Von schottischen Schafen lernen …

Wenn Sie heute in Potsdam im Stau stehen – und glauben Sie mir, das werden Sie – und das nanometerweise Vorankommen an Ihrem ebenso starken Geduldsfaden zerrt, dann nutzen Sie die seit Hunderten von Jahren erprobte Methode des schottischen Hochlandschafs: Schottische Hochlandschafe haben einfach beschlossen, zu vergessen, dass sie Herden- und Fluchttiere sind und lümmeln auf den schmalen schottischen Hochlandstraßen, die stets zehn Zentimeter enger sind als jedes denkbare Auto. Am Rand lauert entweder massiver Fels oder ein Abgrund. Doch das schottische Schaf lässt sich davon nicht beirren. Es wirft dem Vehikel einen gleichgültigen Blick zu und mümmelt weiter. Oder es schläft weiter. Manchmal auch beides, nacheinander. Da hilft kein Heranfahren, da hilft kein Hupen. Wer’s gar nicht mehr erträgt, muss eben aussteigen, und das Schaf von Hand von der Straße tragen, was ihm bestenfalls ein vorwurfsvolles „Mähhh“ und schlimmstenfalls einen Auftrag an die Reinigung einbringt. Auch die schottischen Hochlandrinder haben bereits vom schottischen Schaf gelernt, sind aber deutlich schwerer von der Straße zu tragen. Da dies vermutlich auch für den gerade vor Ihnen Parkenden gilt, entfällt demnach diese Methode. Also beißen sie von irgendwas ab – notfalls ins Lenkrad – und mümmeln sie ab dann gemütlich.
Autos kommen und gehen, Staus kommen und gehen.
Das Hebridenschaf bleibt.

„Ich sag, der Türke war’s“

Oder: Wie viele McDonalds-Mitarbeiter es braucht, eine Energiesparlampe zu wechseln

Samstag Abend, Berlin. Schwach besetzte McDonalds-Filiale. Über dem Eingang flackert eine Lampe. Hinter dem Tresen stehen zwei Mitarbeiter männlichen Geschlechts, einer eindeutig mit Migrationshintergrund. Faszinierend beobachten sie mangels Kundschaft das An und Aus der Lampe. Der türkische Mitarbeiter, nach Uniform und Schild Schichtleiter, übernimmt schließlich Initiative und Verantwortung. Er fordert den Kollegen auf, einen Hocker zu holen. Das dauert nur wenige Minuten, dann stellt der Kollege für den Schichtleiter den Hocker (der sich, streng genommen, als eine kleine Trittleiter materialisiert) unter die Lampe, die sich trotz beharrlichen Anstarrens durch den Schichtleiter noch immer nicht zwischen An und Aus entschieden hat. Er steigt nun auf den Hocker, streckt sich und merkt, das sein Arm gerade so an die Abdeckung reicht. Da das jeder sieht, zwingt ihn sein Stolz zu einem waghalsigen Manöver. Er bittet nicht etwa den deutlich größeren deutschen Kollegen auf den Hocker – der steht offenen Mundes – sondern überstreckt sich, und berührt so die Abdeckung gerade mit den Fingerspitzen. Diese quittiert den Eingriff mit schepperndem Herunterfallen. Beim Überstrecken legt der Schichtleiter ein weiteres waghalsiges Manöver, diesmal rhetorischer Natur hin, den seine Lippen formen den unsterblichen Satz: „Ich würde mich ja länger machen, aber dann kannst Du Honk ja meine Waffe sehen“. (Für nicht Dabeigewesene: Er hatte offenbar Sorge, dass sein Bauch aus der Hose rutscht – das war bereits eingetreten –, und zwar soweit, dass Teile des Genitaltrakts freigelegt würden.)

