Archiv für die Kategorie „Toast & Honig“

Der Geist der Weihnacht

Dienstag, 18. Dezember 2007

Jan Bosschaart über Spendenaktionen im Advent

Ja wo ist er denn, der Geist der Weihnacht? Liegt er begraben unter Geschenkebergen? Ist er längst totgedudelt von seichter Weihnachtsmusik, von Jingle Bells und Co. in der fahrstuhltauglichen Version? Oder ist er ertrunken im Glühwein? Depressiv vom Weihnachts-Werbe-Wirbel? Es gehört mittlerweile zur adventlichen Folklore, sich – nicht zu Unrecht – über die Kommerzialisierung und die Entzauberung des Weihnachtsfests zu beklagen und zugleich daran teilzunehmen. Das Verdammen von Spendeaktionen liegt an diesem Punkt der vorweihnachtlichen Debatte schon in der Luft wie der Kardamom beim Plätzchenbacken. „Warum nur jetzt“, heißt es dann meist mit betroffenem Augenaufschlag, „Not gibt es doch das ganze Jahr!“ Das mag unter moralischen Qualitätskriterien richtig sein, aber ginge es nicht etwas pragmatischer? Die Alternative zu Spenden, Wärme und Aufmerksamkeit vor dem Fest lautet doch nicht: dasselbe, das ganze Jahr über, sondern: dann eben nicht. So betrachtet, sind glückliche Kinderaugen im Hotel, rund um die Integrationslaube oder in der Suppenküche eindeutig die bessere Wahl. Genau dort nämlich geht er um, der vielbeschworene Geist der Weihnacht. Trotz Geschenkebergen. Oder gerade darin.

Erschienen am 18.12.2007

Vertrauensverfall

Donnerstag, 13. Dezember 2007

Jan Bosschaart über das Lavieren der Bauverwaltung in Sachen Lennéstraße 44

Jetzt wird es auch noch ein Fall für den Bund der Steuerzahler. Der prangert in seinem Schwarzbuch jährlich die größten Verschwendungen öffentlicher Gelder an. Wer nun das Lavieren der Verwaltung in Sachen Lennéstraße 44 in der Zeitung verfolgte oder sich gar das ins Groteske ufernde Schauspiel im Bauausschuss am Dienstagabend zu Gemüte führte, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass der Battis-Bericht bei aller inhaltlichen Qualität auch nur zum Fenster herausgeworfenes Steuergeld darstellt – daraus gelernt hat die Bauverwaltung offenkundig nichts. Das Verschanzen der Verwaltung hinter dem Datenschutz, um zu verbergen, dass offenbar Fehler gemacht wurden, die nur im nichtöffentlichen Teil eingeräumt werden und die fast schmollende Auskunftsverweigerung, die kaschiert, dass hier offenbar vor einem aggressiv auftretenden Bauherrn eingeknickt wurde, das alles hätte kaum das Wohlwollen des Berliner Verwaltungsrechtsprofessors erregt, der wegen Unregelmäßigkeiten in dieser Abteilung des Rathauses im Frühjahr in Aktion trat. Dass nun die Brandenburger Vorstadt mit einer Bausünde garniert wird, erscheint angesichts des fortschreitenden Vertrauensverfalls in die Bauverwaltung mittlerweile fast schon als das kleinere Übel.

Erschienen am 13.12.2007

Rechnung geht nicht auf

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Jan Bosschaart über den DAK-Gesundheitsreport für Potsdam

Im Vergleich mit anderen Kreisen in der Mark ist der Krankenstand in Potsdam nicht umwerfend. Grämen sollten sich die Landeshauptstädter darüber aber nicht, wie ein genauer Blick in die Statistik beweist: Den Spitzenplatz – sprich: den niedrigsten Krankenstand – behaupten nämlich die Uckermärker, jener Landkreis, der auch chronisch die rote Laterne in Sachen Arbeitslosigkeit erhält. Einen Zusammenhang muss niemand konstruieren, er ist offenkundig: Die Sorge um den Arbeitsplatz hält keineswegs gesund, sie sorgt nur dafür, dass sich der kranke Arbeitnehmer, von Fieber wie von Angst gleichermaßen geschüttelt, trotz Grippe oder Bandscheibenvorfalls noch zum Dienst schleppt. Die Rechnung „Angst vor Arbeitslosigkeit sorgt für geringe Fehlzeiten“, die manch Unternehmer gern anstellt, geht trotzdem nicht auf, auch das wird aus dem Gesundheitsreport ersichtlich: Wird die Krankheit erst chronisch, steigen die Fehltage exponenziell. Die zahlt ironischerweise dann aber meist die Krankenkasse, also die Solidargemeinschaft. Der Unternehmer hingegen besetzt die Stelle flugs neu, mit einer gesunden Kraft. Wie es besser ist, zeigt das prosperierende Baden-Württemberg: Dort sind Krankenstand und Arbeitslosigkeit rekordverdächtig niedrig.

