Freundinnen in schwerer Zeit

Hannah Pick-Goslar berichtete an der Voltaire-Schule von Anne Frank

INNENSTADT Es muss schwer sein für Hannah Pick-Goslar, in Anne Franks Tagebuch zu lesen. Besonders jene Stelle, in der Anne mutmaßt, ihre Freundin Hannah sei vermutlich längst tot. Seit Ende des Krieges ist es genau andersherum: Anne ist tot, Hannah lebt. Und sie wird nicht müde, davon zu berichten – davon, wie sie Anne kennen lernte, und was für finstere Zeiten es waren. In Amsterdam, wohin die beiden jüdischen Familien geflohen waren, als Hitler 1933 an die Macht kam, trafen die beiden Fünfjährigen aufeinander: Eine Begegnung im Gemüseladen, der erste Tag im Kindergarten, und Hannah und Anne sollten Freundinnen werden für den Rest ihres Lebens. Sie ahnten noch nicht, dass das nur noch wenige Jahre waren.

Soweit es ihre Kraft und Gesundheit zulassen, kommt Hannah Pick-Goslar aus Jerusalem oft nach Deutschland, um ihre und Annes Geschichte zu erzählen. Besonders oft kommt sie nach Brandenburg, und in die Landeshauptstadt am liebsten. Die Aula der Voltaire-Schule ist gut gefüllt an diesem Vormittag, fast 100 Schüler, vorrangig aus der achten und neunten Klasse begrüßen die energiegeladene Israelin mit kräftigem Applaus. Sie wirkt nicht wie 79 – straffer Gang, pechschwarzes Haar, elegante Kleidung, selbstsicheres Auftreten. Die Entschuldigung für ihr schlechtes Deutsch darf getrost als Koketterie verbucht werden: In ihrem rund einstündigen Vortrag, frei und ohne Pause gesprochen, unterläuft ihr kein Fehler, keine Betonung weist darauf hin, dass sie seit vielen Jahren im Nahen Osten lebt, nicht mal ein Wort sucht sie.

Hannah Pick-Goslar begeht auch nicht den Fehler, Anne Frank auf einen Sockel zu heben. Sie ist klug genug, zu wissen, dass ihr Tagebuch, das offenbar alle im Saal gelesen haben, für sich spricht. Die reale Anne mit ihren Schwächen zu zeigen, lässt die Schüler viel näher an das junge Mädchen heran, lässt sie stärker mitleiden, als es jeder Heroisierungs-Versuch könnte. Anne habe gern im Mittelpunkt gestanden, sagt Hannah Pick-Goslar, und ihre Mutter habe mit Recht gesagt: „Vielleicht weiß Gott alles, aber sicher ist: Anne weiß alles besser.“ Um so stärker und nachhaltiger hat sich die vom Typhus geschwächte, jämmerliche Gestalt mit der dünnen Stimme in Hannah Pick-Goslars Gedächtnis eingebrannt, der sie Jahre später, von einem Stacheldrahtzaun getrennt, im KZ Bergen-Belsen begegnete: Wenige Wochen nach diesem Zufallstreffen war Anne tot. Sie würde wohl glücklich sein, zu wissen, dass sie ihre Energie und Erzählkraft an ihre Freundin weitergegeben hat.

Erschienen am 10.07.2007

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