Lebensmut aus dem Arztkoffer
Eine Berliner Ärztin betreut seit mehr als 15 Jahren Obdachlose – oft auf eigene Kosten
Einige Kollegen nennen sie Nestbeschmutzerin, doch Barbara Weichler-Wolfgramm lässt sich davon auch nach der Pensionierung nicht bremsen.
BERLIN Wenn es gar nicht mehr geht, fängt Barbara Weichler-Wolfgramm an zu schreiben. Über die Fälle, die sie zu sehr mitnehmen, wie den Punk, der einen Schlaganfall erlitt. Mit 21 Jahren – wegen Drogen und wegen Alkohols. Die Ärztin brachte ihn in eine Therapie, und als er nach einiger Zeit wieder gehen und sprechen konnte, war er im Nu wieder auf der Straße, trank wieder, nahm wieder Drogen. „Das war sein Leben, und die anderen dort waren seine Familie“, sagt sie resigniert. Gut 20 Geschichten sind zusammengekommen, in ihrem „Totenbuch“. Irgendwann will sie ein richtiges Buch daraus machen, es veröffentlichen, aber das wird noch Jahre dauern. Bisher fühlt sich Barbara Weichler-Wolfgramm nicht einmal in der Lage, die Geschichten auch nur erneut zu lesen.
Unlängst hat sie das Bundesverdienstkreuz bekommen – weil sie sich seit gut 15 Jahren ehrenamtlich um Obdachlose, Punks und Straßenkinder in Berlin kümmert, sie untersucht und versorgt.
Es begann 1992: Barbara Weichler-Wolfgramm hatte die Vertretungsarbeit satt, und in einer Praxisbeteiligung am Kurfürstendamm fühlte sie sich nicht gebraucht. Sie wollte die gesellschaftliche Veränderung im Osten hautnah miterleben, also ließ sie sich im Friedrichshain nieder. Viele Patienten kamen aus der Hausbesetzerszene, die meisten stammten aus Osteuropa und waren illegal in Deutschland. Schnell sprach sich herum, dass da eine Ärztin ist, die kostenlos behandelt und niemanden meldet. Wegen dieses Rufs fragte die Caritas, ob sie im Arztbus Obdachlose versorgen wolle. Sie wollte – zweimal pro Woche fuhr Weichler-Wolfgramm mit. Und weil auch das noch nicht genügte, ging sie mit ihrem Arztkoffer zu den Punks – auf den Alexanderplatz oder wo immer sie gerade gebraucht wurde. In der Berliner Stadtmission baute die Ärztin seit 1996 auch noch die Krankenstation auf. „Das waren harte Jahre“, sagt sie heute, „aber auch sehr schöne“.
Mittlerweile ist Weichler-Wolfgramm in Rente. Zumindest formal, denn viele Patienten verarztet sie immer noch, auch in der Krankenstation ist sie mindestens zweimal pro Woche, obwohl sie dafür von ihrem neuen Wohnort Halle anreisen muss. Frei von äußeren Zwängen Medizin machen zu können, ohne das „Damoklesschwert des Punktsystems und der Abrechnungen“ über sich zu spüren, sei ein riesiger Luxus, betont sie.
Die Probleme ihrer Klientel sind stets die gleichen: Verdauungs- und Stoffwechselstörungen durch Alkohol und Drogensucht, Lungenkrankheiten und Bronchitis von der Kälte im Winter, Hautkrankheiten wie Krätze sowie Läuse und Flöhe wegen mangelnder Hygiene. Und es ist eine störrische, eigenwillige Kundschaft, die nicht selten Probleme mit Autorität hat. Für Weichler-Wolfgramm ist das kein Problem. Sie lässt sich von allen duzen, wird aber auch mal laut, wenn nötig. Das kommt nicht immer gut an, wovon einige derbe Verwünschungen auf ihrer Tür in der Krankenstation zeugen, doch ihre Patienten vertrauen ihr und schätzen die Begegnung auf Augenhöhe. Viele kommen wieder.
