Archiv für die Kategorie „Kritik/Rezension“

NACHSCHLAG: Der guten Würze zu viel

Freitag, 14. September 2012

Das „Café Heider“ nennt sich zu Recht das Wohnzimmer der Stadt: Gemütlich, freundlich, kleine Macken

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Den Potsdamern das Café Heider zu erklären, das ist ein bisschen, als zeige man ihnen, wo der Park Sanssouci liegt. Wir wagen es dennoch, schließlich bezeichnet sich das Restaurant und Caféhaus als „Wohnzimmer der Stadt“ – und über fremde Wohnzimmer redet man gern. Es ist wochentags, der letzte Sommernachmittag, kurz nach 14 Uhr, das Café Heider ist halbvoll, dafür gibt’s draußen keinen freien Platz mehr – alles genießt die letzten Sonnenstrahlen. Also rein, neben der Tür zum Platz ist ein Tischchen frei, vier Kellner bespielen Haus und Platz und haben enorm zu tun, bleiben aber freundlich – untereinander und zum Gast. Einem redebedürftigen Rentnerpaar zuliebe bleibt die hübsche Kellnerin (das hat Tradition im Heider, hier hat sogar Wolfgang Joop Franziska Knuppe entdeckt) sogar nach dem Zahlen noch zu einem Mini-Schwatz stehen, obgleich von draußen jemand wenig galant ihre Aufmerksamkeit fordert: „Kommt ooch eena raus oda watt?“ Sie enteilt.
Die Karte ist lang und zeigt, warum Café Heider auf dem ersten Wort betont wird: Mehrere Seiten voller Tees, Kaffeespezialitäten, heißen Schokoladen, dazu ein umfangreiches Frühstücksangebot – und zwei Seiten mit Essen, darunter Caféhaustypisches wie Wiener Schnitzel mit lauwarmem Kartoffelsalat, aber auch Suppen und Snacks für den kleinen Hunger. Den Mittagsgast zwischen 11.30 Uhr und 14 Uhr erwartet ein wechselndes Gericht für 6,90 Euro – in dieser Woche von Hähnchencurry über Königsberger Klopse und Currywurst bist Pasta – und ein wöchentlich wechselndes Gericht von der Hauptkarte, das um 15 Prozent günstiger und mit einem Kaffee zum Nachspülen angeboten wird.
Dafür ist es aber etwas zu spät, daher greifen wir in die Vollen – heißt: zum teuersten Gericht – und ordern das Rumpsteak nebst quarkübergossener Ofenkartoffel und Salatbeilage (17,50 Euro), dazu – es ist ja noch Mittag – eine große Fassbrause (3,40 Euro), obschon die kleine, aber hervorragende Weinauswahl lockt. Obwohl die Kellner viel zu tun haben, kommen sie schnell und bleiben auch beim Tester ausnehmend freundlich. Ebensoschnell kommt das Essen – nicht so schnell, dass wir die Mikrowelle im Verdacht haben, hier unterstützend eingegriffen zu haben, aber auch nicht so spät, wie wir angesichts des touristengefluteten „Heider“ befürchteten.
Die Backkartoffel ist riesig und anfangs noch heiß, was natürgemäß wegen des Quarks schnell nachlässt. Das Rumpsteak lässt nicht auf überzogenen Sparwillen schließen, wurde aber seines kleinen Fettrandes beraubt, eine Unsitte, die angesichts des Trends zur gesunden Küche zwar zunehmend um sich greift, das Rumpsteak aber streng genommen zu einem teureren Hüftsteak degradiert, denn der kleine Fettrand im ansonsten mageren Fleisch ist eigentlich Teil der Definition. Caféhaustypisch werden keine großen Locken auf dem Teller gedreht, das Auge freut sich aber über die dicke Schicht aus Pfeffer, Salz und Gewürzen, die das Steak auf dessen gesamter Länge bedeckt. Die Zunge nicht. Es ist einfach zuviel. Zu salzig, zu pfeffrig, zu würzig. Nach dem ersten Bissen gebrauchen wir das Messer daher als Schabehilfe, und ein Berg Gewürze häuft sich neben das Steak. Das war übrigens „medium“ gebraten bestellt, kommt aber durchgebraten an. Nur in der absoluten Mitte hält sich trotzig ein Minikern rosafarbenen Fleisches. Schade. Zum Abschluss darf’s noch ein doppelter Espresso (3,40 Euro) sein, um die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Der ist wie erwartet klein, stark, schwarz und lecker. Am dazu gereichten Wasserglas indes klebt ein schokoladiger Fingerabdruck. Besser könnte man den Besuch nicht zusammenfassen: Kleine Mängel, aber gemütlich, freundlich, zentral gelegen, kurzum: ein typisches Wohnzimmer.

