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Eine gespaltene Stadt

Samstag, 21. Juni 2014

Potsdam vor der Wahl: Alles wächst und gedeiht, aber die Menschen finden nicht so recht zueinander

Potsdam — Ein schöner Maitag in der Landeshauptstadt. Die Sonne scheint, der Bauminister ist da, Hunderte Kinder jubeln, kreischen, spielen, toben. Der Konrad-Wolf-Park im Stadtteil Drewitz wird eingeweiht. Einst eine vierspurige Durchfahrtsstraße zwischen DDR-Platten, in einem Stadtteil, dem drohte, abgehängt zu werden, während in der Mitte alles schön und barock wiederersteht. Doch die Stadt hat gegengesteuert, einen Bundeswettbewerb gewonnen — und damit EU-Fördermittel —, um Drewitz vor der Ghettobildung zu retten, und nach zähen Debatten um Parkplätze und Verkehrsverlagerung mit den Anwohnern einen Kompromiss erzielt. Der Park ist schon vor der Eröffnung bevölkert. Kinder klettern auf Felsen, Paare knutschen auf der Liegewiese, ältere Leute drehen ihre Runde nebst Dackel direkt vor der Haustür. Idylle pur. Eigentlich.

Doch das Einweihungskomitee aus Politikern, Baudezernent und Landesminister schafft keine Runde durch den Park, ohne kritisch angesprochen zu werden. „Na, ist das nicht schön geworden?” fragt der Minister leutselig, und jedesmal bekommt er ein „Jaja, aber . . .” zu hören. Aber da hinten fehlt noch ein Stein, aber da vorne ist es gefährlich, aber die Mutter muss vorübergehend umziehen, weil alle Platten energetisch saniert werden, ohne dass die Miete steigt. „Das ist so typisch Potsdam”, sagt Dana Stachura, Referentin im Rathaus. Sie ist neu in der Landeshauptstadt. Vorher war sie in Dresden. „In Dresden”, sagt Stachura, „wird vorher auch gemeckert, aber hinterher ist man stolz.”

Von diesem Status ist man in Potsdam weit entfernt. Obgleich sich nach der letzten Kommunalwahl sämtliche bürgerlichen Parteien — SPD, CDU, Grüne und FDP — zu einer Rathauskooperation zusammenschlossen um der Linken als stärkster Fraktion Paroli bieten zu können. Obwohl sie den Stadtschlosswiederaufbau und die berühmten Palazzi an der Alten Fahrt durchsetzen konnten, sodass am Ende einer der schönsten Plätze Europas wiedererstehen wird. Obwohl die Stadt Mäzene hat wie den SAP-Gründer Hasso Plattner (spendete mehr als 20 Millionen für Schlossfassade und Kupferdach) und den TV-Moderator Günther Jauch (spendete Millionen für das Fortunaportal und für das Kinderhilfswerk „Die Arche”), bleibt sie tief gespalten.

Die Kampflinien laufen entlang der Stadtteile. Die Innenstadt und alles rund ums Weltkulturerbe oder mit Blick aufs Wasser ist von reichen Zuzüglern in Besitz genommen worden, die Ur-Potsdamer sind in die Plattenbaugebiete verdrängt oder gleich nach Berlin gezogen. Potsdam hat Zuzug ohne Ende, um 2000 Menschen wächst die Stadt jährlich, während der Rest Brandenburgs immer dünner wird. Potsdam ist die kinderfreundlichste Stadt Deutschlands, hat die besten Taxis, das beste Parkhaus und demnächst wohl auch die besten Radwege, aber das Klagen hört nicht auf. Statt sich des Zuzugs zu erfreuen, stöhnt der Potsdamer Politiker gern über die immensen Kosten für Kitas, Schulen, Straßen, neue Wohnungen, die nun entstehen müssen. Er stöhnt über immer verstopftere Straßen und zu wenig öffentlichen Nahverkehr in den Norden.

