„Soll ich bleiben oder gehen?“

Dokumentation Sie lernen Punkrock mit der Leselupe: „Young@Heart“ ist ein Seniorenchor der anderen Art

Eileen Hall hat als einzige im Seniorenheim einen eigenen Schlüssel – weil sie oft so spät von den Auftritten zurückkehrt, dass in ihrem Heim kein Mensch mehr wach ist. Die Eltern der meisten Künstler, deren Lieder Eileen Hall bei diesen Auftritten singt, waren noch nicht geboren, als Eileen schon ihr erstes Kind bekam – sie ist 92 Jahre alt. Doch in ihrem Chor mit dem schönen Namen Young@Heart („Jung im Herzen“) stellt sie keineswegs die Alterpräsidentin: Das Durchschnittsalter der Sänger aus Northampton (Massachusetts) beträgt 81 Jahre, das älteste aktive Mitglied war 101, das bisher jüngste 72.
Nach einem Londoner Konzert der 24 „Alten, die sich schlecht benehmen“ – so bezeichnet der Chor sich selbst – war der britische Regisseur Stephen Walker so begeistert, dass er nach Northampton reiste, um ein Portrait des Chores zu drehen, der allen Erwartungen an eine Seniorensingegruppe widerspricht. Der Film steigt mit einer Szene ein, wie man sie von Livemitschnitten eines Rockkonzerts kennt: Hämmernde Drums, eine noch leere Bühne, dicht gedrängt stehende, jubelnde Fans, die nach ihrem Star rufen. Dann ein orthopädischer Schuh in Großaufnahme, daneben schlägt im Rhythmus des Schlagzeugs eine Gehhilfe auf, schließlich betritt Eileen Hall die Bühne: Klein von Wuchs und gebeugt, doch groß in ihrer Präsenz und Lebensfreude: „Should I stay or should I go?“ (Soll ich bleiben oder gehen?) beginnt sie den berühmten „The Clash“-Song aus den 70ern – und das Publikum rast.
Damit ist das Tempo vorgegeben: Sie singen Punkrock, sie singen „Schizophrenia“ von Sonic Youth und auch sonst alles, was irgendwie selbstironisch auf ihr Alter passt: „We’re on a road to nowhere“ (Wir sind auf der Straße ins Nirgendwo), „I feel good“ oder „Yes, we can“, aber auch balladeskes wie „Fix You“ von Coldplay oder „Killing me softly“. Das tun sie so gut, dass sie nicht nur in der Heimat regelmäßig vor ausverkauften Häusern spielen, sondern auch zwei erfolgreiche Europatourneen absolvierten. Für manche ist der Chor ein neuer Lebensinhalt geworden, einige Mitglieder bekennen vor der Kamera, dass sie aus dem Spaß am Singen soviel Kraft bezögen, dass es sie am Leben erhalte.
Stephen Walker, der behauptet, er habe während der Dreharbeiten 24 neue Großeltern gewonnen, begleitete die Sängerinnen und Sänger über sechs Wochen – von der widerwilligen Probenaufnahme neuer Songs, die sich die meisten unter Zuhilfenahme von Leselupen erarbeiteten, über die immer wieder von Gesundheitsproblemen und zwei Todesfällen unterbrochenen Proben bis zum Konzert. Dass sie häufig auf den Beerdigungen ihrer Sangesbrüder und -schwestern auftreten, gehört ebenso zur Realität des Young@Heart-Chors wie die lebensverlängernde Kraft der Gemeinschaft und der Vorfreude auf die Auftritte.
Stephen Walker gelingt die schwierige Gratwanderung zwischen allzu rührseliger Berichterstattung über Krankheit und Tod auf der einen Seite und dem journalistischen Impuls, dem Publikum den Young@Heart-Chor als menschliches Kuriositätenkabinett anzudienen. Auch wenn der Film Züge von beidem trägt, fängt die fast schon liebevolle, enkelhafte Hingabe des Regisseurs an Chor und Sänger diese Ausschläge wieder auf. Am Ende hat auch der Kinobesucher einige neue Großeltern gewonnen – und etwas weniger Angst vor dem Alter.

Erschienen am 02.10.2008

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