Erschienen am 14.09.2012

NACHSCHLAG: Nostalgie vom Drehgrill

Montag, 2. Juli 2012

Die „Globus Grillbar“ hat zwar den falschen Namen, aber noch das richtige Flair – und die besten Hühnchen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Über der Tür steht „Globus Grillbar“. Wer diesen Namen benutzt, hat sich allerdings sofort entweder als Zugezogener oder als Unter-30-Jähriger geoutet. Alle anderen nennen die kleine Einrichtung Am Kanal nämlich beharrlich weiter „Goldbroiler“, wie sie bis zur Wende hieß. Man könnte sie auch „Aquarium“ nennen, denn durch die riesigen Fenster zur Straße hat man nicht nur einen schönen Blick hinaus, sondern auch hinein.
Drinnen ist es spartanisch, aber modern eingerichtet; den Raum dominiert eine große, verspiegelte Bar, hinter der die Broiler brutzeln. Der klassische Drehgrill, der es gestattete, dem eigenen Mittagsmahl bei der Vergoldung zuzusehen, fehlt leider. Dank warmer Beleuchtung und ein paar Pflanzen wirken die runden Resopaltischchen mit je zwei Stühlen dran nicht ganz so karg. Es ist Mittagszeit, die Tische sind gut besetzt: Angestellte der umliegenden Läden und Kanzleien, FH-Studenten, Touristen und Rentner auf Einkaufstour dominieren. Ein Pärchen mit hörbar sächsischer Herkunft kommt herein, schaut sich um und er sagt zu ihr: „Gugg ma, fast wie früher“.
Die laminierte Speisekarte ist quietschbunt, aber übersichtlich. Der Broiler heißt touri-kompatibel jetzt Viertel- oder halbes Hähnchen und kostet pur zwei respektive drei Euro, mit Brötchen 25 Cent mehr, mit Pommes einen Euro plus. Wer Majo oder Ketchup möchte, legt nochmal 25 Cent drauf und ist trotzdem preiswert satt geworden. Für den weltgewandten Gast gibt’s auch noch Hähnchen Cordon Bleu (8,40 Euro) und Thaihuhn in Kokossoße mit Reis (5,80), für Geflügelverweigerer Beefsteak mit Röstzwiebeln (6,80) und für das komplette Ostalgie-Gefühl ein Ragout fin vorweg (4 Euro), natürlich in der DDR-Variante mit Huhn statt Kalb. Wir entscheiden uns für den halben „Gummiadler“ nebst Pommes (die in den 1980ern auch im Goldbroiler angebotenen Pommes waren legendär!) und einer Tüte Majo, dazu darfs eine Cola sein, die aber aus dem „imperialistischen Ausland“ kommt. Vita- oder Club-Cola aus dem Osten gibt’s nicht. Dafür sind die Teller „Made in GdR“, Marke „Inglasur Colditz“. Herrlich. Trotz Imbiss-Preisen wird man im Grill bedient von einer netten Dame mit leicht osteuropäischem Akzent. Nur die Dederon-Schürze fehlt. Der Broiler ist schlicht fantastisch. Schön heiß, schön frisch, saftig die Keule, faserig der Flügel, mit Curry und Paprika gewürzt, eine Köstlichkeit, wie sie in der berühmten Neptun-Bar Rostock nicht besser zu bekommen gewesen wäre. Auch die Pommes präsentieren sich ohne Fehl und Tadel, schon leicht abgekühlt zwar, aber reichlich viele, groß und kaum fettig. Die Gemüsegarnitur allerdings erfüllt nur Dekorations- und Alibizwecke. Die paar Gurkenstiftel und das Sechzehntel einer Tomatenscheibe, gekrönt von einem im Sterben liegenden Petersilieblatt, passen zusammen auf eine Gabel.
Nach dieser Riesenportion stellt sich eine fast schon sozialistische Arbeitsmoral ein. Abhilfe verspricht entweder die Abteilung heimisch-hochprozentig (Wilthener Goldkrone, Nordhäuser Doppelkorn oder Wodka Gorbatschow, alles 1,30 Euro) oder modern-aufputschend (Espresso, Cappuccino, Latte Macchiato 1,50–2,50 Euro). Da es noch Mittag ist, entscheiden wir uns für Letzteres und sind erfreut, frisch Gebrühtes aus frisch gemahlenen Bohnen zu bekommen mit einer tollen, nussigen Crema. Wir schämen uns einen Moment, dass wir insgeheim Muckefuck oder gefriergetrockneten Cappucino aus der Tüte, mit kochendem Wasser aufgequollen, befürchtet hatten. Mit dem Koffein flutet ein kindliches Nostalgie- und Wohlgefühl den Körper und wärmt nicht nur den Bauch, sondern auch die Seele. Das gibt es in der Global Grillbar kostenlos obendrauf. Wer’s erleben möchte oder einfach gute Grillhähnchen mag, sollte mal reinschauen. Für Tage mit „Westbesuch“ gibt’s andere Lokale.

Erschienen am 02.07.2012

NACHSCHLAG. „Miesmuschel … auf einer Art Kloß“

Freitag, 6. Januar 2012

Das „Jero“ bietet französische Küche auf höchstem Niveau, ohne Gourmetpreise zu verlangen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter der MAZ sind als anonyme Tester unterwegs.