Erschienen am 06.12.2007

Von Schuhputzern und Kaffeetestern

Montag, 3. Dezember 2007

Erlebniseinkauf: Am langen Adventssonntag ließen sich die Händler einiges einfallen – und wurden belohnt

Dichtes Gedränge auf den Straßen der Innenstadt: Die dritte „Lange Nacht der Nikoläuse lockte“ so viele Besucher wie nie zuvor an.

INNENSTADT Ratje Müller hatte zweifellos einen der besten Jobs der Langen Nacht der Nikoläuse. Sie stand im Warmen, sie teilte kostenlos aus und sie saß an der Quelle dessen, was es brauchte, um bis 24 Uhr durchzuhalten: Kaffee. Drei Premiumsorten aus Kenia, Äthiopien und Peru brühte die Kaffee-Expertin im Halbstunden-Takt frisch auf und ermunterte Besucher der Confiserie in der Brandenburger Straße, sich auf die Geschmacksreise einzulassen. Sie musste meist nicht lange bitten, denn Ratje Müllers Begeisterung für das heiße Schwarze steckte an. Wenn sie von der feinen Nase, der Fülle und der typischen leichten Säure des kenianischen Hochlandkaffees schwärmte, wurden auch überzeugte Teetrinker neugierig. Es war eine Premiere, bei der Langen Nacht Kaffee verkosten zu lassen, und sie gelang: „Kommt sehr gut an“, resümierte Müller bei einer Tasse Kenia-Hochland. Dass sie einen Kaffeefreund überzeugen konnte, vom Vollautomaten wieder zur Handbrühung zurückzuwechseln, war da nur noch das Sahnehäubchen auf ihrem Abend.
Für Andreas Landersheim ist Handarbeit hingegen Alltag. Den Weihnachtsmann als Kunden hat er dennoch nicht alle Tage. Kurz vor Toresschluss kam der, ließ sich auf den goldenen Thron plumpsen undsagte „Meister, ich brauche Eure Hilfe“. Das ließ sich ein Service-Mann wie Landersheim nicht zweimal sagen: Flugs griff der Show-Schuhputzer zum Werkzeug. Den groben Schmutz entfernte er mit der Bohrmaschine, in die er eine Bürste gespannt hatte. Der abgefallen Dreck kam zur Analyse unters Mikroskop, bevor Landersheim mit der elektrischen Zahnbürste die Creme auftrug und dann polierte. Zwischendrin zauberte, jonglierte und scherzte er, und kaum jemand im Karstadt-Stadtpalais kam an diesem Szenario vorbei, ohne amüsiert stehenzubleiben. Besonders die Kinder mussten fast schon mit Gewalt vom lustigen Schuhputzer weggezerrt werden, doch auch viele Ältere blieben trotz Geschenke-Kauf-Stresses mit einem stillen Lächeln stehen.
Lächeln konnten auch die Hobbymodels im Modegeschäft von Karin Genrich, die wieder zur Modenschau geladen hatte. Vier Damen und zwei Herren zeigten die aktuelle Kollektion, trugen Kaschmirwolle und Missoni-Muster, beantworteten Fragen zum Tragekomfort und ließen das überwiegend weibliche Publikum bei Bedarf auch den Stoff befühlen. Student und Teilzeit-Model Jeffrey sang zwischendrin leise Lieder zur Laute, und Weihnachtspunsch und Stollen sorgten für eine gnädige Aufnahme der Preisschilder. Filialleiterin Simone Möller war zufrieden: Die Sitzplätze im kleinen Laden reichten kaum aus, und der Andrang zur Modenschau machte den eher ruhigen Nachmittag wieder wett.
Gegen 22 Uhr, als der Strom langsam abschwoll, überlegte sie, etwas vorfristig zu schließen. Ein Kenia-Kaffee hätte da helfen können.

