Der mobile Märchenonkel

Wie ein Theater- Schauspieler zu den Grimms zurückfand, warum er Termine hasst und was ihn im Alter von 66 Jahren bewog, auf einem klapprigen Rad durch märkische Dörfer zu tingeln.

Er lässt die Satzenden gern wie lose Fäden in der Luft baumeln. Nicht so, dass sie sich verknoten würden, nicht so, als wären sie achtlos auf einen Haufen geworfen. Maximilian Ruethlein verheddert sie nicht, seine Sätze – dazu ist er zu diszipliniert –, er bricht sie nur zugunsten des folgenden Gedankens mittendrin ab und beginnt übergangslos den neuen. Die übrig gebliebenen Fragmente hängen dann, fein säuberlich aufgereiht, in der Abendluft wie feuchte Wäsche auf einer Leine.
Es ist daher nicht ganz leicht, Ruethlein zu lauschen. Irgendwann wird der Zuhörer es müde, die Sprünge nachzuvollziehen. Und seine Gedanken gehen eigene Wege. Das ist erstaunlich bei jemandem wie Ruethlein, der, wenn er mehr als nur einen Zuhörer hat, Märchen so packend erzählen kann, dass Kinder zu atmen vergessen und Erwachsene bereitwillig wieder zu Kindern werden und sich in Augenblicke zurückversetzt fühlen, in denen sie eingekringelt im warmen Bett lagen oder aufmerksam auf dem Schoß der Oma saßen und mit großen Augen die gruselig-schönen Geschichten vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin oder der Scheherazade hörten. Situationen also, die einmal alltäglich waren, doch es nicht mehr sind. Dass sie es nicht mehr sind, dass kaum noch jemand Märchen erzählt, ist Ruethleins Kapital – neben dem unergründlichen Märchenschatz in seinem Kopf, seiner sonoren Stimme und seiner Schauspieler-Seele, die am Theater geformt wurde. Ruethlein erzählt Märchen in Kitas, in Schulen, in Volkshochschulen, in Buchhandlungen, in Kirchen und auf Plätzen. Wann immer jemand möchte, wann immer jemand Zeit hat – normalerweise gegen Bezahlung, jetzt, auf seiner Spätsommertour auch gegen eine Mahlzeit oder eine Unterkunft für die Nacht.
Wenn er im Gespräch gedanklich allzu sehr auszufransen droht, zieht Maximilian Ruethlein die Notbremse. Er wendet dann den Blick von innen nach außen, sieht sein Gegenüber an, als sei er eben erwacht und fragt, ob er gerade wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen komme. Im Grunde erwartet er gar keine Antwort, und ein kurzes Zögern genügt ihm als Bestätigung. Dann lächelt Ruethlein wissend, nippt an seinem Kaffee und nimmt den Faden wieder auf. Einen neuen Faden.
Vielleicht ist daran auch die Einsamkeit schuld. Mehrere Wochen ist der Berliner nun schon mit dem Fahrrad durch die märkische Provinz unterwegs. Die Idee, seine Märchen auf einer spontanen Sommertour durch die Welt zu tragen, kam plötzlich, und Ruethlein gehört nicht zu den Menschen, die zögern, wenn sie plötzliche Ideen haben. Also packte er seinen großen Grimm, einen Schlafsack und etwas saubere Wäsche in den abgelederten Rucksack, der ihn schon durch Südamerika begleitete, holte sein klappriges blaues Fahrrad hervor und radelte los. Ohne Termine, ohne große Absprachen, ohne festes Ziel, ohne fixe Route. Es ging zunächst nach Potsdam, wo Ruethlein im Eine-Welt-Laden erzählte, dann nach Drewitz, weil er dorthin eine spontane Einladung bekam und schließlich im Nieselregen nach Rathenow.
Wenn es beschwerlich oder einsam wird, wenn ihn das Wetter im Stich lässt oder er kein Quartier für die Nacht findet – was allerdings selten ist –, dann tröstet sich Maximilian Ruethlein mit seinen Märchen. „Ich erzähl mir dann eins“ heißt das in seinen Worten. Er schwört auf die tröstende Kraft der Urbilder, als die er Märchen begreift. Märchen tragen zu innerer Zufriedenheit bei, sagt er, sie unterwandern den Verstand, indem sie an Älteres und Größeres rühren und haben daher eine unmittelbare Wirkung.