Beim Blick durch die Schaufenster bleibt zunächst unklar, ob es sich beim „Jero“ nun um ein Restaurant oder ein Gourmetgeschäft mit französischen Spezialitäten handelt. Bei näherer Betrachtung indes zeigt sich – es ist beides. Und das zu beiderlei Vorteil: Der Einkäufer, der nur Beaujolais oder Rohmilchkäse erwerben möchte, wird von den wenigen, liebevoll im Edel-Bistro-Stil gedeckten Tischen verführt, als Gast wiederzukommen. Und der Gast, so er denn mit der Küche zufrieden war, kann Wein und Roquefort zur Verlängerung des kulinarischen Eindrucks mit nach Hause nehmen. Wir treffen an einem Freitagabend ein, die wenigen Tische im Verkaufsraum sind besetzt, doch wir müssen weder warten noch weichen: Ein paar Stufen höher ist es nicht nur ruhiger, sondern auch separierter, denn der Aquariumseffekt für die Flaneure auf der Friedrich-Ebert-Straße entfällt. Zwischen dunklem Holz und auf festem Leder sitzt es sich gut und nobel, die Schiffsvertäuung an den Wänden fügt eine rustikale Note hinzu und rettet den Brasserie-Charme von unten herauf. Die Bedienung kommt prompt und begrüßt uns auf französisch, wechselt nach einem tiefen Blick in unsere erschreckten Gesichter aber nahtlos ins Hochdeutsch mit charmantem Akzent. Die Karten sind bistrotypisch übersichtlich gehalten: Alle Gerichte passen auf ein Blatt, alle Getränke auf ein zweites. Wir starten mit einem Meeresfrüchtesalat (15,50 Euro), der als Meeresanteil kleine Garnelen und Scheiben vom Tintenfischarm mit sich bringt. Sehr schön komponiert und mit Limone und Olivenöl fein abgeschmeckt, zwar sehr kalt serviert, aber geschmacklich ohne Tadel. Zum Hauptgang darf es Tartar sein, 180 Gramm rohes Hackfleisch aus der Rinderlende, klassisch serviert mit einem Eigelb und Limetten-Creme-Fraiche als Note des Hauses (18,50 Euro). Die Aussicht auf klassisch angerichtetes Tartar hatte uns schon auf der Straße verführt und war der Anlass, das „Jero“ zu erkunden. Bis uns das Hackfleisch erreicht, bringt ein junger Kellner zunächst einen Gruß aus der Küche, schwungvoll angekündigt als „Miesmuschel auf … äh … ähm … tja … also … nun … Miesmuschel auf … naja … einer Art Kloß“. Sprach’s und verschwand mit einem entschuldigenden Lächeln. Das Tartar ist ohne Fehl und Tadel, frisch, weich, saftig und, da roh, naturgemäß schwer verdaulich. Glücklicherweise hilft der „Wein des Tages“, ein roter Bordeaux (0,2-Glas 6,90 Euro), beim Verdauen. Ohne Fehl und Tadel, entlockt aber auch keine Begeisterung. In einem Gourmetfachgeschäft hätten wir etwas mehr erwartet. Nur mit Not passt noch eine Crème caramel (7,50 Euro) hinterher, doch nach so viel roher Fleischgewalt schreit der Gaumen nach einem süßen Ende. Derart gepäppelt ist der Rückweg über die Treppe fast schon eine Herausforderung, ein kurzes Flanieren über die Ebert-Straße tut Not. Von dort lässt sich neidvoll auf jene hinter der Scheibe schauen, die den Genuss noch vor sich haben.

Erschienen am 06.01.2012

NACHSCHLAG. Gänseleber ohne Gala-Uniform

Freitag, 8. Juli 2011

Speckers Landhaus vereint großartiges Essen mit einer unkonventionellen Atmosphäre

