgetragenen Behauptung, partout nicht weichen mag.

Erschienen am 25.07.2009

Was bleibt: Vielen Dank, für die Sperren!

Donnerstag, 9. Juli 2009

Konjunkturpakete sind eine feine Sache. Doch es muss nicht immer nur der Staat sein, der hilft. Immer häufiger greifen auch Privatleute der darbenden Konjunktur beherzt unters Schultergelenk, manchmal sogar gegen deren Willen. Und es kann so einfach sein; der persönliche Einsatz ist dabei denkbar gering: Ein rostiger Zaun, ein „Betreten Verboten!“-Schild aus dem Baumarkt und ein verdammt dickes Fell genügen zurzeit völlig. Gut, ein Wassergrundstück nebst darüberlaufendem Weg gehört noch dazu, befindet sich bei unseren Konjunkturfreunden aber ohnehin im Bestand. Erster Profiteur ist in der Regel dann die juristische Branche, denn Uferwegstreits, das zeigt die Erfahrung, landen stets vor Gericht – mehrfach und vor fast allen Instanzen. Dazu braucht jede Seite einen Anwalt. Christoph Partsch etwa, der einen Großteil der Griebnitzsee-Anrainer vertritt und nun offenbar auch die Mandate von zwei Sperrern am Glienicker See bekam, sei der Einfachheit halber folgender Slogan empfohlen: „Sie haben ein Grundstück am Wasser? Rufen Sie an! Wir schaffen jeden Uferweg ab, entfernen lästige Spaziergänger von Ihrem Grün und zeigen den Behörden, wie ernst die Justiz es mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums meint“. Profiteur Nummer zwei ist die Immobilienbranche. Es war bis vor kurzem – leider müssen wir hier zum Präteritum greifen – noch eine grandiose Idee, ein auch nur handtuchgroßes Stück Land in Spuckweite zum Griebnitzsee-Uferweg zu erwerben, denn nach einem Gutachten hat sich der Wert jeder Parzelle durch die höchstrichterliche Entfernung des Pöbels aus der Sichtachse Kaffeetasse-Bootssteg mit einer schlichten Verzwanzigfachung aufs Vermögen niedergeschlagen. Für alle, die das Prada-Handy mit integriertem Renditerechner nicht schnell genug zur Hand haben: Der schmale Gegenwert eines besseren Familienvans genügte also, um aus dem Eigner einen Millionär zu machen. Wen wundert’s da, dass die Kriegskassen der Anrainer gut gefüllt sind. Zugegeben, ein bisschen haben gar die Medien profitiert, denn die Erwähnung des Wortes „Griebnitzsee“ in und um Potsdam garantiert in letzter Zeit Leserinteresse, Klickraten und Einschaltquoten – sofern man es denn nicht zu plump versucht und unter der Überschrift „Hundebiss am Griebnitzsee“ eine Meldung verkauft, die von einem Berliner handelt, der „in Sichtweite der Potsdamer Stadtgrenze nahe des Griebnitzsees“ wohnt, wie es ein Mitbewerber dieser Tage tat. Rechnen wir nun noch den Umsatz mit Protestschildern und -plakaten hinzu sowie Sonderschichten in der Stadtverwaltung, bleibt eigentlich nur ein Fazit, das uns zugegebenermaßen aber etwas stockend über die Lippen rinnt: „Danke, liebe Sperrer. Ihr seid wirklich am Gemeinwohl in der Krise interessiert.“

Erschienen am 09.07.2009

Was bleibt: Danke, wir melden uns!