Erschienen am 03.12.2007

Filzer, Färber, Fellhändler

Samstag, 1. Dezember 2007

Böhmischer Weihnachtsmarkt lockt mit rustikal-mittelalterlicher Atmosphäre / Schon am ersten Abend überrannt

BABELSBERG Angelina wartet nicht auf den Weihnachtsmann. Angelina wartet auf Timo. An den Glühwein-Stand gelehnt, schafft sie das Kunststück, zugleich gelangweilt und genervt auszusehen. Ihrer Freundin gelingt das nicht, obwohl sie redlich versucht, sich Angelina in Kleidung, Haltung und Frisur anzugleichen. Von der Eröffnung des Böhmischen Weihnachtsmarktes um sie herum nehmen die beiden 15-Jährigen nur insofern Notiz, als er ihnen als Bühne dient. Gesehen werden lautet das Motto.
Gehört werden wollen hingegen die vier Tschechen des Ambrosia-Quartetts, die mit zwei Flöten und zwei Trommeln auf der Bühne musizieren. Doch auch das ist schwer: Während die Herren mit ihren Schlaginstrumenten noch zu vernehmen sind, flöten die Damen hilflos gegen den Marktlärm an, gegen Musik aus den Buden und die Gespräche der Besucher. Ihr „Stille Nacht“ verpufft ungehört.
Es ist Freitagabend, kurz vor 18 Uhr, das heißt: kurz vor Stollenanschnitt, und der Markt, der in diesem Jahr erstmals schon am Freitag beginnt, ist rappelvoll mit gut gelaunten Potsdamern, die sich dick eingepackt zwischen 108 Ständen entlangschieben. Bis auf Angelina und ihre Freundin. Die sind bauchfrei erschienen. Das Thermometer an der Glühweinbude, die ihnen als Stütze gilt, zeigt 5 Grad. Von Timo keine Spur. „Der ist bestimmt auf der Brandenburger“, schlägt die Freundin vor, „der Markt ist eh cooler. Mehr Läden da und so.“
Was die Läden angeht, hat sie nicht unrecht: Während auf der Flaniermeile sich Imbissbude an Imbissbude reiht, setzt der Böhmische Weihnachtsmarkt auf traditionelles Handwerk: Schmiede und Sternenfalter, Filzer und Färber, Märchenerzähler und Maroni-Kocher, Kerzenziehen und Kettenfädeln, Fellhändler, Wahrsager, Handleser und Lebkuchenbäcker haben ihre Buden aufgeschlagen.
Auf die Bühne kommt Bewegung: Oberbürgermeister Jann Jakobs ist eingetroffen und freut sich ins Mikrofon, dass sein Wunsch nach drei Tagen Böhmischer Weihnachtsmarkt erhört wurde. Nicht immer würden seine Wünsche so schnell umgesetzt, sagt er. Burkhard Baese, Sprecher der AG Babelsberg, die den Markt quasi erfunden hat, freut sich hingegen darüber, dass der Markt im Weberviertel zwischen all den alten Handwerkerhäusern immer niveauvoller und atmosphärischer wird und es auch mit dem arg hochgejubelten Berliner Pendant am Schloss Charlottenburg aufnehmen kann. Den hat sich Baese diese Woche mal angesehen – zu Vergleichszwecken. Sein Fazit: „Der hat nicht diese Atmosphäre.“ Baese freut sich auch, dass immer mehr Babelsberger sich einbringen, dass das Kulturhaus das Programm auf der Bühne gestaltet, dass mit Simone Kabst zum ersten Mal eine „böhmische Kristallfee“ zu sehen ist und dass der Markt schon am ersten Abend so überrannt ist, dass einige Händler sich ärgern, den Aufbau ihrer Stände auf Sonnabend verschoben zu haben. „Jedes Jahr ein Stückchen besser“, sagt er.
Nur Angelina, die freut sich nicht. Timo ist immer noch nicht da, und die restlichen Besucher haben mehr Augen für den korpulenten Weihnachtsmann als für sie. Sie wechselt den Standort: Ab in die Brandenburger.