Der Kollege lacht pflichtschuldig, aber nicht überzeugen. Der Schichtleiter hat indes nun die perfekte Ausrede gefunden, den Hocker zu verlassen. Er ist nicht zu klein, sondern hat Sorgen, seinen Kollegen Minderwertigkeitskomplexe oder gar unerfüllbare Begierden aufzubürden, falls sie seiner gewaltigen Fortpflanzungsausstattung ansichtig würden. Außerdem hat ihn das ewige Schauen in die nach wie vor unbeeindruckt an- und ausgehende Energiesparlampe, die zudem ihres mattierten Schutzes beraubt ist, geblendet. Also darf der größere Kollege dran. Der klagt zunächst auch über Blendung, kommt aber gerade so an die Lampe, greift sie allerdings nicht am Sockel, sondern am Glas. Das hat zwei völlig unvorhersehbare Auswirkungen: Er verbrennt sich und schreit auf. Der Schichtleiter grübelt einen Moment angestrengt und bringt dann eine unschlagbaren Idee ein: Ein Lappen muss her. Selbstverständlich kann er als Schichtleiter den Posten unmöglich verlassen, also muss der Kollege von der Trittleiter herunter und den Lappen selbst holen. Die Zeit nutzt der Schichtleiter, ein gelbes „Vorsicht, rutschig“-Warnschild vor die Trittleiter zu platzieren. Es ist zwar nicht rutschig, aber irgendwie sollten die nicht existenten Kunden ja gewarnt sein, dass hier eine Gefahrenstelle vorliegt, die schon einen Kollegen verletzt hat.

Der Verletzte kommt derweil mit zweierlei zurück: verpflasterten Fingern und dem Lappen. Er steigt nun auf die Trittleiter, und fasst die Lampe durch den Lappen an. Leider nicht am Sockel – der wäre ja kalt gewesen –, sondern erneut am Glas, so dass er sie abbricht und ein bisschen Quecksilberdampf in die Küche weht. Dank des Lappens verbrennt er sich zumindest nicht. Aber er schneidet sich an den Scherben. „Wenigstens ist sie aus“, sagt der Schichtleiter, sein mediterran-optimistisches Naturell unter Beweis stellend. Jetzt werden zwei Kolleginnen gerufen: Eine, um die Scherben aufzufegen, eine weitere, um mehr Pflaster zu bringen. Das dauert weitere fünf Minuten, der Schichtleiter tauscht derweil den Tritthocker gegen eine Stehleiter aus, die so hoch ist, dass sie nicht unter die Decke passt. Mit leichtem Schrägstellen gelingt es, er muss sie nun aber durch Besteigen der untersten Stufe austarieren. Die verpflasternde und die scherbenfegende Kollegin haben ihre Aufgaben erfüllt, bleiben aber sicherheitshalber – und weil’s lustig zu sein scheint – noch am Ort des Geschehens.

Der nun vierfach verpflasterte Kollege erklimmt unsicheren Schritts die schwankende Leiter, die sein Schichtleiter dank höheren Körpergewichts immerhin stabilisieren kann. „Wenn ditt ma nich schiefjeht und der noch runtasaust“, sagt die Kollegin mit den Scherben auf der Kehrschaufel. „Ich sag dann einfach, der Türke war’s“, witzelt der Kollege auf der Leiter, dem es mittlerweile tatsächlich gelang, den Sockel der Lampe ohne weitere Verbrennungen, Schnittwunden oder Quecksilberwolken herauszuziehen. „Jetzt die neue“, sagt er, und sein Knie zittert etwas – ob der Höhe oder mangels Vertrauens in das Gegengewicht des Schichtleiters, muss unklar bleiben. „Ach Du kacke, wo sind denn neue?“ fragt dieser. Die Pflasterkollegin mutmaßt, dass Katrin das wissen müsse. Katrin ist im Moment die einzige noch arbeitende Kollegin und bedient gerade jemanden am McDrive-Fenster. Also warten. Sobald Katrin frei ist, weiß sie es tatsächlich, kann aber gerade nicht ins Lager, weil ein neuer Kunde anrollt. Die Kollegin mit den Scherben bietet sich an, ins Lager zu gehen und diese dort auch gleich zu entsorgen. „Einer muss hierbleiben, falls Kunden kommen“, entscheidet der Schichtleiter, „ich kann hier ja nicht weg und er“ – er meint den immer stärker zitternden Kollegen am oberen Ende – „auch nicht“. „Ich bin ja noch da“, bringt sich die Pflasterkollegin in Erinnerung. Der Schichtleiter denkt kurz nach. „Das müsste gehen“, entscheidet er schließlich, ganz Schichtleiter. So wird es gemacht. Fünf Minuten später kommt die Kollegin aus dem Lager mit einer herkömmlichen Glühbirne zurück, die mit ihrem Gewinde nicht in den Stecksockel der Energiesparleuchte passt. Das merken die Herren aber erst nach einigen Versuchen, das runde Gewinde in den quadratischen Sockel zu drehen. Also muss die Kollegin erneut ins Lager.