Norden ist die einzige Richtung, in die sich die Insel Potsdam noch ausdehnen kann. Die Alternative, die sogenannte Nachverdichtung, also das Füllen von Lücken in der Kernstadt, wo schon alles erschlossen ist, kommt in absehbarer Zeit an ihre Grenzen. Der Elmshorner Immobilienkonzern Semmelhaack hat rund um den Hauptbahnhof unglaublich viele kleine Wohnungen auf unglaublich engstem Raum gestapelt, doch sie werden ihm aus den Händen gerissen. Und er baut jeden weiteren Fleck auf dem Areal zu, sodass die Potsdamer schon scherzen, es gebe neben der Nauener, Brandenburger, Templiner, Teltower und Jägervorstadt wohl bald auch eine Semmelhaack-Vorstadt. Gleichzeitig stampft das Unternehmen auch in den Nordgemeinden in den nächsten Jahren 11 00 Wohnungen aus dem Boden.

Mietwohnungen von unter zehn Euro je Quadratmeter sind kaum zu bekommen. Potsdam ist das München des Ostens geworden, und für Eigentumswohnungen sind Preise von 4000 Euro je Quadratmeter inzwischen normal — und das ohne gute Verkehrsanbindung oder Weltkulturerbenähe. Kommt die oder gar ein Wasserblick hinzu, dürfen es auch schon mal 5500 Euro für den Quadratmeter sein. Man gönnt sich ja sonst nichts — und in Potsdam ist in der Regel jede Wohnung verkauft, bevor der erste Spatenstich erfolgt ist.

Die Stadtentwicklung ist es dann auch, an der sich die Konflikte am stärksten manifestieren: Zwischen jenen, die das alte Potsdam wiedererstehen lassen wollen und jenen, die mit jedem Abriss ihre DDR-Indentität verschwinden sehen. Und so wird auch gewählt in Potsdam. Jedenfalls bisher, eine Trendumkehr zeichnet sich nicht ab. Eigentlich hätte Potsdam mit den vielen zugezogenen jungen, gutverdienenden Familien ein enormes Potenzial an Grünen-Wählern, doch die Grünen bleiben klein, weil sie fürs Pflaster und historische Bauten streiten und sich sonst für Ökologie und andere grüne Kernthemen nur am Rande interessieren. Eigentlich müsste Potsdam mit den ganzen wohlbetuchten Villenbesitzern an den Seen eine starke CDU-Fraktion zusammenbekommen, doch deren Kreisverband ist, schlimmer noch als im Land, so zerstritten, dass sie den meisten als unwählbar gilt. Also wird regelmäßig die Linke stärkste Kraft, dicht gefolgt von der SPD. Doch was auf Landesebene geht, ist in Potsdam unwahrscheinlich: Für Rot-Rot sind die Wunden, die sich beide Fraktionen in den Jahren geschlagen haben, zu tief. Da müsste schon viel geschehen, sollte sich das nach der Wahl ändern.

Wahrscheinlicher ist, dass freie Wählergruppen wie das Bürgerbündnis mit gut gefüllter Kriegskasse — dank eines Immobilienunternehmers an der Spitze — deutlich zweistellige Wahlergebnisse erzielen werden. Spannend wird dann, wie das alles zusammenpasst im Sitzungssaal des sanierungsbedürftigen Rathauses, auf den Fluren und in den Fraktionsräumen .

Eines aber ist sicher: Potsdam wird kein Dresden. Es wird nicht nur vorher gemeckert und nachher stolz gezeigt. Es wird immer gemeckert.

Nachlässige Netzfischer

Freitag, 17. September 2010

Politik: Der OB-Wahlkampf wird hart geführt, doch im Netz überwiegt die Langeweile

Twitter, Facebook, Youtube – die Möglichkeiten zur Eigenwerbung im Internet sind groß. Potsdams OB-Kandidaten machen davon aber wenig Gebrauch. Es dominiert die klassische Website.