Erschienen am 01.12.2007

Vollwertiges von der Kornschnecke

Mittwoch, 28. November 2007

Ernährungstag im Haus der Generationen

SCHLAATZ Marika Steiger trägt ein T-Shirt, auf dem steht „Zucker macht zahnlos“. Es ist ein programmatisches T-Shirt. Und an Programmatik mangelt es der Gesundheitsberaterin nicht – Fleisch ist von Übel, Zucker sowieso, über 43 Grad erhitzte Speisen sind tot, das wird sie nicht müde zu betonen. Einige ihrer Zuhörer sind es indes müde. „Jetzt kommt das schon wieder“, knurrt jemand in der Schlange am Buffet, als Steiger noch einmal darauf hinweist, dass man doch zuerst den Salat, dann die Brotaufstriche und erst zum Schluss die Suppe essen möge.

Von solchen Nickligkeiten abgesehen ist das Seminar „Leckeres Essen“ ein voller Erfolg im Haus der Generationen und Kulturen am Schlaatz. Innerhalb des über 30 Wochen laufenden Projektes „Gesundes Altern“, dass der Trägerverein „Soziale Stadt“ im Generationen-Haus anbietet, lernen hier 30 Senioren von 60 bis 93 Jahren, wie sie eine leicht verdauliche, gesunde, vollwertige Mahlzeit zubereiten. Kochen können sie natürlich alle längst, insbesondere die zwölf Damen, aber die Feinheiten der Vollwertkost sind den meisten neu.

Die Rezepte und die Menüfolge hat Marika Steiger mitgebracht: Es gibt Feldsalat mit Radieschen in Vinaigrette, Weißkohlsalat mit Sauerkraut und Schwarzkümmel, Rote Beete, Dinkel-Buchweizen-Brot aus von Steiger selbst geschrotetem Vollkorn, Möhren-Tomate-Aufstrich, Kakao-Aufstrich („Öko-Nutella“, wie einer der beiden älteren Herren despektierlich anmerkt) und heißen Hirsetopf als krönenden, warmen Abschluss – hier weicht Marika Steiger von der Regel, dass Essen über 43 Grad totes Essen sei, ausnahmsweise mal ab. „Man muss sich ja auch nach dem Publikum richten“, sagt sie fast entschuldigend. Die Kurse kommen so gut an, dass weitere bereits in Planung sind. Friedrich Reinsch, Geschäftsführer der „Sozialen Stadt“, freute sich am Rande der Veranstaltung über den großen Zuspruch und die Unterstützung des Projektes durch das Gesundheitsamt, das sich sehr fürs gesunde Altern engagiert. Marika Steiger ist für Freunde gesunder Ernährung auch im Internet unter www.kornschnecke.de zu finden.

Erschienen am 28.11.2007

Glassplitter im Geburtstagskuchen

Freitag, 23. November 2007

84-Jährige bei Bomben-Evakuierung von Erinnerungen heimgesucht / Alte Dame will im Luftschutzkeller bleiben