Inzwischen kommen Kunden, ein Pärchen. „Habt ihr schon zu?“ fragt der Mann, weil das gelbe Anti-Rutsch-Schild, die wankende Aluleiter und der Tritthocker eine unüberwindliche Barriere bilden. „Nee, ist offen“, sagt der Schichtleiter, „ihr müsst nur außen rum gehen, durchs ganze Lokal“. „He“, ruft der Kollege von oben zaghaft, denn der Schichtleiter hat sich zur Beantwortung der Frage etwas zu weit vorgelehnt und das Konstrukt gerät bedrohlich ins Wanken. Erschrocken lehnt er sich zurück. Die Kunden gehen brav durchs ganze Lokal – statt einfach über den Hocker zu steigen – und die Kollegin kehrt aus dem Lager zurück. Sie will an diesem Abend offensichtlich den Preis für den intelligentesten Mitarbeiter gewinnen, denn sie hat sicherheitshalber von jedem verfügbaren Leuchtmittel im Lager ein Exemplar mitgebracht – auch wenn das bedeutet, dass sie einen Extraweg in Kauf nimmt, um die nicht passenden zurückzubringen. Es sind dies: drei weitere Glühlampen mit dem selben Sockel, nur in anderen Wattstärken, zwei Glühlampen mit kleinerem Sockel und zwei Energiesparlampen mit quadratischem Stecksockel. Sie werden genau in dieser Reihenfolge und unter zunehmender Resignation durchprobiert: Erst die drei mit dem Drehsockel groß, dann die beiden mit dem Drehsockel klein.

Missmut macht sich breit. Erst bei der ersten Energiesparlampe hellt sich das Gesicht am oberen Ende der Leiter auf: „Hey, die sieht ja aus wie die, die wir rausgenommen haben!“ Der Schichtleiter vergisst vor Freude fast wieder die Balance, doch die Begeisterung ist nur von kurzer Dauer: Die Lampe ist zu klein, passt nicht in den Sockel. „Gib mal die letzte“, sagt der Kollege oben, und es ist kaum noch Hoffnung in seiner Stimme. „Lass gut sein“, sagt der Schichtleiter, „wenn die anderen nicht passen, passt die auch nicht. Wir fragen Chef am Montag“. Doch der Kollege oben riskiert nicht seit 20 Minuten sein Leben und hat vier Pflaster an den Fingern, um jetzt den letzten Strohhalm vorbeischwimmen zu lassen. „Gib schon her“, beharrt er, steckt die Lampe in den Sockel, sie passt – und bleibt dunkel. „Du muss sie tiefer reindrücken“, sagt der Chef. Das tut der Kollege, fasst sie aber wieder am Glas an. Kurzes Leuchten, dann ein Schrei, Scherben, Quecksilberqualm. „Na wenigstens war es die richtige“, sagt die Kollegin mit der Vorliebe fürs Lager, „ich hol noch eine und sag Katrin, sie soll Pflaster bringen.“

Geistesgegenwärtig hat auch der Schichtleiter die Lage analysiert und fordert bei der fünften Kollegin erneut den Lappen an. Auf die Idee, die Lampe am Plastikfuß zu berühren, kommt niemand. Muss auch niemand. Mit vereinten Kräften gelingt es im nächsten Anlauf ganz zufällig. Nach nur einer halben Stunde, sieben Pflastern und mit Hilfe von fünf Kollegen hat die Crew eine Energiesparleuchte gewechselt. „Was für ein Tag“, sagt der Schichtleiter, tief ausatmend. Dann verteilt er die Aufgaben zum Wegräumen von Leiter, Tritthocker, nicht passenden Lampen, Scherben und Pflasterresten. Das gelbe Schild klappt er eigenhändig zusammen.
Was bleibt, ist ein Hauch Quecksilberduft über der Küche.

Veröffentlicht am 10. März 2013

Risiken und Nebenwirkungen

Ich mag meinen Hausarzt. Wirklich. Er hört tatsächlich zu, nimmt sich Zeit, stellt differenzierte Diagnosen. Doch vor das Gespräch mit dem Arzt haben die Götter die Tresenkraft gesetzt. Nach einer statistisch abgesicherten, repräsentativen Studie, durchgeführt von – nunja: mir, verhält sich die Abwehrgewalt der Praxisschwester direkt proportional zur Freundlichkeit des Arztes. Als ich ob fieser Nebenwirkungen eines Medikaments dieser Tage meinen zuhörenden Arzt konsultieren wollte, scheiterte ich. Mal wieder. Vermutlich werden Praxishilfen irgendwo industriell gefertigt, in einem Werk, in dem auch Kampfdrachen der Einsatzklasse gezüchtet werden. Dort lernen sie, wie man den Zugriff auf den Arzt verteidigt, als gelte es den Weltfrieden. Das Fatale daran ist: Vermutlich kann sich der Arzt nur deshalb soviel Zeit nehmen, weil er diesen Drachen beschäftigt. Ein Dilemma. Der Arzt lagert seine dunkle Seite an den Tresen aus und produziert so eine Nebenwirkung, vor der keine Packungsbeilage warnt.