Mittwoch, 1. Juli 2009

An den normalen bis schlechten Tagen – das Sommerloch sei hier nur als Stichwort eingeworfen – geben Pressetermine zurzeit nicht viel her. Fast scheint es, als drücke die feuchte Schwüle auch auf die Nachrichtenlage. Da buddeln dann Landtagspräsidenten auf Baustellenbesichtigungen lustlos eine noch kurz vor Eintreffen der Pressemeute verscharrte Weinkiste mit zwei Spatenstichen wieder aus, alles lächelt milde über diese irgendwie voll lustige Idee und über das Etikett, auf dem der Finanzminister „Tyrannenblut“ entziffert, und selbst die gründliche Verkostung desselben – des Tyrannenbluts, nicht des Ministers – bei 30Grad und 85 Prozent Luftfeuchte vermag den Vormittag nicht zu retten. Doch dann wiederum gibt es jene seltenen guten, nein: richtig guten Tage, an denen schon die Terminmappe selbst ein Ereignis ist. Da sorgt die Ankündigung, die neue Kulturbeigeordnete werde als eine ihrer ersten Amtshandlungen einer Premiere im T-Werk beiwohnen, dessen Titel nach Auffassung vieler eigentlich ins Antwortschreiben auf ihre Bewerbung gehört hätte, für ressort- und medienübergreifende Erheiterung: „Danke, wir melden uns …“ Jugendliche, so verrät der Begleittext, setzen sich in diesem Stück mit der Selbstvermarktung in der heutigen Gesellschaft auseinander. Absichtliche Selbstironie ist ja eine Tugend; wie zufällige Ironie, in erheiternde Termine gegossen, zu bewerten ist, steht noch dahin. Die Terminmappe interessiert das wenig. Sie lädt indes für Freitag zum Fußballturnier der Jugendsparte des Lionsclub, dem „Leo-Cup“. Der Finanzminister ist angekündigt, unter einer Eckfahne oder dem Mittelkreis dürfen also Weinflaschen vermutet werden, ebenso im Blut jenes Texters, der für das „Event“ das Motto „Rock den Rasen – o-Leo-le!“ ausrief. „Ojeoje“ läge phonetisch und inhaltlich näher, doch auch damit nicht genug des üblen Spiels, den Wahnsinn – das ist jetzt ein Zitat! – krönt die Kochschule „Rock the kitchen“, die am Freitag die Potsdamer zum Kochen bringen will – auch das ein Zitat. Zusammen mit „Ihnen als eine Einheit“ wollen dort Galaköche „ein Erlebnis schaffen“. „Bei (sic!) einer Mischung zwischen Wahnsinn, Perfektion und einer Prise rockigem Flair (sic!)“ dürfen Teilnehmer „ihren Sinnen freien Lauf lassen“. Da müssten sich also auch Kulturbeigeordnete und Finanzminister heimisch fühlen. Nachdem es sich um ein „Kick-Off-Event“ handelt, könnte eigentlich auch der o-Leo-le-Cup gleich in der Küche stattfinden. Warm und feucht und im Zweifel auch (be-)drückend ist es dort ja ohnehin, und eine Weinflasche unter den Fliesen zu verbergen, sollte die rockigen Organisatoren nun wirklich nicht überfordern.

Erschienen am 01.07.2009

Aktionsfreie Alkoholwoche

Samstag, 27. Juni 2009

Jan Bosschaart über Worte, die kaschieren sollen und dabei viel mehr verraten

Es bedarf keiner fundierten psychoanalytischen Ausbildung, um zu wissen, dass Versprecher verräterisch sind. Das Enttarnungspotenzial des gemeinen Zungenausrutschers ist total: Einmal verquasselt, und der Sprecher steht quasi nackt vor dem Publikum. Herausreden verschlimmbessert nur. Bleiben zwei erprobte Gegenmittel: Gepflegte Selbstironie, kombiniert mit dem Eingeständnis des ohnehin offensichtlich Gewordenen, oder weiterreden als sei nichts geschehen. Letzteres empfiehlt sich vor allem Zeitgenossen, denen die Selbstironie als soziales Werkzeug nicht zur Verfügung steht. Doch vor dem Einsatz dieses nur zweitbesten Mittels ist peinlich genau zu prüfen, dass niemand im Raum sitzt, der genau hinhört. Das mag für die Teambesprechung oder das Business-Meeting gelten, ist aber bei Pressekonferenzen ein seltenes Phänomen. Und so fanden folgende goldene Sätze auf der Aktionswoche gegen Alkohol den Weg in Journalisten-Blöcke: „Herzlich Willkommen zur Aktionswoche ,Alkohol ohne Grenzen’“ (der wahre Titel lautete: ,Kenn Dein Limit’) und „Hiermit eröffne ich die aktionsfreie Alkoholwoche.“ Entzug kann so schmerzhaft sein!