BABELSBERG Als Hilde Wandel gestern Morgen kurz nach acht ihre Wohnung in der Fritz-Zubeil-Straße räumte, hatte sie das Schlimmste hinter sich: die Nacht. „Es war schrecklich. Alles brach über mir zusammen. Ich dachte: Jetzt ist es soweit. Jetzt sterbe ich wirklich. Doch dann bin ich wach geworden, und ich habe voller Erstaunen gespürt: Ich habe überlebt.“ Diesen Alptraum, der ihr jahrelang schrecklich vertraut war, hat Hilde Wandel ein halbes Jahrhundert nicht mehr gehabt. Warum er gerade jetzt wiederkehrt, daran hat die 84-Jährige keinen Zweifel.
Während sie erzählt, dreht Sprengmeister Manuel Kunzendorf etwa einen Kilometer entfernt gerade den Zünder aus der amerikanischen Sprengbombe. Als das 250 Kilogramm schwere Geschoss 1943 in den weichen Boden der Nuthewiesen an der Fritz-Zubeil-Straße fiel und ohne zu explodieren liegen blieb, hockte Hilde Wandel im Luftschutzkeller in der Gartenstraße – wenige Meter Luftlinie entfernt.
Es ist die 101. Bombenbergung seit der Wende in Potsdam, doch das erste Mal, dass Hilde Wandel deswegen evakuiert wird. Ein Zettel vom Gesundheitsamt an der Haustür hat sie darauf aufmerksam gemacht. Binnen Sekunden sei alles wieder da gewesen, sagt sie: Die Sirenen, die Todesangst, die Sorge um ihre rheumakranke Mutter, die immer von zwei Männern auf ihrem Stuhl in den Luftschutzkeller getragen werden musste, die Geräusche von splitternden Fenstern, das Echo der Druckwellen unter der Haut, die sie mehr als einmal von einer Ecke des Kellers in die andere warfen. Nein, Hilde Wandel braucht keinen Psychologen, um sich ihren Alptraum zu deuten. „Vielleicht“, sagt sie, „ist das eine der Bomben, die an meinem 20. Geburtstag fielen.“ Damals, am 6. März 1943, seien sie besonders nahe gefallen und der Aufenthalt im Keller ein Alptraum gewesen. Hilde Wandel erinnert sich gut an den Erdbeerkuchen, den ihre Mutter der nun erwachsenen Tochter gebacken hatte. Er war von Glassplittern übersät.
Derweil schüttelt Alina Weidemann gerade den letzten Tropfen Tee aus ihrer Thermoskanne in den Becher, den sie dann mit beiden Händen umklammert, um die Wärme herauszusaugen. Das ist ein aussichtsloses Unterfangen: Der Tee ist längst nur noch lauwarm. Seit 8 Uhr morgens bewacht die Auszubildende aus der städtischen Bußgeldstelle mit ihrer Kollegin Janett Meier aus dem Sozialamt einen Trampelpfad südlich der Großbeerenstraße, der direkt in den Sperrkreis führt. Bis auf einen Spaziergänger mit Hund versuchte in den fünf Stunden niemand, hier „durchzubrechen“, und selbst der verstand die Einwände sofort und machte kehrt. Alina Weidemann erzählt das mit Bedauern. Eine angeregte Debatte wäre zumindest eine kleine Abwechslung gewesen. Etwa 200 Verwaltungsmitarbeiter aus allen Abteilungen des Rathauses frösteln für Bombe 101 in gelben Warnwesten rund um den Sperrkreis um die Wette. Leere Kaffeebecher, Pizzaschachteln, Handschuhe und Schals erzählen von ihren Warmhalteversuchen. Gegen Mittag sind alle Themen angesprochen, der Blick auf die Uhr wird häufiger.
Um 11.30 Uhr hellen sich die Mienen auf: Der Einsatzleiter gibt endlich den Sperrkreis frei. Alle Anwohner sind raus, der Sprengmeister rückt nun dem Zünder zu Leibe.
Die Potsdamer waren diszipliniert. Brunhilde Schulz aus der Grünstraße verließ ihre vier Wände aber nur unter Protest: „Wir haben doch einen Luftschutzkeller“, sagte sie. Doch von besonderen Vorkommnissen wissen weder Verwaltung noch Polizei noch Feuerwehr. Ja, einige mussten nachdrücklich überredet werden, die Wohnung zu verlassen; ja, in einem Fall rückte der Schlüsseldienst an, um einen verbarrikadierten Anwohner von der Notwendigkeit der Räumung zu überzeugen; ja, etwa 35 Bürger, die schlecht zu Fuß sind, brachte die Feuerwehr mit dem Auto in die Ausweichquartiere am Schlaatz und in der Goethe-Schule. Aber sonst? Der Einsatzleiter schüttelt den Kopf und gießt sich Kaffee nach. Die Stadt ist Bomben gewohnt.
Hilde Wandel möchte sich nicht dran gewöhnen. Nicht, dass es ihr in der Turnhalle der Goethe-Schule missfiele, die für fünf Stunden ihre Unterkunft ist: 18 Bewohner aus dem Sperrkreis, überwiegend Rentner, treffen hier zusammen, das Gesundheitsamt empfängt sie mit Kaffee und Spekulatius. In der Halle sitzen die Evakuierten in einer Reihe und tauschen angeregt Details über Krankheit und Altersplagen aus. Nachdem alles gesagt ist, schauen sie stumm ins Leere. Hilde Wandel hingegen lässt die Erinnerungen schweifen. Es hilft ihr, die Nacht zu verarbeiten, sagt sie.
In Halina Kiriljug, die am Kartoffelhof arbeitet, aber heute wegen Sperrung frei hat, findet sie eine dankbare Zuhörerin. Kiriljug stammt aus der Ukraine, lebt seit sechs Jahren in Deutschland. In ihrer Heimat ist sie zweimal wegen Erdbeben evakuiert worden. „Das war aber nicht so lustig wie hier“, sagt sie und deutet mit der Kaffeetasse in die Runde. „Hier ist alles so organisiert, so – wie sagt man? – routiniert!“
Das wiederum ist ein Wort, das Manuel Kunzendorf meidet. Routine ist für Bombenentschärfer gefährlich. Dennoch war es ein normaler Arbeitstag, betont er, als er um 12.35 Uhr die Freigabe verkündet. Der Zünder ist raus, die Bombe transportbereit. Gefahr gebannt. Sozialdezernentin Elona Müller hat ihm eine Jumbopackung Dominosteine geschenkt, hoffend, man treffe vor Weihnachten dienstlich nicht mehr zusammen. Kunzendorf witzelt: „Sprengbombe entschärft, Kalorienbombe bekommen.“
Auch Hilde Wandel ist erleichtert, als die Nachricht in die Turnhalle durchdringt. Als kurz darauf die Schulklingel durchdringend schrillt, zuckt sie dennoch zusammen.