Märkische Gastlichkeit

Ein Restaurant, irgendwo dort, wo die Mark am schönsten ist. Es gibt etwas mit einem Kollegen zu feiern. Und es gibt Spargel. Mit Zander. Wunderbar – auf der Haut gebraten, außen kross, innen saftig. Fehlt nur noch ein passender Weißwein zum Glück. Aber so ist das mit dem Glück – es versteckt sich gern. Die Karte listet Bier, Schnaps und Sekt, dann endet sie abrupt. Nun gut. Wir haben einen Beruf mit Kommunikationshintergrund, also kommunizieren wir. Freundlicher Wink zur Kellnerin.
„Haben Sie auch Wein?“
„Ja.“
(Innerer Klaps auf den Hinterkopf. Jan, du bist in deiner Heimat. Hier sagt man auch „ja“ und geht weiter, wenn du fragst, ob jemand eine Uhr dabei hat, statt dir die Zeit zu nennen. Frag halt richtig!)
„Nur, weil in der Karte keiner steht.“
„Wir haben aber welchen.“
„Schön.“
„…?“
„Ähm… was haben Sie denn?“
„Roten und weißen.“
„…?“
„…!“
„Es soll zum Spargel schon weißer sein. Was bieten Sie da genau?“
„Trocken und halbtrocken.“
(Okay, Jan, sieh ein, du hast verloren:)
„Dann unbedingt den trockenen, bitte!“
Die Kellnerin, im Weggehen, mit dem Rücken zum Gast: „Ist auch ein guter. Ein österreichischer Kerner. Sortentypisch. Feine Säure, gute Frucht.“
Dumpfes Geräusch, als mein Kopf auf die Tischplatte aufschlägt.
Ich liebe mein Heimatland.
Meistens.

Werben für Fortgeschrittene

Dass sich kein Mensch um den Aufkleber „Keine Werbung” am Briefkasten schert — geschenkt! Die Einwerfer wollen das Zeug halt loswerden. Dass ein Name am Kasten nur begrenzt auf das Alter seines Trägers schließen lässt und ich daher täglich Angebote für Pflegedienste, Demenz-WGs und Inkontinenzeinlagen aus demselben fischen und mit spitzen Fingern in den Papierkorb befördern darf — was soll’s! Wir leben halt in einer überalternden Gesellschaft. Ja selbst dass ein zweifelsfrei einen Mann ausweisender Vorname nicht davor schützt, Angebote zur Brustvergrößerung dort vorzufinden, kann mit etwas gutem Willen noch als sinnvolle Einwerfung bezeichnet werden — schließlich kann es ja sein, dass der so beschenkte Herr diesen Eingriff einer Dame empfehlen oder gar spendieren möchte. Doch als ich gestern den Flyer: „Analphabetismus ist keine Schande. Trauen Sie sich!” nebst Rufnummer vorfand, war selbst meine Verständnisschwelle für dämliche Werbung eindeutig überschritten. Wie, um alles in der Welt, soll ich den Zettel denn lesen können?

Gloegglich macht besonders glücklich

MAZ-Leser testen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt in der „Brandenburger” — und küren einen eindeutigen Sieger

Die Mission: Sie scheuen weder Kater noch Kopfschmerz, weder Sodbrennen noch Schluckauf, sie kennen keine Zimt- und keine Nelkenallergie, sind bereit, sich schlimmstenfalls Magen und Leber zu ruinieren: Acht MAZ-Leser stürzten sich in eines der letzten Abenteuer, das diese Stadt noch zu bieten hat, und tranken sich gnadenlos durch den Weihnachtsmarkt auf der Brandenburger Straße — mit nur einem Ziel: den ultimativ besten Glühwein zu finden.

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Die Teams: Drei Gruppen zu je drei Mitgliedern galt es, aus der Zahl der Bewerber zu filtern, um einen repräsentativen Durchschnitt des Weihnachtsmarktbesuchers abzubilden: Junge und Ältere, Männer und Frauen, Feinschmecker und Vieltrinker. Nur ein Jurymitglied bekam kurz vor Beginn Angst vor der Verantwortung und fehlte. Am Ausgangspunkt, einer Hütte mit einem sprechenden und singenden Elch auf dem Dach (erster Kommentar: „schrecklich!”), trafen sie zusammen, um dann, mit Bewertungsbogen bewaffnet, auszuschwärmen, und die Weine auf Aroma und Temperatur, Originalität und Alkoholgehalt, Preis und Schuss zu testen.