Mit der Kandidatur war er der erste, und seine Plakate sind die kreativsten. Im Internet hingegen ist ausgerechnet der jüngste Kandidat, der für Die Andere antretende Benjamin Bauer, am schlechtesten vertreten: Keine eigene Internetseite und keine Nachrichten auf dem Kurzinformationsdienst „Twitter“ künden von seinem Wahlkampf. Beim Internet-Einwohnermeldeamt „Facebook“ hat Bauer zwar eine eigene Seite, doch ist die angesichts von 340 Treffern beim Namen „Benjamin Bauer“ nur mit außerordentlich viel Geduld zu finden.
Erwartungsgemäß besser läuft es bei Marek Thutewohl, dem Vertreter der Piratenpartei, die sich immerhin als Partei der Informationsgesellschaft versteht und das Internet zu ihren Gründungsmotiven zählt. Auf Twitter lässt Thutewohl die Welt in 81 Nachrichten an seinem Wahlkampf teilhaben – das ist Rekord im Teilnehmerfeld, ebenso die Zahl von 67 Abonnenten. Thutewohl, unter „Piraten_Potsdam“ zu finden, twittert durchaus unterhaltsam und verzichtet auf die „Sitze mit Mutti bei Pizza im Garten“-Tweeds, die nur der eigenen Existenzvergewisserung dienen. Trüber sieht es auf seiner Homepage unter www.marek-web.de aus: Pflanzen- und Urlaubsfotos sind zwar sehr hübsch, sagen über den Kandidaten Thutewohl aber rein gar nichts aus. Dass er Fahrlehrer von Beruf ist, erfährt der Surfer unter fahrlehrer.marek-web.de; außer Tipps zur Straßenverkehrsordnung ist aber auch hier nichts von politischem Interesse zu finden.
Die Pseudo-Vielseitigkeitskrone erntet Marcel Yon (FDP). Der verlinkt gleich zu seinen Twitter-, Facebook-, Flickr- (Fotos) und Youtube-Konten. Der Ertrag dort ist aber gering: Auf Youtube findet sich ein mageres Video, in dem sich der Kandidat vor überbelichtetem Hintergrund und bei grauenvollem Ton nach einer Podiumsdiskussion über die Oberflächlichkeit von Politikerstatements beklagt – in 2:17 Minuten! Auf Twitter (marcel_yon) finden sich ganze sechs Kommentare, die nur elf Leute abonniert haben. Yon hat ganz offensichtlich erst Ende August zum Wahlkampfauftakt mit dem Twittern begonnen, und macht genau, was man nicht tun sollte: „Genieße den Spätsommer im Garten“, lässt er die begeisterte Welt wissen, und auch, was für ein Frühaufsteher er ist: „Ein schöner Tag beginnt, Aufräumen, Sport machen, um 6 Uhr Team-Meeting“. Auf Facebook immerhin kann er auf 1742 Freunde zählen – Rekord im Teilnehmerfeld. Seine Internetseite (marcel-yon.de) listet Lebenslauf, Wahlkampftermine, das Presseecho und Yons „Visionen“. Auf der Bilderplattform Flickr finden sich Portraits des Kandidaten, darunter seine zwei Plakate, auf denen er „neue Wege“ und „frischen Wind“ fordert. Letzteres hätte offenbar auch dem Foto gut getan, das an einem heißen Julitag entstand und daher deutliche Schweißflecken im Gesicht des Kandidaten nachweist.
Marie Luise von Halem (Grüne) ist bei Facebook dank des exklusiven Namens leicht zu finden, beeindruckt aber mit einer fast leeren Seite, auf der man sich erst um ihre Freundschaft bewerben muss, um mehr Informationen zu erhalten. Immerhin hat sie 131 Freunde, bei Twitter findet man sie hingegen nicht. Etwas spartanisch wirkt auch ihre Internetseite unter „mlhalem.de“, die offenbar aus einem Standardbaukasten der Grünen zusammengeklickt wurde. Ein bisschen Lebenslauf, ein paar Termine und der zwar einfache, aber immerhin recht originelle Kurzwerbespot (31 Sekunden) – das war’s dann auch schon.
CDU-Kandidatin Barbara Richstein zeigt ihre Strebsamkeit auch im Internet: Als einzige hat sie auf Facebook eine Fanseite geschaltet, die immerhin 422 namentlich genannte Bewunderer auflistet, inklusive der „Stadt Potsdam“. Zum Twittern hat die Allgegenwärtige aber offenbar keine Zeit. Dafür birst die Internetseite barbara-richstein.de vor stündlich aktualisierten Informationen: Neben Obgligatorischem wie Lebenslauf, Presseecho und Terminen findet sich dort auch ein Spendenaufruf für den teuren Wahlkampf und ein Mitgliedsantrag für die CDU.
Auf seine Internetseite konzentriert sich auch der linke Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg – Experimente auf Facebook und Twitter scheinen für die Partei mit der wohl ältesten Wählerschaft nicht lohnend. Stattdessen gibt es viele Informationen für politikinteressierte Leser, vom Rathausreport bis zu Standpunkten in (nahezu) allen aktuellen stadtpolitischen Fragen. Der Unterhaltungswert von scharfenberg-fuer-potsdam.de ist im Gegenzug nahezu null.
Amtsinhaber Jann Jakobs (SPD) scheint ebenfalls nicht viel von der „Generation Netz“ als Wähler zu halten: Facebook und Twitter bedient er nicht, auf Youtube finden sich immerhin einige Fremdvideos von seinen öffentlichen Auftritten. Dafür gewinnt Jakobs den Preis für die beste Website (jann-jakobs.de), die durchweg mit professionellen Fotos bestückt ist und eine ausgewogene Mischung aus Politik und Unterhaltung bietet. Vor allem die Präsentation „Jakobs persönlich“ ist aufwändig und liebevoll erstellt. Von privaten Fotos flankiert, zieht Jakobs dort den eigenen Lebensweg nach und spart nicht mit Worten, die Bodenständigkeit, Gemeinwohlorientierung und Kampfeswillen dokumentieren sollen: „Ich wollte mich durchbeißen“, heißt es da, „Beim Fußball kam keiner an mir vorbei“ oder auch „Natürlich musste ich als Ältester schon früh Verantwortung tragen“. Das „offizielle Wahlkampfvideo“ auf der Seite zeigt Jakobs bei der Morgentoilette. Der Wähler erfährt, dass sich sein Oberbürgermeister in Hemd und Krawatte rasiert und beim Parfümieren begeistert in die Hände klatscht.