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Mit dem Motto „Gänseleber in Jeans“ lockt Gourmetgastronom Gottfried Specker in sein „Landhaus“, das er zusammen mit Tochter Tina als „Maitre“ und Schwiegersohn Steffen am Herd betreibt. Wir probieren das aus: Nach einem Spaziergang, etwas zerzaust und vom Regen überrascht, fallen wir an einem kühlen Samstagabend bei „Speckers“ ein. Einen schönen Tisch zu bekommen, ist kein Problem, auch ohne Voranmeldung nicht, und niemand schaut pikiert ob der fehlenden Abendgarderobe. Das rustikal, fast ein wenig verspielt eingerichtete Lokal ist dennoch neutral genug, um weder im Anzug noch in Wanderermontur unangenehm aufzufallen. Im kühlen Biergarten sitzt Ex-EU-Kommissar Günther Verheugen in Damenbegleitung, umschwärmt vom Patron Specker. Verheugen hat von „Gänseleber in Jeans“ offenbar nichts gehört, er ist im Anzug erschienen, seine Begleitung im Abendkleid. Anfänger!
Die kurze Karte bietet für notorisch Unentschlossene das fertig konfektionierte Drei-Gang-Frühlingsmenü mit thailändischer Hummersuppe, Salzwiesenlamm und Zitrusfrüchten an Aloe-Vera-Sorbet an (32 Euro), Vegetarier werden beim Vegi-Menü mit Tomatenschaumsuppe und kross gebratenem Tofu (32 Euro) fleischlos glücklich. Wir wagen den großen Zugriff und kombinieren einzeln: zur Vorspeise die mit Ziegenkäse gefüllten Teigtaschen, die mit Holunderhonig und Balsamicoessig verfeinert ein hübsches Zusammenspiel von süß, kräftig und mild zeigen (12 Euro), sowie den Ochsentafelspitz im eigenen Gelee, dessen Sommertrüffel-Garnitur eine südfranzösische Note in das urdeutsche Gericht bringt (12 Euro). Die dazu gereichte violette Kartoffelcreme hätte sicher auch in einer anderen Farbe gut geschmeckt, sorgte dank dieses Farbtupfers aber für einen weiteren Sommergefühlsbonuspunkt. Zwischendrin grüßt Steffen Specker aus der Küche mit einem Matjeshappen auf roter Beete und belegt damit, dass er auch im Detail ein Perfektionist ist: Der Happen schmeckt selbst dem erklärten Rote-Beete-Hasser. Die Zeit bis zum Hauptgang krönt ein weiteres Detail: hausgebackenes Brot, dazu Essig und Öl und das von Specker angemischte Wildkräutersalz, das allein den Besuch gerechtfertigt hätte. Stilecht aus dem kleinen Fässchen löffelt der Gast eine geheimnisvolle Mischung auf das noch warme Brot, die unter anderem getrocknete Kornblumen enthält und wie eine Wiese im Hochsommer duftet – perfekt. Zum Hauptgange wählt die Dame das Entrecôte vom Black-Angus-Rind, klassisch mit grünem Spargel und Sauce Bérnaise (23 Euro). Die Bérnaise kommt gewaltig daher, was den Spargel hervorragend begleitet, das zarte Entrecôte aber glatt unter sich begräbt. Doch das ist eine Klagen auf sehr hohem Niveau. Auch eine Spur weniger Estragon hätte die Soße möglicherweise entschärft. Der andere Hauptgang, das in Heu gegarte Salzwiesenlamm (22 Euro) hinterlässt begeisterte Sprachlosigkeit: Perfekt gegartes Fleisch, das die Sommerwiesen-Assoziation des Kräutersalzes dank der Heugarung zärtlich wiederbelebte, dazu rustikale Perlgraupen und das beigelegte Honiggemüse nur leicht sautiert lassen vom Sommer träumen. Alles ruft nach einem leichte Roséwein, doch wir haben uns wegen der Kühle und des dunklen Fleisches für einen roten Ladoix entschieden, der mit seiner Undifferenziertheit hinter den Erwartungen und dem Preis (45 Euro) zurückbleibt. Das Soufflé aus Turroné-Mandeln mit Erdbeersorbet (10 Euro) entschädigt aber nicht nur dafür, der grandiose feinherbe Riesling von einem Gut Günther Jauchs (6 Euro) lässt den Abend auch noch weintechnisch begeisternd ausklingen – es war kein besserer Soufflébegleiter denkbar.
Beim Weg hinaus fällt der Blick auf Vater und Schwiegersohn Specker, die rauchend und leicht fröstelnd am Ende ihres Tagwerks im Hof stehen, den Blick zu den Sternen gerichtet, und über Geschmacksnuancen und Gästewünsche plaudern. Spätestens jetzt wird klar: Eine bessere Mischung aus großartigem Essen und unkonventioneller Atmosphäre ist kaum denkbar.