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Das Revier: Um Doppeltests zu vermeiden, ward die Arena in drei Areale unterteilt: Ebert- bis Dortu-Straße, Dortu- bis Elfleinstraße, Elfleinstraße bis Luisenplatz. Das ambitionierte Ziel jedes Testers: Drei bis vier Glühweine die zunächst noch kühle Kehle hinunterrinnen zu lassen.

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Der Start: Die Stimmung ist zunächst noch nüchtern und analytisch. Kritisch posieren die Kritiker auf dem Gruppenbild. Dann geht’s los — zwei Stunden Zeit, dann Manöverkritik unterm Elch.

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Team 1: Die Trinkfesten. Nico Höhne (27) und Bärbel Lubosch (73) — die Gruppe mit der größten Altersdifferenz — steuern zuerst den Stand aus der italienischen Partnerstadt Perugia an. Dort gibt es einen klassischen Glühwein, für 2 Euro, der auf Merlot und Sangiovese beruht und mit einer streng geheimen Gewürzmischung zum Adventsgetränk wird. Als Wirt Domenico Giacomino merkt, dass hier getestet wird, kommt er aus seiner Hütte und instruiert die Tester, wie es wohl nur Italiener tun: Worauf sie beim Trinken zu achten haben, welche Aromen herauszuschmecken sind. Die Styroporbecher, in denen der Wein kommt, erregen erstmal kein Wohlwollen, halten das Getränk aber immerhin lange heiß. Nico Höhne stellt seine noch jugendliche Leber unter Beweis und ordert alle Weine konsequent „mit Schuss” (+1 Euro) — er hat die Wahl zwischen Limoncello und Sambuca und entscheidet sich für den Zitronenlikör. Das tut dem Wein durchaus gut, befindet er, seinem Geschmack entspricht es aber nicht.

Station 2 ist der Stand des Restaurants „La Madeleine”, wo ein Beaujolais, verfeinert um eine ebenfalls geheime Würzmischung des Chefkochs, in Tassen gereicht wird. Nico Höhnes Schuss ist in diesem Fall ein Rum, den Amaretto lässt er nach der schlechten Erfahrung mit Likören links liegen — „macht den Wein noch süßer”. Bärbel Lubosch aber ist begeistert, „ein klassischer Glühwein auf hohem Niveau”. Die Gruppe zieht weiter — sie wird am Ende die einzige sein, die vier (Lubosch) und fünf (Höhne) Weine getestet hat: „Wir verfügen eben über die perfekte Mischung aus Erfahrung und Gesundheit”, kommentieren sie trocken.

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Team 2: Die Experimentierfreudigen. Antje Schäfer und Peter Gotthardt (49) kommen als Paar. Gotthardt misst 2,06 Meter, er ist im Gewühl jederzeit zu finden. „Da passt viel rein”, scherzt Burkhard Otte (70), der mit Abstand bestaufgelegte Tester. Unermüdlich reiht der Stahnsdorfer Scherz an Scherz, wohl wissend, dass ihn am Ende seine Tochter nach Hause chauffieren wird. Alle drei testen konsequent drei verschiedene Weine, sodass sie am Ende neun Buden auf ihren Bögen haben — und ein breites Spektrum von Schlehen-, Holunder-, Kirsch-, Heidelbeer-, und Apfel-Zimt-Glühwein im Magen. Es ist die einzige Gruppe, die sich in den Sperlingshof wagt, wo es einen Glühwein mit Doppelschuss für zwei Euro gibt. Der ist im Preis-Dröhnungsverhältnis ungeschlagen, schmeckt aber nur „naja” und kommt lau im kleinen Becher. „Für Leute, die den Geschenkekauf hassen, aber günstig Mut tanken wollen”, sagt Otte. Peter Gotthardt, der ihn trank, belässt es bei einem angedeuteten Aufstoßen. So richtig begeistert ist die Gruppe nirgends, lediglich der Grüne Kobold, ein Weißwein mit Minze und Waldmeister, bekommt Bestnoten. Ein Flammkuchenstand kurz vor dem Luisenplatz serviert indes den Verlierer dieses Tests: Einen muffig riechenden, faden, lauwarmen Wein ohne spürbaren Alkohol. Für diese „Qualität” ist der Preis von 2,50 Euro „stolz”, vermerkt Otte.