Seit mehr als 20 Jahren sät und erntet Ruethlein Märchen. Zehn Jahre lang war er zuvor am Renaissance-Theater, spielte in Brechts „Arturo Ui“, spielte Ibsens Dramen und was das damalige Startheater unter Heribert Sasse noch so im Repertoire hatte, verdingte sich als Dramaturg, Regisseur und Stückeschreiber. Doch Ende der 80er Jahre, mit 48 und „voll im Saft“, wie er betont, beschlich ihn das Gefühl, dass er sich dort und mit seinem Universitätswissen nicht finden könne. Also warf Ruethlein hin und gründete die Märchenwerkstatt, weil er in Märchen eine „Anleitung zum kreativen Handeln“ sah und sieht, eine Verbindung von Geist und Seele, die ihm am akademischen Theater fehlte. Es lief ziemlich schnell ziemlich gut. Ins Kreuzberger „Café Graefe“, seine erste Spielstätte, kamen am ersten Abend fünf Leute, am zweiten Abend 20 und am dritten war es bereits so voll, dass die Leute auf dem Boden sitzen mussten. Ruethlein hatte sein Element gefunden, er verdiente gutes Geld, wie er sagt, tingelte tagsüber durch Schulen und Kindergärten und spielte abends sein Programm für Erwachsene. Nebenher bildete er Märchenerzähler aus, die ihm nun Konkurrenz machen.
Aus seinem Bedauern darüber, dass diese Zeiten vorbei sind, macht Maximilian Ruethlein heute keinen Hehl. Zu resignieren entspräche aber nicht seinem Naturell. Als die städtischen Gelder knapper wurden, brach er nach Südamerika auf und fuhr zweimal acht Monate lang mit dem Bus von deutscher Schule zu deutscher Schule, um Grimms Wort nach Lateinamerika zu tragen. Natürlich war er vorher nicht angemeldet, natürlich wusste vorher niemand, dass da einer kommen würde, der den „Froschkönig“ erzählt, singt und tanzt. Das wäre gegen Ruethleins Überzeugung gewesen: Das kreative Handeln verträgt keine Planung. Handeln statt Grübeln ist des Märchenerzählers Credo, er fährt so ziellos durch die Welt, wie er seine Sätze bildet.
Seine größten Glücksmomente entstehen dann, wenn er sich nur von seinem Instinkt leiten lässt, und sich auf wundersame Weise alles fügt. Die Radtour, die Mitte August begann und dieser Tage endet, scheint ein solches Erlebnis zu werden: „Ich bin ohne Erwartungen los, habe meinen Job gemacht, und zwar offenbar so gut wie noch nie, wenn ich an all das Lob denke.“
Ruethlein rollt seinen Schlafsack aus, wo er eine Einladung bekommt, er fährt, wohin der Wind oder der Tipp der Kita-Leiterin vom Vortag ihn tragen, wenn es gut läuft, bleibt er ein paar Tage, wenn nicht, ist er am nächsten Morgen auf und davon. Wenn er erst in fünf Tagen auftreten könnte, wo er gerade ohnehin schon vorspricht, winkt er dankend ab. Zuviel Fixierung. Auch ein Handy hat er nicht dabei, obwohl es manches vereinfachen würde. Wer sich mit ihm treffen will, muss warten, bis Ruethlein von einer Telefonzelle aus anruft und dann zur abgemachten Stunde an einer Bushaltestelle in irgend einem märkischen Dorf auftauchen.
Ist das nicht anstrengend? Darüber denke er nicht nach, sagt der 66-Jährige. „Würde ich nachdenken, bräche ich nie auf. Ich bin jemand, der schnell alle Für und Wider erwägt. Vor allem die Wider, deshalb darf ich nicht ins Denken geraten.“ Ein paar Zugeständnisse hat ihm die Tour dennoch abgetrotzt: Das Schlafen unter freiem Himmel nimmt ihm der Rücken auf die Dauer krumm, und auch ein etwas weniger klappriges Fahrrad hält Ruethlein mittlerweile für ratsam. Falls sich da ein Sponsor fände, würde er nicht nein sagen.
Es ist eine unweigerliche Folge des Ruethleinschen Spontanitäts-Kultes, einzelne Brüche und Abbrüche als Teil des Weges zu begreifen. Sein Studium der Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaften hat er nicht abgeschlossen. Mit 19 verdrückte er sich zunächst nach Indien, um per Anhalter den Subkontinent zu ergründen. Das Vorhaben, Erwachsenentheater zu machen, stellte er ein, als er merkte, dass der von ihm dramatisierte „Parzival“ des mittelalterlichen Dichters Wolfram von Eschenbach sich nicht wie ein Märchen inszenieren ließ. Auf der Tour musste der Plan, ein Tagebuch im Internet zu führen, dran glauben. Auch Pläne sind für Ruethlein so etwas wie Sätze: Man kann viel anfangen, muss aber nicht alles zu Ende führen, wenn Instinkt oder Fügung sich der Spontanität in den Weg werfen. Auf diese Weise entschlief Ruethleins Filmkarriere, die neben Auftritten in Otto- und Didi-Hallervorden-Filmen auch internationale Produktionen enthielt.
All diese angefangenen Lebensfäden hängen mittlerweile aufgereiht in der Abendluft, während Ruethlein Kindern vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin und von der Scheherazade erzählt. Immer dort, wohin der Weg, der Wind oder ein Wink des Schicksals ihn gerade trugen.

Kontakt zu Maximilian Ruethlein über Horst Edler, Tel. 0172/ 32032 52.

Erschienen am 20.09.2008

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