Erschienen am 23.11.2007

Absurd

Freitag, 16. November 2007

Die Vorstellung ist außerordentlich absurd: Für jeden Knirps, der sich bei der „Spirellibande“ eine warme Mahlzeit holt, müsste die Awo Meldung machen, damit seine Eltern weniger aus den Hartz-IV-Töpfen bekommen – schließlich erhält die Familie schon Geld für die Verpflegung des Kindes. Wo es keine „Spirellibande“ gibt, müssen sozial schwache Familien das Mittagsmahl schließlich vom Regelsatz bezahlen. Auch wenn das prinzipiell gerecht wäre, dürfte allein der finanzielle Aufwand, diese Meldungen entgegenzunehmen, in Geldwerte umzurechnen und vom Regelsatz abzuziehen, den erhofften Spareffekt bei weitem übersteigen. Dabei würde auch übersehen, dass Kinder, die sonst mittags ohne warme Mahlzeit blieben, nicht hungern, weil der Regelsatz zu niedrig ist, sondern weil die Eltern für das Geld oft eine andere Verwendung haben. So bliebe es bei allem guten Willen in Sachen Verteilungsgerechtigkeit mal wieder am schwächsten Glied der Kette, das Problem auszubaden: den Kindern. Dass die Paga daher soziales Gewissen vor Rechtslage gehen lässt, verdient Lob. Eine bundeseinheitliche Klärung dieser Frage drängt dennoch. Jede Küche, die bislang aus Unsicherheit kalt bleibt, ist eine zuviel.

Erschienen am 16.11.2007

Unverkrampft aufgelegt

Dienstag, 23. Oktober 2007

Zugegeben, es ist befremdend zu lesen, es gehe um „Körper, Liebe, Doktorspiele vom ersten bis dritten Lebensjahr“. Selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft, der reflexartig Tabulosigkeit vorgeworfen wird. Doch die mediale Sexualisierung, all die Hintern und Brüste, die über den Bildschirm flimmern, das Internet bevölkern und auf tausenden Zeitschriftenseiten prangen, sie ersetzen keine frühe „Sexualerziehung“, wenn es denn unbedingt dieses gruselige Wort sein muss. Wir tragen gern das Etikett „aufgeklärt“ mit uns herum, und spätestens seit Sigmund Freud weiß auch die Wissenschaft, was man doch längst geahnt hatte: dass Kinder eine Sexualität besitzen. Doch es scheint, als ließe man es gern dabei bewenden. Und so wird weiterhin eher verschämt und verdruckst Doktor gespielt, weil Kinder die Tabus spüren, die ihre Eltern schon lange nicht mehr hinterfragen oder gar zu pflegen leugnen. Eine entsprechende Kampagne, erst recht, wenn sie so frisch und unverkrampft aufgelegt wird wie in „Nase, Bauch und Po“, kann für die gern zitierte „psychosexuelle Entwicklung“ nur förderlich sein. Die Praxen der Psychologen sind voll von Menschen, die derlei nie genossen haben.