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Team 3: Die Kritischen. Barbara Seiwert (63) war früher selbst Innenstadt-Händlerin und hatte auch einen Weihnachtsmarkt-Stand . Sie blickt mit dem kühlen, kritischen Blick der Geschäftsfrau in die Tasse und auf den Tresen, bewertet Freundlichkeit, Beratung, Sitzgelegenheiten, Regenschutz und sonstige Details akribisch, macht gar Verbesserungsvorschläge wie den, die Tassen vorzuwärmen. Ihr Begleiter Uwe Trotte (63) ist dagegen recht still, dafür aber unerbittlich in seinem Urteil. Komplettiert werden die Kritischen von Gerd Hampel (40), der hinter sehr jovialem Auftreten einen unbestechlichen Gaumen verbirgt. Blumes Glühweinhütte, wo die drei zunächst einen Glühwein mit Bacardikirschen bestellen, bekommt ein differenziertes Urteil im Mittelfeld: Geschmacklich alles okay, aber die kalten Kirschen und die kalten Tassen lassen den ansonsten guten Wein zu schnell erkalten. Besser ergeht es dem Stand „Zur Feuerzangenbowle”, wo die Kritischen einen weißen Apfel-Zimt-Glühwein ordern. Er gefällt ihnen sehr gut, auch der gesamte Stand erhält gute Noten. Doch er verblasst vor dem Gesamtsieger, dem „Gloegglich”-Stand des Lakritzkontors. Hier gibt es fast nur Lob: Super Geschmack, eine Riesenauswahl an „Schüssen” (Barbara Seiwert wählt Schokoladenwodka), Rosinen und Mandeln kostenlos nach Bedarf, gute Beratung — selbst die Kritischen vergeben hier durchweg Bestnoten.

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Die Manöverkritik: Eine deutlich munterere, redseligere Gruppe trifft unter dem Elch wieder zusammen, der plötzlich so schrecklich gar nicht mehr ist. Erfahrungen werden ausgetauscht, Empfehlungen gegeben. Nico Höhne findet, eigentlich könne man doch noch eine Abschlussrunde nehmen, jetzt, wo’s so gemütlich sei. Geschäftsfrau Barbara Seiwert überschlägt das Restbudget — alle haben gut gewirtschaftet — und befindet: müsste reichen! Der vierte Glühwein für die Tester (Nummer fünf und sechs für die Trinkfesten) trinkt sich wie von allein in der Euphorie. Alle sind nach des Testens Mühe gelöst, aber geistig wie körperlich in denkbar bester Verfassung: kein Schwanken, kein Lallen. Über Sieger und Verlierer gibt es dennoch keine Zweifel: Gloegglich und Kobold, keine Frage. Kurz bevor Burkhard Otte von seiner Tochter abgeholt wird, macht jemand noch einen letzten Vorschlag: Vielleicht sollten doch nun alle noch den Testsieger kosten? Er findet rege Zustimmung.

Gefühls- statt Geldspender

Geldautomaten erzeugen für gewöhnlich entweder keine Gefühle, wenn sie tun, was sie sollen — das dauerklamme Konto weiter schröpfen — oder nur drei: Ärger (wieder defekt), Wut (hohe Gebühr, weil Fremdbank) und Verzweiflung (Karte einbehalten, weil Konto überzogen). Gleich sieben Gefühle zahlte dem Autor indes jener Automat aus, der ihm gestern, obgleich zweifelsfrei auf „50 Euro” gedrückt, 1000 Euro in die Hände schob. Zuerst: Schreck! So viel Geld, was tun? Dann: Hoffnung. Was, wenn dank eines Wunders der Technik nur 50 Euro vom Konto abgebucht wurden, trotz des großzügigen Aufschlags von 1900 Prozent bei der Auszahlung? Schnell zum Kontoauszugsdrucker. Dort: Enttäuschung. Wirklich 1000 Euro abgebucht. Daher: Trauer. Wäre so schön gewesen. Schließlich: Ratlosigkeit — und nun? Der Blick fällt auf den Geldeinzahlungsautomaten direkt daneben: Erleichterung. Zwei Minuten später sind 950 Euro wieder eingezahlt und ausweislich des Kontoauszugsdruckers auch verbucht. Falls das alles eine Technikpanne war — Entrüstung: Schämt Euch! Falls das Absicht ist, um in Zeiten niedriger Zinsen mehr Dispozinsen einzunehmen, trotzdem Entrüstung — netter Versuch, aber: Schämt Euch!