Erschienen am 08.07.2011

Vulkanausbruch in der Mundhöhle

Samstag, 26. März 2011

Nachschlag: Das Curry Culture hat leckere Würste zu zivilen Preisen – und Soßen für Jungs, die hart sein wollen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Der Weg in die Hölle ist mit vier Stufen versehen, die da lauten: Feuriger Pfad, Krakatau, Montezumas Rache und das Jüngste Gericht. Man kann diese Namen albern finden, aber wer die Currysoßen probiert, die sie bezeichnen, billigt ihnen augenblicklich einen gewissen Respekt zu. Auch sieht der Vorhof der Hölle vergleichsweise einladend aus: Das „Curry Culture“ ist der jüngste Spross in der reichhaltigen Imbiss-Landschaft der Bahnhofspassagen und lockt mit einem satten Paprika-Orange vorbeihetzende Passanten an den Tresen. Dort haben sie die Wahl zwischen klassischer Currywurst, Kalbscurrywurst, Krakauer, Chiliwurst, Bratwurst, Schaschlikspieß und Knusperschnitzel – am besten im Menü mit Pommes Frites und einem kleinen Getränk. Zwischen vier (Bratwurst) und sechs Euro (Schnitzel) werden dafür fällig.
Die Stars sind aber die Soßen, nicht nur die Dips für die „besten Pommes weit und breit“, wie ein Plakat kündet – Schnittlauchcreme, Quark, Knoblauch, Honig-Senf, Mayo – sondern eben jene Feuerpasten. Für den vorgebildeten Chilifreund stehen die Scoville-Werte der Soßen an jedem Platz. Die Scoville-Skala gibt die Schärfe von Paprika an, in dem sie den Gehalt an Capsaicin, das für die Schärfeempfindung zuständig ist, angibt. Eine Gemüsepaprika hat null, reines Capsaicin hat 15 Millionen Punkte auf der Skala. Ein Tropfen davon auf der Zunge genügt, um in Ohnmacht zu fallen. Wir probieren alle vier Soßen – mit einer Kalbscurrywurst, die wir zunächst kosten, so lange noch ein Rest Geschmackssinn im Mundraum regiert. Sie ist heiß, weich, außen schön kross, zartes Fleisch – wie eine Curry sein soll.
Los geht’s mit dem Feurigen Pfad (150 000), eine klassische Soße für Currywurstfans, die es gern etwas pikant mögen. Hat eine gewisse Schärfe, tut aber niemandem wirklich weh. So ermutigt, ist der Krakatau (300 000) dran. Das war ein Vulkan, der 1883 sich in unbewohntes Gebiet ergoss. Die Mundhöhle des Testers ist hingegen höchst lebendig. Noch. Sie bleibt es auch danach. Krakatau beißt zwar schon gehörig in die Schleimhäute, und eine gesamte Currywurst mit dieser Soße wäre schon irgendwo zwischen Genuss und Grenzwertigkeit anzusiedeln, aber um Frauen oder die Fußballkumpels zu beeindrucken, tun Männer ja so was. Immerhin: Der Tester zieht jetzt die Jacke aus. Ihm ist „irgendwie warm“ geworden. Es folgt Montezumas Rache (600 000). Kein schöner Name für ein Lebensmittel, weil sofort Assoziationen an Reisekrankheit und Urlaubswochen auf der Toilette auftauchen. Aber sei’s drum. Montezuma ist hinterlistig, denn die tastende Zunge erschmeckt zunächst nur Fruchtigkeit. Auch der Gaumen. Verdutztes Innehalten. Dann zündet der Nachbrenner. Es ist Zeit, den obersten Hemdknopf zu öffnen und von Nasen- auf Mundatmung zu wechseln – in dem sinnlosen Versuch, die gebeutelten Geschmacksknospen zu kühlen. Der Cola-Verbrauch steigt und verschafft die Illusion von Kühlung, obgleich wir vorab doch gelesen haben, dass nur Fett oder Alkohol das Capsaicin leidlich bändigen. Für einen Schnaps im Dienst ist es aber zu früh, und die sicherheitshalber mitgebrachte Schlagsahneflasche zu öffnen kommt nicht in Frage, so lange der wirklich nette Herr hinter der Theke so dämlich und erwartungsvoll grinst.
Also zum Finale. Das Jüngste Gericht bringt eine Million Punkte auf der Scoville-Skala und den Respekt der zwei Bauarbeiter, die am selben Tisch sitzen. „Alle Achtung!“ sagen sie, das kommt nicht oft vor. Es bleibt nicht viel Zeit, sich daran zu erfreuen. Der Mundraum verwandelt sich in ein flammendes Inferno, der Tester liefe am liebsten los und wird nur noch vom Berufsethos an den Platz gefesselt. Das Zahnfleisch scheint sich zurückziehen zu wollen, es spannt, es brennt und die Gesichtsfarbe nimmt das intensive Feuerwehrrot der Soße an. Die Serviette wird zum Abtupfen der Stirn benötigt, und eine ältere Damen gegenüber tippt beunruhigt ihren Mann an und schaut, als führe sie an einem Autounfall vorbei. Die Atemfrequenz liegt deutlich über 100, nur bringt das stoßweise Kühlen des Mundraums nichts. Das Capsaicin reizt zwar die selben Nerven, die auch Hitze melden. Jetzt hilft nur noch Geduld. In all das Leiden hinein sagt der Mann hinter der Theke, um Frauen zu beeindrucken, schaffen manche Männer davon sogar eine ganze Currywurst. Wir halten das für missverstandene Liebe.

Erschienen am 26.03.2011

Nachschlag: Kardinalfehler: kaltes Fleisch

Freitag, 17. September 2010

Gastronomie: Der Dönergrill am Bahnhof Babelsberg hat exotische Soßen und zivile Preise

Café, Kneipe, und Ausflugslokal, Spitzenrestaurant oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

POTSDAM |  Von draußen hat er’s ja schwer, der Dönerladen im Bahnhof Babelsberg: Nicht mal ein Name verrät seine Existenz, lediglich zwei gelbe Aufkleber in den Fensterscheiben – „Döner Drehspieß“ und „1/2 Grillhähnchen“ verraten, was einen drinnen erwartet. Die in den Aufklebern vorgesehenen Plätze für den Preis sind leer geblieben – nur ein einsames Komma trennt hier die fehlenden Euro von den abwesenden Cent-Beträgen. Er muss also innere Werte haben, der Döner, denn das Geschäft ist zu jeder Tages- und Nachtzeit gut frequentiert. Die Ladenfläche ist klein, und die zwei Zugänge – einer von der Straße, einer aus der Bahnhofshalle – sorgen dafür, dass man ständig im Weg steht. Immerhin wirkt alles leidlich sauber, und die Auslage präsentiert die frisch geschnittenen Salate sowie halbe und ganze Hähnchen, Buletten und Bratwürste. Die Rückwand über dem Thresen gehört der Preistabelle, die sich sehen lassen kann: Döner für 2,80 Euro, mit doppelt Fleisch für 3,80, Türkische Pizza und Dürümdöner (in der Teigrolle) für 3,30 Euro; das halbe Huhn für 2,60, das ganze für fünf Euro. Bratwurst und Buletten je 1,50, den Kaffee gibt’s für einen Euro, die anderen Getränke für 1,25.
Wir machen die Probe und ordern zwei Döner – einmal klassisch scharf („Hexensoße“), einmal exotisch: Currysoße und „Südsee“ sollen aufs Fladenbrot. Das hat am späten Nachmittag den Zenit seiner Fluffigkeit natürlich längst überschritten, weshalb der Brötchengrill zum Einsatz kommt. Kommen sollte, muss man sagen, denn es wird exakt zwei Sekunden zwischen die heißen Eisen gepackt, genauso gut hätte der Dönermann es auch dran vorbei tragen können. Dann die zweite Enttäuschung: Er macht den Döner-Kardinalfehler und schneidet das Fleisch nicht frisch herunter, sondern bedient sich mit der Zange beim schon abgekühlten, geschnittenen Fleisch am Fuße des Spießes, während es oben lecker und warm brutzelt. Unsere Nachfrage, ob wir frisches Fleisch haben könnten, ignoriert der Dönermann. Schade. Der Salat indes ist nicht nur frisch geschnitten, er schmeckt auch frisch. Die Currysoße ist außerordentlich spicy und verdient daher Lob, zumal sie nicht zu den Standards gehört. Gleiches gilt für die „Südsee“-Soße, in der wir allerdings vergeblich nach den angekündigten „exotischen Früchten“ gesucht haben. Sie schmeckt einigermaßen synthetisch, als habe sich hier ein Lebensmittelchemiker verwirklicht. Außerdem spart der Dönermann mit dieser Soße, auf die Frage, ob wir etwas mehr bekommen könnten, heißt es nur lakonisch „is teuer“. Das soll offenbar „nein“ bedeuten. Die Hexensoße im zweiten Döner hingegen lässt keinerlei Wünsche an Menge und Schärfe offen, wie die hervorquellenden Augen des Kosters belegen. Immerhin steht ausreichend Löschwasser zu moderaten Preisen zur Verfügung.

Erschienen am 17.09.2010

Nachschlag: Refugium im Landgasthausstil

Samstag, 24. Juli 2010

Die „Maison Charlotte“ empfiehlt sich als romantischer Rückzugsraum mit hohem kulinarischen Anspruch

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

POTSDAM |  Holzstühle an dunklen Holztischen und Platten von Weinkisten an den Wänden drinnen, Korbsessel und Karotischdecken draußen – von den drei Restaurants, die Ralf Junick in Potsdam betreibt, ist das „Maison Charlotte“ im Holländischen Viertel das rustikalste – im besten Wortsinn. Das „Charlotte“ hat sich nicht nur auf französische Küche spezialisiert, es erinnert auch in der detailfrohen Ausstattung an ein französisches Landgasthaus. Die Plätze sind, besonders im Winter, wenn der Innenhof mit dem schattenspendenden Nussbaum nicht zur Verfügung steht, begrenzt: Daher empfielt sich das Charlotte einerseits als romantischer Rückzugsort, es macht aber gerade an den Wochenenden eine Reservierung ratsam.
Die Karte lockt schon von der Straße mit Elsässer Flammkuchen zu zivilen Preisen von urtümlich belegt (mit Schmand, Speck und Zwiebeln für 8 Euro) bis ambitioniert (mit Rucola, Räucherlachs und Honig-Senf-Dill-Sauce für 12,50 Euro), bietet aber auch der verfeinerten Zunge genug Auswahl zu Preisen von bis zu 22 Euro für einen Hauptgang.
Ein Platz im Inneren kommt an diesem heißen Höchstsommertag nicht in Frage, schnell ist ein schattiger Tisch, beschirmt von Baum und Sonnensegel gefunden. Zur Abkühlung drängt sich ein eleganter Elsässer Cremant rosé auf. Er begleitet die Vorspeisen perfekt: Die gratinierten Austern mit Spinat und Frischkäse sind eine Offenbarung selbst für Gäste, die sie pur für gewöhnlich meiden – im Spinatbett und unter der angerösteten Käsehaube verlieren sie ihren fischig-schleimigen Charakter und entfalten ihr zartes Aroma optimal. Die Jakobsmuscheln auf Ingwer-Spinatsalat sind zwar auf den Punkt perfekt gebraten, der Ingweranteil tut aber der Schärfe zuviel, so dass die zarten Muschelnoten in der brennenden Mundhöhle wenig Resonanzraum finden. Schade.
Zum Hauptgang darf es Kalbsfilet sein, aktuell der Star der Karte und passend zur Saison mit Pfifferlingen und Couscous serviert, begleitet von einem klassischen roten Bordeaux. Am tadellosen Filet gibt es nichts auszusetzen, es ist saftig, frisch und hat im perfekten Medium-Zustand die Pfanne verlassen, die Pfifferlinge, mit einem Balsamicodressing betupft, flankieren es aufs Beste. Der Couscous indes kommt etwas langweilig daher und verströmt, obwohl frisch zubereitet, wenig aufregenden Kochbeutel-Charme. Er bleibt, obgleich die Portion nicht eben üppig ist, selbst an den Nebentischen daher zu großen Teilen auf dem Teller zurück.
Die Dessertauswahl, obwohl nur zwischen drei Positionen zu treffen, gehört zu den härtesten unseres kulinarischen Daseins: Die klassische Crème Brûlée konkurriert mit einer Zitronengras-Panacotta an Rharbarber und dem Rosenblättersorbet mit Holunderblüten um die Restplätze im Magen des Gastes. Wir entscheiden uns für den Klassiker und lernen, dass dies an diesem Abend keine umwerfende Wahl ist: Die Creme ist zu stark aufgestockt und tendiert fast schon ins Krümelige, der Zuckerguss ist bereits vollständig erkaltet und verstärkt den Verdacht, das Dessert sei bereits vorbereitet aus dem Kühlschrank gekommen. Die leicht angeschrumpelte Erdbeere schließt die Indizienkette. Trotz sehr moderaten Preises (4,50 Euro) gibt sich das Charlotte hier eine Blöße.
Wer mit großem Hunger oder an einem kühleren Tag ins Charlotte geht, dem sei noch die epochal-gute Bretonische Fischsuppe empfohlen, die längst Berühmtheit erlangt hat. Angesichts der Portionsgröße empfiehlt sich dann aber nur noch ein Salat – oder der sofortige Übergang von der Vorspeise zum Dessert.

Erschienen am 24.07.2010

„Prachtkind“ und „’n reinet Jewissn“

Montag, 24. August 2009

Eine Telefonkonferenz von Hasso Plattner mit Rainer Speer offenbarte eklatante Stilunterschiede

Es dauerte 40 Minuten, das Gespräch, dass Finanzminister Rainer Speer (SPD) am Mittwoch mit Hasso Plattner führte. Speer wollte das Okay von Plattner zur Vergabeentscheidung für den Landtagsneubau. Als Schenker von 20 Millionen Euro für die historisch korrekte Fassade hatte Plattner ein Wörtchen mitzureden. Die auf achteinhalb Minuten verdichtete Version, die am Freitag die Presse zu sehen bekam – und die im Internet für jedermann abrufbar steht – zeigt aber nicht nur, dass Plattner in dieser Videokonferenz von Potsdam nach Palo Alto in Kalifornien seinen Segen zur Entscheidung gab, sondern auch eklatante Stilunterschiede: Plattner sitzt um 7 Uhr Ortszeit taufrisch wirkend in einem modernen Konferenzraum und plaudert locker über den Entwurf, Speer hockt etwas geduckt vor der Kamera und wirkt ein wenig wie der Schuljunge, der zur Tafel zitiert wurde. „Morgen Herr Minister, ist es ein Prachtkind geworden?“, fragt Plattner generös und betont, er sei froh, damals „den Anruf gemacht“ zu haben. Speer sieht dank erhöhter Kameraperspektive aus, als kniete er vor dem Tisch, hinter ihm eine Ledercouch mit Karokissen. Er berlinert, was das Mikro hergibt.
Großzügig betont Plattner nun, dass trotzdem nicht die ganze Innenstadt in Barock aufgebaut werden müsse, als sei das allein seine Entscheidung, und lobt das „wunderschöne Potsdam“. Speer hingegen will vor allem Absolution. „Wir ham beede noch’n Vertrach mitnanda“, sagt er nach einer Weile. „Ick hab’ ’n reinet Jewissen. Den hab’ ich erfüllt“, grummelt er ins Mikro. „Das kann ich voll bestätigen“, entgegnet Plattner, der sich, vom Minister angesteckt, selbst ertappt, wie er „das Ding“ zu dem Schloss sagt, sich aber noch schnell korrigiert. „Jruß darüber“, endet Speer. Er hätte auch „Tschüssikowski“ oder „Rinnjehauen“ sagen können, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Plattner indes lässt beste Wünsche an den Ministerpräsidenten bestellen.

Erschienen am 24.08.2009

Rakkatakka und Dandan

Mittwoch, 8. April 2009

„Van Canto“ mit neuem Album

BERLIN – Da ist er konservativ und ein klein wenig intolerant, der Metal-Fan: „Ihr seid kein Metal. Ihr habt keine Gitarren. Ihr seid Schwuchteln“, schrieb da einer der Band Van Canto ins Internet-Gästebuch. Solch Zuwendung muss aushalten, wer auf die Idee kommt, Heavy Metal als A-cappella-Gesang auf die Bühne zu bringen. Van Canto halten’s aus: „Na endlich sagt’s mal einer“, lautete die Antwort.

Das ungewöhnlichste Heavy-Metal-Projekt nach den finnischen Cello-Rockern von Apokalyptika, kommt aus Deutschland und setzt auf die Kraft der Stimmen – und einen Drummer. Sogar Gitarrenriffs bekommen die vier Herren und eine Dame hin, in dem sie ihr Mikro an den E-Gitarren-Verstärker anschließen. Dennis Schunke und Inga Scharf singen die Melodielinien, die anderen sind für das verantwortlich, was sie Rakkatakka-Töne und tiefe Dandans nennen. Das klingt nicht nur wild, das funktioniert überraschend gut. Van Cantos erstes Album klang so frisch und kraftvoll, dass die Fans sich überrascht die langen Haare aus dem Gesicht strichen, um die Ohren freizulegen. Seit kurzem liegt mit „Hero“ (SonyBMG) das zweite Album vor, heute spielen Van Canto, für die selbst ein einstündiges Konzert Schwerstarbeit bedeutet, in Berlin. Die Arrangements der Stimmen sind diesmal vielfältiger und ausgefeilter, mangelnde Songideen wurden geschickt mit Coverversionen kaschiert: Nach Metallica („Battery“) beim ersten Album ehren „Van Canto“ diesmal Iron Maiden, Manowar, Blind Guardian und Nightwish. Das klingt alles ganz nett und noch immer leidlich frisch, ist aber von der hymnischen, triumphierenden Kraft des ersten Albums dennoch meilenweit entfernt. Bestenfalls das vielstimmige „Fear of the Dark“ mag noch an den Erstling erinnern, in den meisten anderen Stücken wurde die Stimmkraft der fünf Sänger totarrangiert.

Erschienen am 08.04.2009

„Soll ich bleiben oder gehen?“

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Dokumentation Sie lernen Punkrock mit der Leselupe: „Young@Heart“ ist ein Seniorenchor der anderen Art

Eileen Hall hat als einzige im Seniorenheim einen eigenen Schlüssel – weil sie oft so spät von den Auftritten zurückkehrt, dass in ihrem Heim kein Mensch mehr wach ist. Die Eltern der meisten Künstler, deren Lieder Eileen Hall bei diesen Auftritten singt, waren noch nicht geboren, als Eileen schon ihr erstes Kind bekam – sie ist 92 Jahre alt. Doch in ihrem Chor mit dem schönen Namen Young@Heart („Jung im Herzen“) stellt sie keineswegs die Alterpräsidentin: Das Durchschnittsalter der Sänger aus Northampton (Massachusetts) beträgt 81 Jahre, das älteste aktive Mitglied war 101, das bisher jüngste 72.
Nach einem Londoner Konzert der 24 „Alten, die sich schlecht benehmen“ – so bezeichnet der Chor sich selbst – war der britische Regisseur Stephen Walker so begeistert, dass er nach Northampton reiste, um ein Portrait des Chores zu drehen, der allen Erwartungen an eine Seniorensingegruppe widerspricht. Der Film steigt mit einer Szene ein, wie man sie von Livemitschnitten eines Rockkonzerts kennt: Hämmernde Drums, eine noch leere Bühne, dicht gedrängt stehende, jubelnde Fans, die nach ihrem Star rufen. Dann ein orthopädischer Schuh in Großaufnahme, daneben schlägt im Rhythmus des Schlagzeugs eine Gehhilfe auf, schließlich betritt Eileen Hall die Bühne: Klein von Wuchs und gebeugt, doch groß in ihrer Präsenz und Lebensfreude: „Should I stay or should I go?“ (Soll ich bleiben oder gehen?) beginnt sie den berühmten „The Clash“-Song aus den 70ern – und das Publikum rast.
Damit ist das Tempo vorgegeben: Sie singen Punkrock, sie singen „Schizophrenia“ von Sonic Youth und auch sonst alles, was irgendwie selbstironisch auf ihr Alter passt: „We’re on a road to nowhere“ (Wir sind auf der Straße ins Nirgendwo), „I feel good“ oder „Yes, we can“, aber auch balladeskes wie „Fix You“ von Coldplay oder „Killing me softly“. Das tun sie so gut, dass sie nicht nur in der Heimat regelmäßig vor ausverkauften Häusern spielen, sondern auch zwei erfolgreiche Europatourneen absolvierten. Für manche ist der Chor ein neuer Lebensinhalt geworden, einige Mitglieder bekennen vor der Kamera, dass sie aus dem Spaß am Singen soviel Kraft bezögen, dass es sie am Leben erhalte.
Stephen Walker, der behauptet, er habe während der Dreharbeiten 24 neue Großeltern gewonnen, begleitete die Sängerinnen und Sänger über sechs Wochen – von der widerwilligen Probenaufnahme neuer Songs, die sich die meisten unter Zuhilfenahme von Leselupen erarbeiteten, über die immer wieder von Gesundheitsproblemen und zwei Todesfällen unterbrochenen Proben bis zum Konzert. Dass sie häufig auf den Beerdigungen ihrer Sangesbrüder und -schwestern auftreten, gehört ebenso zur Realität des Young@Heart-Chors wie die lebensverlängernde Kraft der Gemeinschaft und der Vorfreude auf die Auftritte.
Stephen Walker gelingt die schwierige Gratwanderung zwischen allzu rührseliger Berichterstattung über Krankheit und Tod auf der einen Seite und dem journalistischen Impuls, dem Publikum den Young@Heart-Chor als menschliches Kuriositätenkabinett anzudienen. Auch wenn der Film Züge von beidem trägt, fängt die fast schon liebevolle, enkelhafte Hingabe des Regisseurs an Chor und Sänger diese Ausschläge wieder auf. Am Ende hat auch der Kinobesucher einige neue Großeltern gewonnen – und etwas weniger Angst vor dem Alter.

Erschienen am 02.10.2008


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