Vielleicht weil sie spüren, dass auch die Ärztin keine Freundin von Autoritäten ist – ganz besonders, wenn Autoritäten ihrem Engagement Steine in den Weg legen. Als die Caritas die Haltestellen des Obdachlosenbusses zu sehr einschränkte, nahm Weichler-Wolfgramm ihren Hut. Dass einige Bezirksämter sich noch immer weigern, die Kosten für Behandlungen von Obdachlosen zu übernehmen, macht sie wütend. Punks hingegen bewundert sie für ihre Freiheit und schätzt deren klare Kommunikation: „Wenn die mies drauf sind, lassen sie es dich spüren.“ Gegenüber den Alternativen – „dem Gefängnis Hartz IV und dem Gefängnis der Vereinsamung“ – empfindet Weichler-Wolfgramm Punks und Obdachlose geradezu als frei. Doch sie neigt nicht zur sozialromantischen Verklärung: „Obdachlosigkeit in Deutschland und speziell in Berlin ist eine selbstgewählte Härte. Es gibt Angebote en masse, die Versorgung ist sehr gut.“
1946 geboren, wächst Barbara Weichler-Wolfgramm in Hamburg auf, später in Berlin. Nach dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg studiert sie zunächst „aus Verlegenheit“ Soziologie, weil der Numerus Clausus für Medizin sie in die Warteschleife drängt. Doch was sie anpackt, bringt sie nach Möglichkeit auch zu Ende, und so ist Weichler-Wolfgramm Diplom-Soziologin, bevor sie sich für Medizin einschreibt. Die Sichtweise, die durch das Erststudium geprägt wurde, habe ihr später sehr geholfen, sagt sie, auch wenn sich die Arbeit mit Obdachlosen, in die sie nach eigenem Bekunden „so reinschlitterte“, da noch längst nicht abzeichnete.
85 Euro kostet ein Tag in der Krankenstation der Stadtmission, und das sind nur die Kosten der Unterbringung. Die medizinische Versorgung finanziert Barbara Weichler-Wolfgramm aus eigener Tasche. Wenn es gelingt, die Patienten zu versichern, kann sie sich das Geld von der Krankenkasse zurückholen. Was auf diese Weise hereinkommt, decke lediglich ihre Kosten, sagt sie. Viel bedrohlicher aber erscheint ihr die „überbordende Bürokratie im Gesundheitswesen und die Gefahr, dass der Patient an letzter Stelle landet“.
Am Schlimmsten sei es, wenn ein Patient noch medizinischer Hilfe bedarf, aber auf die Straße gesetzt wird, weil die Kosten nicht geklärt sind. Das gebe es auch in der Stadtmission. Dann würde Weichler-Wolfgramm sich am liebsten wieder ihren Arztkoffer schnappen und auf die Straße rausgehen.
Gegen dieses Denken nützt auch ihr Bundesverdienstkreuz wenig. Sie hat lange überlegt, es anzunehmen. Dass es ihr von der Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner von der Linkspartei überreicht werden sollte, hat sie schließlich überzeugt – und der Umstand, dass sie damit jene Ärztekollegen ärgern konnte, die eine kostenlose Behandlung von Obdachlosen als Nestbeschmutzung bezeichnen.
Wenn unter ihrer Behandlung jemand neuen Lebensmut schöpft, wenn er mehr auf sich achtet, ist das Weichler-Wolfgramms größter Erfolg. Der Regelfall ist das nicht. „Wenn jemandem völlig egal ist, was er seinem Körper antut, steckt dahinter immer eine tiefe Depression“, sagt Barbara Weichler-Wolfgramm über die seelischen Härten ihrer Arbeit. Diese Depression macht mitunter auch vor ihr selbst nicht halt. „Manchmal ist es bitter, nicht helfen zu können.“ Gegen diese Bitterkeit rennt sie mit ihrem Arztkoffer an – jeden Tag aufs Neue.
Erschienen am 07.03.2008