Erschienen am 17.09.2010

Mustergültig in Musterhausen

Dienstag, 12. Mai 2009

Online: Linken-Fraktionschef Scharfenberg wird Opfer der Tücken des Internet-Wahlkampfes

Die Seite heißt „Scharfenberg für Potsdam“, doch für ein paar Tage drehte sich dort alles um Muster- hausen – offenbar eine Stadt mit ähnlichen Problemen.

Der Wahlkampf hat seine eigenen Gesetze. Journalisten können auf zunehmende Dünnhäutigkeit bei Politikern gegenüber Kritik und Pressefotografen auf großen Andrang vor der Linse bei Scheckübergaben und Kita-Grundsteinen bauen. Etwas später als die Allgemeinheit haben auch Landtagskandidaten den Charme des Internets entdeckt und stellen auf eigenen Webseiten, mit Facebook-Einträgen, Online-Videos, Blogs und SMS-Beschuss die Bits und Bytes in den Dienst des Wahlkampfs.
Mancher schießt dabei übers Ziel hinaus und biedert sich in einem Maße an, dass sich die junge Zielgruppe angewidert wegdreht; andere belassen es bei lustlosen Anmeldungen auf vermeintlich coolen Seiten, stellen ein Passfoto drauf und drei Passagen aus dem Wahlprogramm und behaupten auf Presseterminen, sie seien jetzt „online voll dabei“ – wohl hoffend, dass die Damen und Herren von den Medien von den Begriffen FaceBook, YouTube und Twitter so verwirrt sind, dass sie nicht nachschauen.
Doch der Online-Wahlkampf hat seine Tücken. Das musste Linken-Stadtfraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg erfahren, der sich erneut um einen Landtags-Sitz bewirbt. Er ließ hastig eigene Seiten freischalten, als der Potsdamer SPD-Landtagskandidat Mike Schubert (SPD) jüngst mit seiner „M-Community“ online ging. Doch Scharfenbergs Seiten gehörten offenbar zu einem Mustersatz, den die Linke allen ihren Kandidaten zur Verfügung stellt. Daran ist nichts auszusetzen, schließlich sorgt es dafür, dass alle Seiten der Partei ähnlich aussehen und sich das Wahlvolk schnell zurechtfindet. Dumm nur, dass Scharfenbergs Mitarbeiter vergessen hatten, außer dem Namen ihres Kandidaten weitere Parameter zu ändern. Ein Wochenende lang ließ sich daher lesen, dass Scharfenberg vom „Linke-Verband Musterhausen“ für „ein weltoffenes Musterhausen“ eintritt. Schließlich nehme „Musterhausen als Stadt der Wissenschaft“ die Bürgerrechte ernst und trete daher für Zuwanderung ein. Auch, dass in Musterhausen 3000 Menschen arbeitslos sind und 5000 Menschen als arm gelten, lernte der interessierte Surfer – und erfuhr so nebenbei einiges über politisches Phrasendreschen, denn offenbar sind das Sätze, die fast überall gelten.
Wer den Kandidaten darauf ansprechen möchte, hat spätestens am 1.Dezember – ein paar Wochen nach der Wahl – dazu Gelegenheit: Dann weilt Scharfenberg nämlich laut Internet ab 23 Uhr im Hotel Mustermann zum 2.Musterhausener Parteitag.
Nach drei Tagen waren die Standard-Seiten verschwunden. Die Adresse verweist nun auf die – ganz klassische – Seite der Linksfraktion im Landtag. Und im Hintergrund wird in aller Ruhe an einer mustergültigen Version gefeilt, die dann sicher auch direkten Potsdam-Bezug hat.

Erschienen am 12.05.2009

Heißkalter Februar

Mittwoch, 25. Februar 2009

Integration: Potsdam ist zerrissen: Der geplante Umzug von Asylbewerbern entzweit die Stadt

Wie viel Ruhe brauchen Flüchtlinge? Wie viel Integration verträgt ein Neubauviertel? Und wo beginnt Rassismus? Ein Drama in bislang fünf Eskalationsstufen.

POTSDAM| Es ist kalt dieser Tage in Potsdam. Besonders hier, wo der eisige Wind ungehindert über die Lennésche Feldflur streicht. Die niedrigen Baracken des Asylübergangsheims rauben nur wenig von seiner Wucht. Der Lerchensteig liegt am Nordrand der Landeshauptstadt, mit Bus und Bahn dauert es 45 Minuten bis ins Zentrum. Trotzdem liegen die schneebedeckten Baracken an diesem Vormittag verwaist, nur ein zugeschneites Dreirad kündet vom Leben vor der Kälte.
„Es ist hier nicht kalt“, sagt Alan Chochiev trotzig. „Hier nicht. Aber am Schlaatz. Da ist es polarkalt.“ Wie zum Beleg reibt der 63-Jährige mit seinen gewaltigen Händen sich die Schultern warm. Chochiev war Vize-Parlamentssprecher in Süd-Ossetien – bis zum Sommer 2008. Dann entzündete sich das, was in deutschen Medien „Kaukasus-Konflikt“ genannt wurde, und das Leben des Historikers, der häufig mit den russischen Behörden in Konflikt geriet, war akut bedroht. Er entschied, Flucht sei das einzige Mittel. Seit Dezember ist er in Potsdam. Was er jetzt braucht, sagt Chochiev in lupenreinem Englisch, ist Ruhe. Ruhe, um sich von Todesangst, Stress und dem schlechten Gewissen zu erholen, das ihn plagt, weil er seine Mutter zurückließ.
Es scheint nicht, als wäre ihm die Ruhe vergönnt. Denn in Potsdam ist eine Debatte darüber entbrannt, ob die 165 Asylbewerber aus dem fernen Lerchensteig in den zentrumsnahen Schlaatz umziehen sollen. Dass nicht einmal die Betroffenen davon begeistert sind, ihr integrationserschwerendes, weit draußen gelegenes Domizil zu räumen, ist die vierte von fünf Eskalationsstufen in einem Konflikt, der Bürger, Politik, Wohlfahrtsverbände, Wohnungsgenossenschaften und nicht zuletzt die Medien in Atem hält.
Es geht heiß her dieser Tage in Potsdam. Die erste Eskalationsstufe zündete, als ruchbar wurde, die Asylbewerber sollten in ein umgebautes Lehrlingswohnheim im Neubauviertel Schlaatz ziehen. Das klang sinnvoll: Früher als Problemviertel verrufen, mit hohem Ausländeranteil, vielen Arbeitslosen, perspektivloser Jugend, mit Schlägereien und rechten Parolen an ungepflegten Plattenbauten, wirkt der Stadtteil heute dank vieler Mühen als Schmelztiegel: Es gibt Integrationsangebote an jeder Ecke, darunter das Projekt „Kirche im Kiez“ und Theatergruppen; die meisten Häuser sind saniert, die Polizei hat den Ärger im Griff, und obwohl der dortige Integrationsgarten – eine Art Kleingartenkolonie für Spätaussiedler – regelmäßig abbrennt, wird er stets wieder aufgebaut. Jedesmal besser.