Erschienen am 23.10.2007

Kurze Wege, lange Betreuung

Dienstag, 16. Oktober 2007

Kita in Uni-Nähe eröffnet / Betreiber plant schon die nächste in Golm

EICHE Edwina hat beschlossen, das Konzept der Frühförderung ernst zu nehmen. Wie das so ist mit den wirklich wichtigen Entschlüssen, musste er schnell und ohne Rücksicht getroffen werden. Die Vierjährige mit den kecken Zöpfen und den tiefschwarzen Knopfaugen entschied sich für musikalische Frühförderung mit Schlaginstrumenten. Dass es ausgerechnet den Eröffnungstag der Uni-Kita an der Kaiser-Friedrich-Straße traf, mag sie bedauert haben, aber wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. So bearbeitete Edwina stoisch die Trommel, während gestern früh Wissenschaftsministerium Johanna Wanka (CDU), Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), die Rektoren der Uni und der Fachhochschule Potsdam und andere Honoratioren von Kita-Leiterin Martina Günther durch die großzügigen Räume geführt wurden, die das Studentenwerk im Erdgeschoss des Studentenwohnheims für rund 700 000 Euro errichtet hat. 33 Jungen und Mädchen werden seit einer Woche dort von sieben Erzieherinnen und zwei Praktikanten betreut, hauptsächlich die Kinder von Studierenden und Hochschul-Angestellten. „Externe“ dürfen zwar auch in diese Kita, aber nur, wenn Plätze frei sind, und danach sieht es auf absehbare Zeit nicht aus: Die 60 Plätze für Kinder zwischen zwei Monaten und sechs Jahren sind längst vergeben, 20 Elternpaare stehen auf der Warteliste. Es scheint, als haben die Eltern nur auf so ein uninahes Betreuungsangebot gewartet. Wie Martina Günther verriet, steht der Betreiber, die Kinderwelt gGmbH, wegen des Andrangs bereits mit den Hochschulen, der Stadt und dem Studentenwerk in Verhandlung, um in Golm eine weitere Kita zu ermöglichen.
Der gestrige Nachmittag gehörte den Eltern und Kindern. Edwina war mittlerweile auf ein Becken umgeschwenkt, das sie jedem erwartungsfroh entgegenhielt, in der Hoffnung, er würde es schlagen. In der Wahl der Mittel war sie nicht festgelegt und ließ Finger, Kugelschreiber und Kuchengabeln als Schlegel gelten. Stellte sich über längere Zeit kein Impulsgeber zur Verfügung, nahm die kleine Chinesin ihre Ausbildung selbst in die Hände und bediente sich der Fensterbretter, Stuhlkanten und Tischbeine zum Scheppern. Die 17 Monate alte Lilli tappte ihr eine Weile fasziniert hinterher, als fordere sie zur Polonaise auf. Lillis Mutter Marie Wohlbrandt schaute mit einem Lächeln zu, nach einem stressigen Tag: Sie nahm gestern ihr Lehramtsstudium auf und zeigte sich glücklich, einen Kita-Platz ergattert zu haben. Die kurzen Wege und vor allem die flexiblen Betreuungszeiten von 7 bis 20 Uhr kämen ihr sehr entgegen, sagte sie. Da sie erst am Samstag nach Potsdam zog, bleibe dank Uni-Kita ein wenig Zeit, die Wohnung herzurichten.
Wenige Stunden später rüsteten Günther und ihre Kolleginnen zur dritten Feier an diesem Tag: Die Kinderwelt dankte den Helfern. Danach ging für das Team ein langer, stressiger erster Tag zu Ende. Vermutlich haben ihnen dann die Ohren geklingelt.

Erschienen am 16.10.2007


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