Paranoia für Profis

Mit dem Verfolgungswahn ist das eine zweischneidige Sache: Eine skeptische Grundhaltung ist grundsätzlich gut, doch professionelle Paranoia ungerecht, gefährlich und selbstzerstörerisch? Die vergangene Woche bot ein buntes Potpourri zwischen beiden Extremen, und wir überlassen es gern Ihnen, die jeweiligen Ereignisse auf der Skala von „Völlig richtig!” bis „Total daneben!” einzuordnen. Im Folgenden unsere Nominierten:

Kandidat eins: Die Zaunverschwörung . Vor einem winzigen Teilstück des umstrittenen döpfnerschen Zauns rund um den Park der Villa Schlieffen ließ die Stadt am Montag vier Zaunfelder aufstellen — weil dort das „Straßenbegleitgrün” (für Nichtverwaltungsleute: Rasen) am Hang instandgesetzt werden müsse und diese Baustelle der Absicherung bedürfe, sagt die Stadt. Die korrespondierende Verschwörungstheorie ist — das sind sie meistens, die Verschwörungstheorien — etwas komplizierter: Sie geht davon aus, dass der Baubeigeordnete mit der Bürgerinitiative gegen den Zaun (BI) sympathisiert. Die BI plakatiert ihren Protest ja gern am Bauzaun, was illegal ist. Fortgeschrittene Verschwörer sagen nun, der Baubeigeordnete habe seine Verwaltung angewiesen, einen Zaun vor den Zaun zu stellen, weil dieser dann öffentlich wäre und damit die BI legal plakatieren könnte. Alles klar? Gut. Dann arbeiten Sie jetzt nur noch die Information ein, dass die Stadt auch an diesem Zaun keinerlei Plakate duldet und einen Antrag der BI auf eine Plakatierungsfläche im öffentlichen Raum abschlägig beschied. Aber wer weiß schon, ob das stimmt oder einfach nur behauptet wird, um die Öffentlichkeit zu täuschen?

Kandidat zwei: Das Mercure-Mirakel . Da wurden sieben renommierte Landschaftsarchitekten damit beauftragt, den Lustgarten schöner zu machen, zu beleben und ihn mit dem Schloss zu einem Ensemble wachsen zu lassen. Nun legen sie ihre ersten Entwürfe vor und — große Überraschung! — keiner kann sich vorstellen, dass ein Ensemble aus Schloss und Garten das Plattenbauhotel verträgt. Auch hier haben Sie jetzt zwei Möglichkeiten: Sie können einfach davon ausgehen, dass quer zur Achse stehende rostige Plattenbauten bei Landschaftsplanern selten Anklang finden oder die komplexere Theorie zu Rate ziehen, nach der entweder 1. die böse Stadt nur Büros ausgewählt hat, die keine Platten mögen, 2. die Büros neben der offiziellen Aufgabenstellung noch eine inoffizielle bekommen haben, nach der sie das Hotel unbedingt ausradieren müssen oder 3. dem Linkenfraktions-Chef folgen, der sagt, die Bürgerwerkstatt zum Lustgarten sei manipuliert, Stimmen zum Erhalt des Hotels würden systematisch unterdrückt und solche zum Abriss systematisch bevorzugt.

Keinerlei Verschwörungstheorie brauchen Sie übrigens, wenn Sie einfach nur feststellen, dass der ganze Workshop von vornherein ein rund 520 000 Euro teures Feigenblatt zur Legitimation des Hotelabrisses ist. Das haben wir schon mehrfach so kommentiert. Und wir sind natürlich jedweder Paranoia von Berufs wegen völlig unverdächtig.

Statistik macht depressiv

Gefühlte und reale Wahrscheinlichkeiten klaffen oft auseinander. So sind etwa Flugzeuge statistisch das sicherste Verkehrsmittel und Autos das gefährlichste. Trotzdem leiden Millionen Menschen an Flugangst, aber in unser täglich Blech steigen wir ohne feuchte Hände. Es ist auch wahrscheinlicher, von einem Kometen getroffen zu werden, als den Lotto-Jackpot zu knacken. Trotzdem träumen die Menschen deutlich häufiger davon, was sie mit 48 Millionen Euro anstellen würden, als sie im Freien bangen Blickes nach oben schauen. Wer sich nun aber einen dunklen, nieselnasskalten Novembernachmittag mit einem Blick auf solche Zahlen aufhellen möchte, lernt schnell, dass Statistik auch keine Lösung ist. Die verrät nämlich auch, für Über-35-Jährige sei es wahrscheinlicher, einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen als jetzt noch einen Partner zu finden. Betroffene sollten besser fest hoffen, dass diese Statistik in Arabien erhoben wurde. Das wäre schon allein deshalb tröstlich, weil es dort wenigstens warm und hell ist. Das Schicksal wäre dann zwar immer noch ein mieser Verräter, aber zumindest ein gerechter.