Erschienen am 30.06.2009

Hinreizend

Freitag, 22. Mai 2009

Jan Bosschaart glossiert den fast schon poetisch geführten Kampf ums Haus des Reisens

Dass das Haus des Reisens in ein Haus des Abreißens gewandelt wird, ist nun gewiss. Dass es um den Abriss einen Aufriss gibt, war zu erwarten. Dass die mehrgeschossige Argumentation so durch die Decke geht, nimmt dann aber doch Wunder. Zu fast schon poetischen Ausführungen hat sich die „Andere“ in einer Erklärung hinreißen lassen: Um dem zu folgen und das Haus des Reisens als „Erholung fürs Auge“ und als „interessanten Ruhepunkt im Umfeld eintöniger Barockfassaden“ zu begreifen, müsste einem aber schon ein Abrissstein auf den Kopf fallen. Nimmt man diese Denkweise jedoch ernst, bietet sich optische Befriedung an vielerlei Stellen an. Das von postmoderner Grafitti-Hochkultur und Rost geprägte FHP-Gebäude wäre nach behutsamer Umbettung geeignet, das Auge von all dem eintönigen Barock in Sanssouci zu entlasten – und von den grauenhaften Sichtachsen. Das Belvedere verlöre viel von seiner anstrengenden Filigranität, nutzte man es als Randbebauung des umgelagerten, in seiner Klarheit innerlich reinigenden Mercure-Hotels weiter. Und Touristengruppen sollten nicht durchs kreuzlangweilige Holländische Viertel, sondern in den Schlaatz: Nur hier lässt sich der „Geist des Optimismus und der Zukunftsgewandtheit“, der die „Andere“ am Haus des Reisens reizt, ohne barocken Zierrat erleben.

Erschienen am 22.05.2009

Publikumsjoker

Samstag, 25. April 2009

Jan Bosschaart über einen dringend nötigen Wechsel der Strategie am Griebnitzsee

Da hieß es immer, die Enteignungsdrohung sei die ultimative Waffe der Stadt in Sachen Griebnitzseeuferweg. Papperlapapp! Die ultimative Drohung ist ein neuer Uferweg auf – möglichst hohen! – Stelzen vor den nun gesperrten Grundstücken, wie ihn jetzt die SPD ganz perfide ins Gespräch gebracht hat. Herrlich, wie es sich da hoch über den Wassern aufs gemeine Millionärsvolk herunterschauen, ihm in die mahagonimöblierten Schlafzimmer linsen und in den Kopi Luwak spucken ließe. Man kennt das Prinzip aus Zoos, wo Hängebrücken über die Krokodilwelt führen, oder aus dem Dschungelcamp, wo die lästerlichsten Kommentare aus der Höhe des Sozialneids auf die nichts ahnenden Protagonisten platschen. Sollte sich das als Erfolg erweisen – und dazu ist die Idee geradezu verdammt – ließe sich das am Heiligen See nahtlos fortsetzen. Wir haben schon, voller Vorfreude, den Ruf aus luftiger Höhe über dem Jauchschen Grundstück im Ohr: „Huhu Günther, kuck mal hoch, hier ist dein Publikumsjoker!“

Erschienen am 25.04.2009

Verpflastert

Samstag, 24. Januar 2009

Jan Bosschaart über unklare Fronten, entnervte Sanierer und lustige Workshops

Potsdam ist nicht nur ein schwieriges Pflaster, es hat auch welches. Während Radler in den Natursteinen ein gebisszerrüttendes Hindernis sehen, die Stadt angesichts des Pflegeaufwands am liebsten eine geschlossene Asphaltdecke über Babelsberg legte und Rettungswagenfahrer von einem potenziell lebensverkürzenden Faktor sprechen, überraschten Anlieger der Jahn-, Watt- und Siemensstraße in den letzten Jahren mit einem vehementen Kampf für die alten Steine. Die Stadt beugte sich dem Protest, doch wer glaubte, die Fronten seien damit definiert, irrte: In der Neuen Straße scheint niemand vom Pflaster begeistert. Das Stadtkontor als zuständiger Sanierer hat die Prognose des Bürgerwillens daher eingestellt und wartet mittlerweile einfach ab, welche Initiativen sich so bilden. Der Bauausschuss hingegen geht in die Offensive und veranstaltet für 14 000 Euro einen lustigen Pflasterworkshop, in dem alle Argumente nochmal ausgebuddelt, geprüft und danach wohl wieder vergraben werden. Auf der Tagesordnung steht etwa „Natursteinpflaster im Konflikt zwischen Geschichtszeugnis und Gebrauchsgegenstand“, und als Vorablektüre ward den Abgeordneten das Standardwerk „Die Kunst des Pflasterns“ anempfohlen. Dass dabei ein Trostpflaster für Pflasterskeptiker herausspringt, ist unwahrscheinlich.

Erschienen am 24.01.2009


%d Bloggern gefällt das: