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Die alten Fehler bauen

Dienstag, 11. Oktober 2011

Mit dem Architekten Martin Reichert auf Rundgang in Semmelhaacks jüngstem Viertel: „Potsdam lernt nicht dazu“

Die architektonische Qualität des neuen Wohngebietes am Bahnhof wird gern gescholten – wir baten Chipperfield-Direktor Martin Reichert um eine Expertise.

Der große Mann – Martin Reichert misst knapp zwei Meter – kommt ganz unprätentiös mit der S-Bahn in Potsdam an. Keine Limousine, kein Chauffeur. Zwar pendelt Reichert derzeit beständig zwischen Südkorea, Berlin und Russland, den Dauer-Jetlag sieht man ihm aber nicht an: Der Architekt wirkt, als habe er zuvor noch einen Termin beim Herrenausstatter gehabt. „Wir wollen doch heute sozialen Wohnungsbau besichtigen, da hielt ich die S-Bahn für angemessen“, kommentiert er die Wahl seines Verkehrsmittels mit feinem Lächeln.
Sozialer Wohnungsbau – das stimmt nicht ganz. Reichert, Direktor des Berliner Büros des Star-Architekten David Chipperfield, will an diesem Tag das „City-Quartier“ der Firma Semmelhaack am Bahnhof einer kritischen Würdigung unterziehen. Im Gestaltungsrat der Stadt fällt der Architekt, der für Chipperfield das „Neue Museum“ in Berlin behutsam restaurierte und dafür seither mit nationalen und internationalen Preisen geradezu überschüttet wird, stets durch seine glasklaren, schneidend scharfen Analysen auf. Diesmal hat er sich bereit erklärt, mit der MAZ ein umstrittenes Projekt zu besichtigen. An Stigmen mangelt es dem „City-Quartier“ auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes nicht: Von „gesichtsloser Büroarchitektur“ bis zu „maximaler Verwertung“ lauteten die Anwürfe, etwa im Bauausschuss.
Mit dem Architekten kommen auch die Tropfen. Kaum verlässt Reichert den Bahnhof, geht ein Regenguss nieder. Mit den Worten „Ich bin ziemlich wetterfest“ lehnt er einen angebotenen Schirm ab. Dann ist es wohl auch nur Regen und keine Träne der Verzweiflung, was ihm mitten im 85 000 Quadratmeter großen Areal über das Gesicht rinnt. Die erste Runde absolviert Reichert weitgehend schweigend, nur einmal entfährt ihm ein „Diese Dichte ist wirklich grenzwertig!“ 639 Wohnungen hat Semmelhaack in fünf Geschossen auf die Fläche gequetscht.
Vom Balkon eines Penthouses lässt Martin Reichert den Blick über das gesamte Areal schweifen: über den L-Riegel, dessen langer Schenkel parallel zur Bahn verläuft, über die mit drei U-förmigen Blöcken vollgestellte Mitte, schließlich das halbrunde Seniorenheim, das den massiven Block an der Friedrich-Engels-Straße zum Bahnhofsvorplatz hin öffnet. Der Blick geht ausschließlich über betongraue Flachdächer. „Die Dachlandschaft ist speziell“, sagt Martin Reichert, während er sich den Regen aus der Stirn wischt. Er betont „speziell“ in einer Art, dass es wie „katastrophal“, „monströs“ oder „schauerlich“ klingt, doch der 43-Jährige mit dem hanseatisch wirkenden Charme nähme solche Worte nicht in den Mund. Immerhin inspiriert ihn der Anblick zu einem Zwischenfazit: Alles sei sehr ökonomisch und effizient gebaut und daher lobenswert, befindet Reichert, andererseits könne man nicht verkennen, dass der Bauherr die Gewinnmaximierung über alles gestellt habe. Es fehle allerorten an Raffinesse, beim Material und den Oberflächen, alles sei günstig und ohne Liebe zu den Details entstanden. Das könne man allerdings nicht dem Architekten anlasten, sondern dem Kostendruck, den der Bauherr verordne. Das Viertel sei architektonisch vom Funktionalismus der 1920er und 1970er Jahre inspiriert, stehe in der Tradition des nüchternen sozialen Wohnungsbaus. Dem stünden allerdings die hohen Kaltmieten zwischen neun und zehn Euro entgegen: „Für 5,50 Euro würde man es loben können.“
Reichert findet noch mehr Lobenswertes: Die rigide Abwendung von der Bahn – nach hinten haben die Wohnungen nur Bad und Abstellräume sowie eine gute Lärmdämmung – findet seinen Beifall, auch die Laubengänge, die zu den Wohnungen führen, hält er für eine gute Idee. Die minimalen Freiflächen im City-Quartier seien „immerhin gestaltet“, wenn auch wenig nutzbar. Da es ohnehin Tiefgaragenplätze in großer Anzahl gibt, hätte Reichert das Parken auf den wenigen Freiflächen nicht gestattet. Auf einer dieser „Freiflächen“ stehend, dreht er sich einmal im Kreis: „Diese Dichte ist trotzdem an der Grenze des Erträglichen. Wer das genehmigt hat“, murmelt er kopfschüttelnd.
Wer eine Erdgeschosswohnung gemietet hat, bekommt von Martin Reichert das Bedauern obendrauf. Deren Mieter schauen nicht nur auf grauen Beton, wohin sie auch blicken, sondern auch noch auf die wenig einladenden Tiefgaragenfenster. Völlig unverständlich bleibt dem Architekten, warum die Terrassen im Erdgeschoss mit Dachgrün „verunstaltet“ wurden, statt sie mit Rasen einladend zu gestalten. Außerdem kann dank eines Metallgeländers den Bewohnern jeder auf die Strandliege oder den Grill schauen. Sichtschützende Mauern gibt es sinnloserweise nur zwischen den einzelnen Terrassen. Den eigentlich Schuldigen benennt Martin Reichert erst etwas später beim Tee. Vorher hat er den unvermeidlichen Architektenschal ausgewrungen. Von der Stuhllehne tropft die Jacke. „Das ist alles typisch Potsdam“, resümiert der Architekt, der nicht nur ein Jahr Gestaltungsratserfahrung in die Waagschale werfen kann, sondern sich auch schon zuvor bestens in den Bauten der Stadt auskannte. „Ein so großes Gebiet wäre anderswo nie ohne Bebauungsplan gelaufen. Dort wäre auch die mögliche Dichte festgelegt worden, und zwar eine deutlich geringere“, sagt er. Während Potsdam im historischen Bestand seit der Wende alles richtig gemacht habe, umsichtig, sensibel und mit hohem materiellen Aufwand vorgegangen sei, gebe es bei Neubauten stets eine nachlaufende Debatte, weil vorher nicht reguliert werde, sondern schlicht „vollgestellt“ – ein Fehler, der der Bauverwaltung anzulasten sei. Er sieht auch durch den Gestaltungsrat kein Umdenken dort, obwohl er dem Baudezernenten großes Engagement bescheinigt. „Das Traurige ist doch, dass die schlechten Erfahrungen, etwa mit dem Bahnhof, nicht dazu führen, dass es künftig besser wird. Potsdam wiederholt die alten Fehler, verkauft ohne Auflagen, ohne kleinteilige Parzellierung“, so Reichert. Er erregt sich nicht, sagt es ganz kühl. Und was hätte er zum City-Quartier gesagt, wenn es ihm im Gestaltungsrat vorgestellt worden wäre? „Dass es in diesem Umfeld nicht so problematisch ist, wie es in der Innenstadt wäre, dass die lieblose Gestaltung akzeptabel wäre, wenn die Mieten gering wären, dass das Farbkonzept höchst fragwürdig ist. Es sei denn, man mag betongrau“. Dann geht Reichert zurück zur S-Bahn. Korea wartet. Wo seine Jacke hing, ist eine kleine Pfütze.

Erschienen am 11.10.2011

Das Captain-Kirk-Gefühl

Samstag, 30. April 2011

Freizeit: Filmpark eröffnet 1,6 Millionen Euro teure Star-Trek-Ausstellung / Wertvolle Exponate aus den Serien und Filmen

Vor kurzem noch in Hollywood, jetzt in Potsdam: Requisiten aus Star-Trek-Film sind erstmals in Europa zu sehen.

Sich einmal kraftvoll aus dem Chefsessel drücken und energisch „Auf den Schirm!“ rufen. Oder „Energie auf die vorderen Phaserbänke.“ Oder „Übernehmen Sie, Nr. 1“ – dieses James-T.-Kirk oder Jean-Luc-Picard-Gefühl können alle Star-Trek-Fans ab morgen bis Ende Oktober für 13 Euro Eintritt im Filmpark genießen. Solange währt die Star-Trek-Ausstellung in der Caligari-Halle, die Filmpark-Geschäftsführer Friedhelm Schatz gestern vorstellte. 1,6 Millionen Euro lässt der Filmpark sich die aufwändige Schau auf 12 000 Quadratmetern kosten, 130 000 Besucher müssen kommen, um die Kosten zu refinanzieren. Im Gegenzug erleben sie zweitgrößte Schau des elf Filme und sechs Serien mit 726 Folgen umfassenden Star-Trek-Universums um Raumschiffe, fremde Planeten und eigentümliche Rassen, die bislang in Europa zu sehen war. Erstmals ausgestellt wird der Transporter-Raum, der im bislang jüngsten Star-Trek-Film zum Beamen der Mannschaft zum Einsatz kam. Unumstrittener Höhepunkt ist dennoch die Kommandobrücke der „USS Enterprise 1701-D“, der erfolgreichsten Serie mit Captain Jean-Luc Picard. Der Versuchung, in seinem Sessel Platz zu nehmen oder in dem seines ersten Offiziers William T. Riker konnten beim Pressetermin nur die wenigsten Journalisten widerstehen.
Für Nicholas Cooper waren hingegen die fast eine dreiviertel Tonne schweren Modelle der „Enterprise“ und der „Voyager“ die größte Herausforderung. Das Unternehmen des Australiers hat die Ausstellung konzipiert, transportiert und aufgebaut. Die schweren Modelle, die in den Serien für die Außenaufnahmen der Schiffe benutzt wurden, unter die Decke zu bringen, sei keine leichte Aufgabe gewesen, sagt er. Auch der Transport der wertvolle Stücke auf dem Seeweg sei eine Herausforderung. Zu den wertvollsten Stücken zählen indes die 26 Originalkostüme, die von Spock, Kirk, Uhura und Co. in den Filmen getragen wurden. Drittes Originalset ist die Bar des Ferengi „Quark“ aus der dritten Serie „Deep Space Nine“. Sie soll „behutsam“ auch für Partys im Rahmen der Ausstellung genutzt werden, so Friedhelm Schatz.
Rund zwei Stunden Zeit brauchen die Besucher, um all die Masken, Kostüme und Ausrüstungsgegenstände wie Phaser-Waffen, Kommunikatoren und Tricorder zu bewundern, Picards Schreibtisch, Worfs Schwert und den klingonischen Kaiserthron zu bewundern oder sich vor dem Green-Screen virtuell ins All zu begeben. Gerhard Raible von der Trek-World-Marketing versprach ein spannendes Begleitprogramm mit wissenschaftlichen Vorträgen und den Besuchen von Originalschauspielern in den nächsten Monaten. Welche das sein würden, verriet er aber noch nicht. „Wir sind mit fast allen im Gespräch, aber es ist nicht immer leicht“, so Raible. Lediglich einen Auftritt von „Mr. Spock“ alias Leonard Nimoy sei ausgeschlossen. Der 80-Jährige ziehe sich langsam aus dem Star-Trek-Zirkus zurück. Die „Kapitäne“ Kirk (William Shatner) und Picard (Patrick Steward) würden aber noch von ihm „bearbeitet“.

Erschienen am 30. April 2011

Zurückgelassener Protest

Montag, 8. November 2010

Politik: Knapp 40 Potsdamer demonstrierten gegen das Demonstrationsverbot entlang der Castorstrecke

Fast sah es so aus, als gäbe es mehr Polizisten als Demonstranten. Doch dann kamen noch ein paar – und ein Transparent.

POTSDAM | Es ist kalt an diesem ersten Novembersonntag. Mehr als 20 Polizisten und knapp zehn Journalisten treten rund um das Arbeitsamt auf der Stelle, um die Restwärme im Körper zu behalten. Sie sind kurz nach 14 Uhr in der Überzahl gegenüber den 20 Demonstranten, die grüppchenweise eintrudeln. Geplant ist eine größere Demo gegen den Castortransport und das Demonstrationsverbot im rund 160 Kilometer entfernten Gorleben. Rund 300 Potsdamer seien bei den Protesten vor Ort mit dabei, schätzt Linus Rumpf, Sprecher des Antikapitalistischen Aktionsbündnisses, das zur Demo gegen’s Demoverbot aufgerufen hat. Die schon Eingetroffenen diskutieren derweil die Menschenrechtslage in Birma und den Umstand, dass leider niemand ein Transparent dabei hat. Gegen 14.30 Uhr ist die Schar immerhin auf 30 angewachsen. Linus Rumpf greift zum Megaphon und verkündet, es seien schon mehr Demonstranten, als er erwartet habe, was dem Kamerateam des RBB ein lautes Lachen abfordert. Man müsse noch zehn Minuten warten, weil man jemanden angerufen habe, der ein Plakat hat, sagt Rumpf.
Zehn Minuten später ist es da, das Plakat, samt dem, der es hat, ökologisch korrekt auf dem Fahrrad herantransportiert. Es wird entrollt, ist eingerissen und ruft zum Kampf gegen das Patriarchat auf – daneben die Zeichnung eines Mädchens mit geballter Faust. „Ist wohl ein Allzweckplakat“, scherzt ein Polizist. Auf jeden Fall geht’s jetzt los, und der Demonstranten sind es mittlerweile 40. Auch das Megaphon kommt jetzt zum politischen Einsatz. „Im Wendland holt die Polizei den Knüppel gegen die Bevölkerung raus, um die Interessen der Stromkonzerne zu verteidigen“, sagt der Sprecher. Er erklärt auch, warum man sich vor dem Arbeitsamt am Horstweg traf: „Wir sind hier so nah, wie es nur geht, an der Zentrale der Bundespolizei.“ Viel näher wird’s aber auch nicht mehr, denn der Sprecher verrät auch, dass man nicht aufs Gelände der Bundespolizei dürfe, denn das sei „privat“. Unter dem Klicken der Kameras setzt sich die Gruppe in Bewegung. „Wenn Du die Augen zusammenkneifst, siehst es fast wie eine Demo aus“, sagt jemand. Die Demo endet nach wenigen hundert Metern am Eingang zur Bundespolizei. „Wer den Klimawandel bekämpfen will, muss den Kapitalismus in Frage stellen“, ruft Linus Rumpf noch ins Megaphon und fordert, den Protest gegen die Atompolitik der Regierung nicht zu kriminalisieren. Dann löst sich die Demo auf und geht nach Hause, um im Fernseher die wirklichen Proteste zu schauen.

Erschienen am 08.11.2010

Nachlässige Netzfischer

Freitag, 17. September 2010

Politik: Der OB-Wahlkampf wird hart geführt, doch im Netz überwiegt die Langeweile

Twitter, Facebook, Youtube – die Möglichkeiten zur Eigenwerbung im Internet sind groß. Potsdams OB-Kandidaten machen davon aber wenig Gebrauch. Es dominiert die klassische Website.

Mit der Kandidatur war er der erste, und seine Plakate sind die kreativsten. Im Internet hingegen ist ausgerechnet der jüngste Kandidat, der für Die Andere antretende Benjamin Bauer, am schlechtesten vertreten: Keine eigene Internetseite und keine Nachrichten auf dem Kurzinformationsdienst „Twitter“ künden von seinem Wahlkampf. Beim Internet-Einwohnermeldeamt „Facebook“ hat Bauer zwar eine eigene Seite, doch ist die angesichts von 340 Treffern beim Namen „Benjamin Bauer“ nur mit außerordentlich viel Geduld zu finden.
Erwartungsgemäß besser läuft es bei Marek Thutewohl, dem Vertreter der Piratenpartei, die sich immerhin als Partei der Informationsgesellschaft versteht und das Internet zu ihren Gründungsmotiven zählt. Auf Twitter lässt Thutewohl die Welt in 81 Nachrichten an seinem Wahlkampf teilhaben – das ist Rekord im Teilnehmerfeld, ebenso die Zahl von 67 Abonnenten. Thutewohl, unter „Piraten_Potsdam“ zu finden, twittert durchaus unterhaltsam und verzichtet auf die „Sitze mit Mutti bei Pizza im Garten“-Tweeds, die nur der eigenen Existenzvergewisserung dienen. Trüber sieht es auf seiner Homepage unter www.marek-web.de aus: Pflanzen- und Urlaubsfotos sind zwar sehr hübsch, sagen über den Kandidaten Thutewohl aber rein gar nichts aus. Dass er Fahrlehrer von Beruf ist, erfährt der Surfer unter fahrlehrer.marek-web.de; außer Tipps zur Straßenverkehrsordnung ist aber auch hier nichts von politischem Interesse zu finden.
Die Pseudo-Vielseitigkeitskrone erntet Marcel Yon (FDP). Der verlinkt gleich zu seinen Twitter-, Facebook-, Flickr- (Fotos) und Youtube-Konten. Der Ertrag dort ist aber gering: Auf Youtube findet sich ein mageres Video, in dem sich der Kandidat vor überbelichtetem Hintergrund und bei grauenvollem Ton nach einer Podiumsdiskussion über die Oberflächlichkeit von Politikerstatements beklagt – in 2:17 Minuten! Auf Twitter (marcel_yon) finden sich ganze sechs Kommentare, die nur elf Leute abonniert haben. Yon hat ganz offensichtlich erst Ende August zum Wahlkampfauftakt mit dem Twittern begonnen, und macht genau, was man nicht tun sollte: „Genieße den Spätsommer im Garten“, lässt er die begeisterte Welt wissen, und auch, was für ein Frühaufsteher er ist: „Ein schöner Tag beginnt, Aufräumen, Sport machen, um 6 Uhr Team-Meeting“. Auf Facebook immerhin kann er auf 1742 Freunde zählen – Rekord im Teilnehmerfeld. Seine Internetseite (marcel-yon.de) listet Lebenslauf, Wahlkampftermine, das Presseecho und Yons „Visionen“. Auf der Bilderplattform Flickr finden sich Portraits des Kandidaten, darunter seine zwei Plakate, auf denen er „neue Wege“ und „frischen Wind“ fordert. Letzteres hätte offenbar auch dem Foto gut getan, das an einem heißen Julitag entstand und daher deutliche Schweißflecken im Gesicht des Kandidaten nachweist.
Marie Luise von Halem (Grüne) ist bei Facebook dank des exklusiven Namens leicht zu finden, beeindruckt aber mit einer fast leeren Seite, auf der man sich erst um ihre Freundschaft bewerben muss, um mehr Informationen zu erhalten. Immerhin hat sie 131 Freunde, bei Twitter findet man sie hingegen nicht. Etwas spartanisch wirkt auch ihre Internetseite unter „mlhalem.de“, die offenbar aus einem Standardbaukasten der Grünen zusammengeklickt wurde. Ein bisschen Lebenslauf, ein paar Termine und der zwar einfache, aber immerhin recht originelle Kurzwerbespot (31 Sekunden) – das war’s dann auch schon.
CDU-Kandidatin Barbara Richstein zeigt ihre Strebsamkeit auch im Internet: Als einzige hat sie auf Facebook eine Fanseite geschaltet, die immerhin 422 namentlich genannte Bewunderer auflistet, inklusive der „Stadt Potsdam“. Zum Twittern hat die Allgegenwärtige aber offenbar keine Zeit. Dafür birst die Internetseite barbara-richstein.de vor stündlich aktualisierten Informationen: Neben Obgligatorischem wie Lebenslauf, Presseecho und Terminen findet sich dort auch ein Spendenaufruf für den teuren Wahlkampf und ein Mitgliedsantrag für die CDU.
Auf seine Internetseite konzentriert sich auch der linke Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg – Experimente auf Facebook und Twitter scheinen für die Partei mit der wohl ältesten Wählerschaft nicht lohnend. Stattdessen gibt es viele Informationen für politikinteressierte Leser, vom Rathausreport bis zu Standpunkten in (nahezu) allen aktuellen stadtpolitischen Fragen. Der Unterhaltungswert von scharfenberg-fuer-potsdam.de ist im Gegenzug nahezu null.
Amtsinhaber Jann Jakobs (SPD) scheint ebenfalls nicht viel von der „Generation Netz“ als Wähler zu halten: Facebook und Twitter bedient er nicht, auf Youtube finden sich immerhin einige Fremdvideos von seinen öffentlichen Auftritten. Dafür gewinnt Jakobs den Preis für die beste Website (jann-jakobs.de), die durchweg mit professionellen Fotos bestückt ist und eine ausgewogene Mischung aus Politik und Unterhaltung bietet. Vor allem die Präsentation „Jakobs persönlich“ ist aufwändig und liebevoll erstellt. Von privaten Fotos flankiert, zieht Jakobs dort den eigenen Lebensweg nach und spart nicht mit Worten, die Bodenständigkeit, Gemeinwohlorientierung und Kampfeswillen dokumentieren sollen: „Ich wollte mich durchbeißen“, heißt es da, „Beim Fußball kam keiner an mir vorbei“ oder auch „Natürlich musste ich als Ältester schon früh Verantwortung tragen“. Das „offizielle Wahlkampfvideo“ auf der Seite zeigt Jakobs bei der Morgentoilette. Der Wähler erfährt, dass sich sein Oberbürgermeister in Hemd und Krawatte rasiert und beim Parfümieren begeistert in die Hände klatscht.

Erschienen am 17.09.2010

Präsident beim König

Dienstag, 20. Juli 2010

Feuerwehr: Mit sechs Monaten Verspätung besichtigt Matthias Platzeck die neue Wache

Auf seiner Sommernöte-Tour machte der Ministerpräsident in der neuen Feuerwache an der Humboldtbrücke Station – es wurde ein eher munterer Termin.

POTSDAM| Er hatte zwar schon einen halben Liter Blut, aber nicht seinen Humor verloren: Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) kam gestern Vormittag mit einem jovialen Schulterklopfen zu Potsdams Feuerwehr-Chef Wolfgang Hülsebeck und sagte, „König Hülsebeck“ möge ihm doch nun seine Gemächer zeigen. Schließlich sei er, Platzeck, bei der Einweihung der neuen Wache im Januar verhindert gewesen und wolle nun „die längst überfällige Aufwartung machen“. In der Staatskanzlei hatte man diese Aufwartung geschickt in einen Thementag zu den Sommernöten des Landes gepackt, und so war der Besuch beim „Feuerwehrkönig“ dezent zwischen den Blutspendetermin (Konservenknappheit in der Ferienzeit) und jenem in der Zossener Waldbrandzentrale (hohe Warnstufe bei der Hitze) geschoben worden.
Interessiert preschte Platzeck dem Pressetross (Saure-Gurken-Zeit) voran, erfuhr, dass die Feuerwehr in Potsdam auch alle Rettungseinsätze fährt, dass es neben der Hauptwache Dependancen in Neufahrland und Babelsberg gibt, dass die Potsdamer Kameraden im Schnitt 15 Minuten bis zum Einsatzort brauchen und dass wegen der Hitze 50 Prozent mehr Rettungseinsätze wegen Kreislaufproblemen anfallen. Der Ministerpräsident erkundigte sich bei jedem Mitarbeiter, dessen er habhaft werden konnte, ob die neue Wache ein Gewinn sei, und erhielt nur Zustimmung. Die Rettungsassistentinnen bestätigten ihm zudem den Segen der Klimaanlage in ihren Rettungswagen und verneinten die ministerpräsidiale Frage, ob sie bei Entbindungen im Auto notfalls die Nabelschnur durchbeißen müssten. Dazu gebe es Scheren.
Als sei er bestellt geworden, hallte dann ein Einsatzalarm durch die riesige Fahrzeughalle: Es brannte ein Müllcontainer in der Henning-von-Tresckow-Straße, wie auf den Monitoren gut zu lesen war. „Hat der Innenminister wohl wieder heimlich geraucht?“, scherzte Platzeck unverdrossen auf Kosten seines Zigarren liebenden Parteigenossen Rainer Speer, alles lächelte pflichtschuldig, währenddessen die erste Löschwagenbesatzung in Stiefel, Jacken und Helme sprang und davonbrauste.
Im Herzen der Wache, der Leitstelle für ganz Nordwest-Brandenburg, führte Platzecks routinierte Frage nach der Zufriedenheit zu einem kurzen Zögern. Ob sie die ehrliche oder die geplante Antwort geben solle, wollte eine Mitarbeiterin lächelnd von Wolfgang Hülsebeck wissen. Der lächelte zurück und räumte ein, dass die Klimaanlage zuweilen etwas laut sei und es zu Beginn Probleme bei der Alarmierung der Kollegen in Babelsberg gegeben habe. Sonst sei aber alles bestens. Drei bis vier Mitarbeiter besetzen derzeit tagsüber die Leitstelle, sobald auch der Kreis Ostprignitz-Ruppin hinzukommt, werden es bis zu acht Kollegen sein. „Das ist ja eine Feuerwache wie im Westen“, zeigte Matthias Platzeck begeistert, der, den Fluren folgend, auch forsch in eine Teeküche schritt und den entsetzten Ruf einer Mitarbeiterin, „hoffentlich macht niemand den Kühlschrank auf“, schon nicht mehr hörte.
Der Kühlschrank durfte daher sein Geheimnis behalten, und der Ministerpräsident, zufrieden ob der neuen Eindrücke, der schönen Wache, der glücklichen Mitarbeiter und der erledigten Aufwartung beim „Feuerwehrkönig“, setzte seine gut gelaunte Sommernötetour ’gen Zossen fort.

Erschienen am 20.07.2010

Kulka erläutert Schlosspläne

Donnerstag, 25. Februar 2010

Stadtentwicklung: Mitteschön fordert weiter / Architekt wütend / Ausschuss moderiert

POTSDAM |  Für einen Moment stand Peter Kulka kurz vor der Explosion. Der Architekt des Landtagsschlosses hat sich noch nicht an die typische Potsdamer Debattierfreude von Bauvorhaben gewöhnt, und eine an sich harmlose Frage im Bauausschuss machte Kulka sichtlich wütend. Eigentlich wollte Ausschuss-Mitglied Christian Seidel (SPD) nur wissen, welches Maß Kulka zum Anlass nahm, die Seitenflügel des künftigen Landtages zu verbreitern. Kulka aber, offenbar über einen weiteren Forderungskatalog der Bürgerinitiative „Mitteschön“ erbost, rief plötzlich etwas von „Polemik“ in den Raum und erinnerte daran, dass er auf Wunsch von Mitteschön bereits die Fenster auf seine Kosten umgeplant habe – „nachträglich, eigentlich war es schon zu spät“ –, und verkündete, wenn man wolle, dass er das Handtuch werfe, solle man nur so weitermachen. Erst ein besänftigender Zwischenruf des stets auf Ausgleich bedachten Ausschuss-Vorsitzenden beruhigte den aufgebrachten Stararchitekten wieder, dem der Bauausschuss mehr als eine Stunde Redezeit einräumte, um das Projekt vorzustellen. Kulka holte weit aus, ordnete das Vorhaben in seine bisherige Arbeit ein, erklärte, dass der Landtag innen in weiten Teilen ein Bürogebäude werde, sprach über die Notwendigkeit, Teile der Originalfassade in die zu rekonstruierende Fassade aufzunehmen, um der Gefahr der „Pappigkeit, Künstlichkeit und Unehrlichkeit“ entgegenzuwirken und wurde nicht müde, zu unterstreichen, dass er die Bürgerwünsche zu den Fensterlösungen „freiwillig“, „auf eigene Kosten“ und „sehr spät“ noch aufnahm, „obwohl die Pläne längst fertig waren“. Er kündigte zudem eine Schaustelle an, einen Pavillon in den Landesfarben, mit Rampen ringsherum, der mit einer Ausstellung über das Originalschloss und das Bauvorhaben informiert und zudem eine Plattform bereitstellt, von der die Baustelle zu überblicken ist.
Barbara Kuster von Mitteschön freute sich daraufhin öffentlich über die erfolgten Änderungen, um sofort einen weiteren seitlichen Durchgang zu fordern, da ansonsten der Alte Markt lahmgelegt sei. Außerdem werde die Außenfassade nicht original sein, die Knobelsdorffsche Asymmetrie fehle, und es würden zu wenig Originalteile eingebaut, klagte sie. Sie fürchte daher um Plattners Spende. Ein zweiter Redner hätte gern die Rampe zur Tiefgarage verlegt oder ganz verschwunden gesehen. Der Ausschuss beeilte sich nun, zu erklären, dass diese Diskussionen doch längst geführt seien, bevor Kulka wieder mit dem Handtuchwurf drohen konnte. Saskia Hüneke versicherte gar, sie habe „lustvolle Momente“ beim Betrachten der Entwürfe, und Baudezernent Klipp sagte, die Baugenehmigung stehe unmittelbar bevor. Lediglich, dass Saskia Hüneke anmerkte, es sei „nie zu spät für Anmerkungen“, weil doch die Entwürfe so lange nichtöffentlich waren, ließ Peter Kulkas Halsschlagader noch einmal kurz anschwellen. Dank des warmen Applauses endete der Tagesordnungspunkt aber ohne weitere Kollateralschäden.

Erschienen am 25.02.2010

Im Brennpunkt der Geschichte

Montag, 9. November 2009

Mauerfall: Potsdam erinnerte vielerorts an den 9. November / Villa Schöningen eröffnet

Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls kamen Gorbatschow, Kissinger, Genscher und die Bundeskanzlerin in die Villa Schöningen. Am Griebnitzsee liefen Bürger den einstigen Grenzstreifen ab.

Niemand wurde geschont an diesem Abend. Nicht einmal Hausherr und Springer-Vorstand Mathias Döpfner. „Sagen Sie mal, wo arbeiten Sie eigentlich?“ schallte es aus dem Pulk der Kameraleute und Fotografen, die darüber verärgert waren, dass Döpfner, der rund zwei Meter misst, mit seiner imposanten Erscheinung Angela Merkel beim Signieren eines Mauerstücks vor der Villa Schöningen glatt verdeckte. Sie als Medienprofi, sollte das heißen, müssten es doch besser wissen – zumal wegen galoppierender Platznot angesichts von 500 hochkarätigen Gästen ohnehin kaum ein Journalist Zugang zu den Hallen erhielt, in denen ab heute ein Museum über die Glienicker Brücke, den Agentenaustausch, die Mauer und die wechselvolle Geschichte der Villa allen Interessierten offen steht.
Es war wohl die größte Ansammlung politischer Prominenz in Potsdam seit der Potsdamer Konferenz: Zur Eröffnung kamen nicht nur die Bundeskanzlerin und Außenminister Guido Westerwelle, auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger und der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow sowie Polens Außenminister Radoslaw Sikorski signierten das Mauerstück und verschwanden dann in der hoffnungslos überfüllten Villa, flankiert von der Spitze der deutschen Medien-, Kultur- und Wirtschaftsprominenz. Die Kanzlerin war gar mit vereinzelten „Angie“-Rufen begrüßt worden, die Friedensnobelpreisträger Kissinger und Gorbatschow ernteten Applaus von zahlreichen Schaulustigen in der Schwanenallee.
Während sich der 86-jährige Kissinger in seiner Rede vor allem der bedeutenden Zeit, in der er amtierte – und damit seiner eigenen Bedeutung – vergewisserte, Angela Merkel das private Engagement Döpfners für das Museum lobte und über die Rolle der Glienicker Brücke reflektierte, erntete der polnische Außenminister den größten Beifall: Er habe beim Feiern auf der Mauer 1989 gemischte Gefühle gehabt, bekannte Sikorski: Einerseits habe er sich über das Ende des Kommunismus gefreut und andererseits ein wenig vor dem vereinten Deutschland gefürchtet. Doch das sei unnötig gewesen, heute leite die Bundesrepublik als „einflussreichstes Land Europas“ durch gutes Beispiel. „Es gelang gemeinsam“, sagte Sikorski auf deutsch, auch auf die Leistungen der polnischen Solidarnosc-Gewerkschaft anspielend.
Die Museums-Eröffnung war nicht das einzige Ereignis, das am Vorabend des 20. Jahrestags an den Fall der Mauer erinnerte. Am Mauerstück in der Stubenrauchstraße trafen sich auf Einladung der Fördergemeinschaft Lindenstraße mehr als 100 Potsdamer, um die „wichtigste Meile der Nachkriegsgeschichte“, wie Bob Bahra in seiner Begrüßung sagte, abzuwandern. Das „grellweiße Monstrum, das unser Leben auf Jahre verschattete und verdunkelte“ (Bahra) war der Ausgangspunkt für die rund einstündige Wanderung am Griebnitzseeufer entlang, die nur von gesperrten Ufergrundstücken unterbrochen wurde. Mit vorneweg marschierte Linken-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg. Im Treffpunkt Freizeit berichteten Zeitzeugen, wie sie die Wendezeit erlebten – vom jungen Mann, der noch am 1. November in die NVA eingezogen wurde und bis zum 31. Dezember gar keinen Ausgang bekam, bis zur Westberliner Studentin, die flugs ihren Traum verwirklichte, einmal unter dem Brandenburger Tor zu stehen. Die Kinder und ihre Eltern hörten gebannt zu.

Erschienen am 09.11.2009

Rumpelnde Wahlwerbung

Donnerstag, 24. September 2009

Politik: Grüne und Linke chauffierten den Wähler mit Straßenbahnen durch die Stadt

Gute Laune, quietschende Bremsen: Grünen-Bundeschefin Claudia Roth und Landtagskandidaten der Linken waren auf Tour.

POTSDAM |  Es herrscht nicht wirklich Gedränge an diesem Dienstagabend, auch wenn am Hauptbahnhof jedes zweite Plakat für „Straßenbahnfahren mit Claudia“ wirbt. Das mag daran liegen, dass Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, mit satten zwei Stunden Verspätung in die historische Gotha-Bahn steigt. Selbst der Ruf „Bis Platz der Einheit, kostenlos!“, von eifrigen grünen Parteigängern in die kühle Nacht gerufen, verhallt nahezu ungehört. Nur eine Gruppe Schwaben, die eigentlich in eine andere Richtung wollte, steigt der Landsfrau zuliebe ein. Und Harri. Harri trägt Leggings mit Tigerdruck, Gummischuhe und eine Art Nachthemd unter einer Sportjacke, seine Habe fährt er in einem ausgedienten Kinderwagen vor sich her: Decke, Bierflaschen, Leergut. Er steige ein, weil er auf Verpflegung und ein warmes Plätzchen hoffe, sagt er. Letzteres kann ihm die Tatrabahn bieten, ersteres nur bedingt: Wasser und Weintrauben schenken die Grünen aus, eine Mischung, von der Harri sagt: „kriechick Dünnsch… von“. Mit dieser Haltung steht er schnell allein. Die Grünen sagen, es wäre wegen des Geruchs.
Indes hat Claudia Roth, die auch nach einem langen Tag, der um 7 Uhr mit vier Tassen Kaffee und einer Parteiklausur in Nürnberg begann, recht munter wirkt, das Mikrofon der Straßenbahn ergriffen und freut sich zunächst, dass Schwaben an Bord sind: „Wenn’s was umsonst gibt, da fahrt’s schon mit, gell?“ frotzelt sie. Die Stimmung bleibt auch gut, als Roth sagt, in Ostdeutschland hielten viele die Grünen für einen Luxus, den man nur in guten Zeiten wählen könne, weil sie sich um Mopsfledermäuse und Gräser kümmerten. Was natürlich so nicht stimme. Es sei höchste Zeit, sagt sie, dass die Mark grüner würde, den abtrünnigen Parteigänger Platzeck müsse man an seine frühen Ziele mahnen, und Kohle sei nun wirklich keine Zukunftsenergie. Sie beklagt die „Ausschließerei“ im Bundestagswahlkampf, schließt aber im selben Satz die „Jamaika-Koalition“ aus und erzählt, dass Trams schon als Kind für sie das Größte waren. Am Platz der Einheit befragt Roth den Zugführer zu technischen Details, Harri indes steigt aus; er ist an diesem Abend kein Grünen-Wähler geworden. „Die kommt also mittn Fliega und ’n Auto und will mia watt über Ökolojie erzähln“, sagt er im Fortgehen, den Kinderwagen vor sich her schiebend. Claudia Roth muss indes mit dem Bus weiter nach Rostock. 25000 Kilometer legt sie in neun Wochen Wahlkampf zurück. „Das geht mit dem Fahrrad nunmal nicht“, stöhnt sie.
Weniger gehetzt und bester Laune drehen zwölf Stunden später die Linken eine Runde durch die Stadt. Landtagskandidatin Anita Tack hat eingeladen, Hans-Jürgen Scharfenberg und Bundestagskandidat Rolf Kutzmutz sind mit an Bord der diesmal knallroten Tatra. Als verkehrspolitische Sprecherin hat Tack die Straßenbahn als Wahlkampfmobil erwählt, als Kämpferin für eine Wiederbelebung des Bahnhofs Pirschheide das Fahrziel festgelegt. Und die Lieblingsforderung der Linken, den kostenlosen Schülerverkehr, kann sie so auch noch zwanglos anbringen.
Von Harri keine Spur, doch es hätte ihm gefallen: Es gibt starken Kaffee und handfeste Brötchen. Als dann auch noch sechs Kinder mit zwei Erziehern auf dem Weg zur Kita „Firlefanz“ zusteigen, ist der Wahlkampftraum nahezu perfekt. Die Jüngstwähler sind an verkehrspolitischen Fragen zwar eher desinteressiert, nehmen Bonbons und Luftballons aber gern an. Auch die weitere Klientel ist dankbar: Eine ältere Dame kommt nun schneller zur Apotheke, ein älterer Herr rechtzeitig zum Arzt: „Janz tolle Idee“, lobt er. An jeder Haltestelle tobt ein Junglinker heraus, um Wahlplakate über die Fahrpläne zu kleben. Einmal wäre die Bahn fast ohne ihn weitergefahren, doch die resolute Anita Tack lässt stoppen: „Die Linke vergisst keinen“, sagt sie, als ihr Helfer wieder an Bord ist.

Erschienen am 24.09.2009

Freudenfahrt mit klemmenden Luken

Mittwoch, 2. September 2009

Stadtentwicklung: Neue Straßenbahntrasse freigegeben / Die Linke macht ihren Frieden mit der Trambrücke

Nach anderthalb Jahren Bauzeit fährt die Tram über ihre neue Brücke – leiser, schneller und ohne die Straße zu kreuzen. Für den Landtagsneubau ist nun Platz geschaffen.

POTSDAM |  Ein bisschen wirkten sie ja wie auf Klassenfahrt in dem Straßenbahn-Sonderzug. Zur offiziellen Freigabe der neuen Trasse kutschierten der Verkehrsminister, der Oberbürgermeister, der neue Baubeigeordnete und die Pro-Potsdam-Spitzen gestern nebst einem Presse-Pulk durch die Stadt. Dem SPD-Übergewicht im Waggon angemessen war es dann auch ein knallroter Tatra-Zug, der zugleich als Partybahn zu buchen ist, wovon nicht nur knallbunte Plastikblumen an den Fenstern zeugten. Dafür ließen sich die Fenster nicht öffnen, die Dachluken klemmten und an der Einmündung zur Friedrich-Ebert-Straße ging’s wegen Restbauarbeiten nicht weiter.
Die Hitze drückte, der Stimmung tat das keinen Abbruch. „Das ist das erste Mal, dass Sie bei der Arbeit schwitzen“, neckte Pro-Potsdam-Chef Horst Müller-Zinsius Erich Jesse vom Sanierungsträger, Verkehrsminister Reinhold Dellmann (SPD) legte Potsdams neuem Baubeigeordneten Matthias Klipp (Grüne) indes auf munter-joviale Weise die Paragraphen 34 und 35 des Baugesetzbuches ans Herz, die bitte künftig „personenunabhängig“ angewandt werden mögen, und die Bauausschuss-Vorsitzende Anita Tack (Linke) frotzelte über den ihrer Partei missliebigen Abriss des „Hauses des Reisens“, als die Bahn es passierte.
Doch irgendwann endete auch diese launige Fahrt an der neuen Haltestelle „Alter Markt“, und es galt zu arbeiten, eine Schere in die Hand zu nehmen, ein Band zu zerteilen und sich gegenseitig zu loben: Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) freute sich, dass die Arbeiten im Zeitplan lagen, dass nun die Voraussetzungen für den neuen Landtag da seien und man den 32 Millionen Euro teuren Verkehrsumbau in der Mitte gestemmt bekam: „Das war gut investiertes Geld.“ Dellmann freute sich, dass die „kluge Verkehrsführung“ eine Vollsperrung überflüssig machte, dass die zwölf Millionen Landeszuschuss in „stimmigem Kosten-Nutzen-Verhältnis“ ausgegeben wurden und klagte nur, der „Radfahrer im Verkehrsminister“ habe manchmal unter fehlenden Schildern gelitten. Sanierungsträger-Chef Jesse hingegen erfreute sich daran, dass 120 Leute in drei Schichten bis zuletzt zum Gelingen beitrugen und man 850Tonnen Stahl und 1,5 Kilometer Schienen für Brücke und Trasse verbaut habe. Sogar die Linke hat offenbar mit der „Luxusbrücke“ mittlerweile ihren Frieden gemacht: „Nun ist sie fertig – nutzen wir sie“, forderte Anita Tack, die auch im Infrastrukturausschuss des Landtages sitzt und verkehrspolitische Sprecherin der Linken ist. Sie betonte zwar noch einmal ihre Zweifel an der Wirtschaftlichkeit, räumte aber ein, dass sich die Brücke gut in die Umgebung einfüge und die Einschränkungen für Besucher der Freundschaftsinsel erträglich seien.
Bis spät in die Sonntagnacht hatten die Bauarbeiter noch gewirkt, bevor kurz nach vier Uhr am Montagmorgen die erste reguläre Tram über die neuen Flüstergleise rollte. Ab 20 Uhr waren am Sonntag die ersten Testwagen gefahren, hatten den Kontakt zur Fahrleitung und die Spurlage getestet und die korrekte Weichensteuerung überprüft. Trotz des hohen Zeitdrucks sei die Qualität der Bauarbeiten sehr gut, lobten die Verkehrsbetriebe.
Dem Verkehrsminister erschloss sich die Qualität ganz unmittelbar: Er konnte seine Ansprache trotz direkt neben ihm rollender Bahn halten, ohne von Quietschen, Kreischen oder Holpern unterbrochen zu werden. Bis zur Begehung der Brücke kam der Tross aber nicht mehr. Im Schatten des Fortunaportals warteten gekühlte Getränke, und dann mochte bei der Hitze niemand mehr weiter. Wie bei einer Klassenfahrt.

Erschienen am 02.09.2009

Geschmacksprobe für ein Förderinstrument

Dienstag, 17. März 2009

Europa: EU-Kommissar kostete die süßen Auswirkungen seines Sozialfonds

Vladimír Špidla entscheidet für gewöhnlich an seinem Brüsseler Schreibtisch. Die Auswirkungen können durchaus lecker sein, lernte er gestern.

POTSDAM | „Ach“, sagte der Herr Kommissar, „da wird die ganze abstrakte Arbeit doch mal sinnlich“. Sprach’s und ließ sich eine Praline mit Cassis-Likör auf der Zunge zergehen. „Bei uns in Böhmen“, fügte Vladimír Špidla genießerisch hinzu, „sind ja alle Pralinen mit Alkohol.“ Das trifft auf die kleinen Meisterwerke von Tanja Hofmann und Franziska Tölcke in der Kurfürstenstraße zwar nicht immer zu, aber der EU-Kommisar für Beschäftigung, Chancengleichheit und soziale Angelegenheiten fühlte sich in der kleinen Manufaktur nebst Café dennoch sichtlich wohl. Ganz unaufgeregt, mit nur kleiner Entourage, wehte der hohe Herr aus Brüssel hinein, fast auf Zehenspitzen, um sich vor Ort ein Bild von den Segnungen des Europäischen Sozialfonds zu machen. Mit Hilfe dieser Förderung nämlich gründeten Hofmann und Tölcke vor etwas mehr als einem Jahr ihr „Lekker Snoepjes“ im Holländischen Viertel – das heißt soviel wie „leckeres Naschwerk“. Dass Vladimír Špidla die Segnungen seiner Programme mal erschmecken darf, ist selbst für den Kommissar nicht selbstverständlich, und auch die Handarbeit gehört nicht unbedingt zum täglichen Brot des promovierten Historikers und ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten. Doch beim Versuch, selbst eine Praline in weiße Schokolade zu tauchen, schlug er sich ganz wacker, auch wenn Špidla geradezu rührend um die Hygienevorschriften besorgt war und sich erst umständlich in Gummihandschuhe zwängte, obgleich ihm alle zuriefen, er möge doch nur beherzt zugreifen.
Der Kommissar weilte für eine Asien-Europa-Konferenz in Potsdam und nutzte die Gelegenheit, sich von den Segnungen der EU-Programme vor Ort zu überzeugen. Über die Gründungswerkstatt „Enterprise“ waren Tanja Hofmann und Franziska Tölcke bei ihrem Gang in die Selbstständigkeit beraten worden. Die Werkstatt erhielt dazu Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land Brandenburg. „Ich kann diese kostenlose Beratung nur empfehlen“, schwärmte Tanja Hofmann, die sich „vom ersten Tag an gut betreut“ fühlte.
Špidla fühlte sich seinerseits im „Snoepjes“ so gut betreut, dass er gegen den Terminplan noch einen Espresso trank und Pralinen mit nach Brüssel nahm. Geschenkt wollte er sie nicht, er zahlte brav selbst. Und natürlich nahm er welche mit Alkohol. Wie zuhause üblich.

Infobox: Gründungsförderung in Brandenburg
Mehr als 6,7 Millionen Euro stellt das Brandenburger Arbeitsministerium aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und Landesmitteln im Jahr 2009 bereit. Die EU gibt jeweils 75 Prozent der Fördersumme, das Land die restlichen 25 Prozent.
Die Gründungswerkstätten für junge Menschen bis 28Jahre, aus denen auch „Lekker Snoepjes“ hervorgingen, brachten seit 2003 rund 660 Brandenburger in die Selbstständigkeit.
In Potsdam betreute die Werkstatt „Enterprise“ zwischen März 2007 und Februar 2009 17 Gründerinnen und 14 Gründer, so Pressesprecherin Cornelia Grasme.
Seit 2003 sind in Brandenburg 230 Unternehmen durch diese Maßnahmen an den Start gegangen, davon 40Prozent von Frauen geführte Start-Ups.
Die Werkstätten helfen vor allem durch Betreuung, Beratung und Begleitung auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Sie gewähren keine finanzielle Unterstützung, helfen aber beim Beantragen von Fördermitteln und Krediten.
Viele Gründer profitieren auch nach der Förderung noch von den Jungunternehmer-Netzwerken, die sie in dieser Zeit bilden.

Erschienen am 17.03.2009


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