Spaßverderber überall — und der Norden entschwebt

Der Begriff Schaumschläger gilt gemeinhin als ein wenig negativ besetzt. Hobbyfotografen, Kinder und Erwachsene, die sich das Kindliche bewahrt haben, dürften am Dienstagabend kurzzeitig anderer Meinung gewesen sein, als ein Spaßvogel mit einer Flasche Spülmittel den Springbrunnen auf dem Luisenplatz zum Überschäumen brachte: Manche knipsten, andere schlitterten und wieder andere lieferten sich eine Schaumschlacht. Nur die Stadtverwaltung zeigte mal wieder keinen Humor, die ollen Spielverderber. Die sagten doch wirklich, dass der Wasseraustausch teuer ist und viel Arbeit macht und schickten den Brunnen vorzeitig in den Winterschlaf. Kann man denn hier nicht mal öffentliches Gut fürs Privatvergnügen missbrauchen, ohne dass gleich wieder einer meckert? Spießig, diese Stadt.

Diese Spießigkeit ist nun nicht neu, Potsdam führt ja auch den zweifelhaften Ruf, Deutschlands einzige Landeshauptstadt ohne Rotlichtviertel zu sein. Und nur die parlamentarische Opposition wendet an dieser Stelle ein, dass Rot-Rot im Stadtschloss genug Rotlichtbestrahlung ergebe. Jedenfalls hatte Potsdam jetzt zumindest einen Mini-Puff im Plattenbau, und gleich gibt es wieder Spaßverderber, die dagegen protestieren, bloß weil sie keine Nacht mehr schlafen können und die Lust der anderen ihnen keine bereitet. Und natürlich macht die spaßbremsende Justiz mit und vertreibt die Damen — quasi durch den Aus-Puff. Die sind allerdings ausge-buff-t und längst in den Schlaatz weitergezogen. Wie man mit dieser Mentalität jedenfalls mehr Touristen in die Stadt bekommen will, bleibt uns schleierhaft: Schaumpartys — nö! Rotlicht — nö! Kinder, so geht’s nicht weiter! Nur von Sanssouci könnt ihr nicht ewig leben. Da hilft auch Steven Spielberg nicht weiter. Der bleibt ein paar Wochen, und zieht von hinnen. Etwas mehr Nachhaltigkeit im Spaßleben der Stadt wäre wirklich wünschenswert.

Bei größeren Projekten die Bürger zu befragen, ist eine sehr gute Idee. Sie sind die Experten vor Ort und haben nicht selten Ideen, auf die Stadtplaner am Schreibtisch nie kämen. Auf Bürgerversammlungen hingegen kann der Beobachter schnell Freund der repräsentativen Demokratie werden. Schwächere Gemüter wünschen sich in diesen Momenten sogar eine Diktatur. Zu theoretisch? Gut: Dass der Verkehr von und nach Norden ein Problem ist, für das bislang niemand eine Lösung hat, ist weidlich bekannt. Dass die Idee des Baudezernenten, den Autofahrern mittels Staus ihr Gefährt so sehr zu verleiden, dass sie freiwillig Rad oder Bus fahren, auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, ebenso. Doch was tun? Eine U-Bahn schlug allen Ernstes jemand auf einer Bürgerversammlung vor, und als man ihm erklärte, dass das wohl etwas teuer würde, schwenkte er auf Schwebebahn um. Wir meinen: Warum nicht gleich den Transrapid, von dem hat man lange nichts gehört. Und Großtrappenvorkommen zwischen Potsdam und Golm sind bislang auch nicht bekannt.

Aus der selben Feder stammt auch die Idee, in Golm eine Kita zu errichten, um einen sonst von Überbauung bedrohten Bolzplatz zu retten. Das ist eine wunderschöne Logik. Mit ihr könnte man auch eine Hauptfeuerwache in Golm bauen, um den Löschteich nicht austrocknen zu lassen. Oder einen Springbrunnen, weil noch eine Flasche Spüli übrig ist.


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