Die Begeisterung außerhalb des Rathauses über die Umzugspläne hielt sich dennoch in Grenzen. Während der neue Träger, die Diakonie, nicht müde wurde, die integrativen Vorzüge der citynahen Unterbringung zu preisen, ächzten Anwohner, die Stadt solle die Integrationsaufgaben auf ihr gesamtes Gebiet verteilen, statt dem Schlaatz noch mehr zuzumuten. Das weckte unschöne Erinnerungen: 2002 sollten 180 Asylbewerber in den Stadtteil Bornstedt umziehen, doch Anwohner wussten das zu verhindern – auch wegen angeblich dadurch sinkender Grundstückspreise. Initiativen, die daran erinnerten, dass Integration ein dem Grundstückswert übergeordneter Wert sei, fanden im aufgebrachten und von latent rechtslastigen Flugblättern flankierten Bürgerprotest kein Gehör.
Es war eisig letzte Woche in Potsdam. Trotz stehender Luft und erhitzter Gemüter fror es manchen im Bürgerhaus am Schlaatz, in das wegen erster Proteste zur Bürgerversammlung geladen war – eine weitere Eskalationsstufe. Zwar mühten sich Diakonie und Stadt redlich, die Vorzüge des Umzugs zu preisen, doch die aufgebrachte Mehrheit im Saal stimmten sie nicht um. Sie hätte sich noch deutlicher artikuliert, hätten nicht ein paar linke Gruppen ihre stimmgewaltigsten Mitglieder entsandt, die jeden zu offensichtlich ausländerfeindlichen Protest einfach niederschrien. Die Präsenz von drei Kamerateams und zahllosen Journalisten war nur weiterer Zunder für Volkes Zorn, der sich darüber empörte, dass der Schlaatz nun endgültig kippen werde, dass man genug Ausländer habe, dass es schon erste Schmierereien gegen die Asylanten gegeben habe und dass nun Ruhe, Ordnung und Sicherheit endgültig zum Teufel gingen. Rhetorisch elegantere Redner versuchten klarzumachen, die 165 Asylbewerber hätten an den engen Wohnungen, die einen der Bewohner jeweils auch noch zur Nutzung eines Durchgangszimmers zwingen, ohnehin keine Freude.
Die umstrittenste Stufe zündete die am Schlaatz sehr präsente Wohnungsgenossenschaft PBG. Sie ließ in einer Zeitungsanzeige wissen, dass sie das Heim als „massiven Eingriff in ihre Wirtschaftlichkeit“ betrachte, der der Entwicklung des Stadtteils im Wege stehe. Die Reaktion darauf kam prompt: Die Vorsitzende des Potsdamer Ausländerbeirats warf dem Unternehmen Rassismus vor, die Integrationsbeauftrage sprach von einem „Stein, der über den Zaun flog“. Die PBG schaltete daraufhin erneut Inserate, in denen sie sich gegen „polemische“ und „diffamierende“ Berichterstattung verwahrte und ankündigte, mit niemandem mehr reden zu wollen. Zeitgleich ließ sie ihre Anwälte auf die Ausländerbeirats-Chefin los. Damit hat sich das Unternehmen bei politisch engagierten Potsdamern weitgehend unmöglich gemacht. Nur betroffene Anwohner am Schlaatz applaudieren öffentlich. Die allgemeine Entrüstung darüber ist wohlfeil und billig zu haben. Denn wie andere Stadtteile in der gleichen Situation reagieren würden, fürchten die meisten Beobachter anhand des Beispiels von 2002 nur zu gut zu wissen.
Auf diesen für ihre Zwecke mit Angst, Verunsicherung und Vorurteilen wohlpräparierten Boden wirft nun – Eskalationsstufe fünf – die NPD seit einigen Tagen Flugblätter. Ein schwarzes Schaf ist darauf zu sehen, das von drei weißen Schafen weggetreten wird. „Gute Heimreise“ steht über den „an alle Deutschen“ verteilten Blättchen. Der Staatsschutz ermittelt.
Alan Chochiev verfolgt die Debatte, die seine neue Heimatstadt entzweit, kaum. Er muss seine eigene Balance zurückerlangen, bevor er sich in den Trubel der Innenstadt wagt, sagt er. Bis dahin ist ihm die winterliche Kälte draußen im Lerchensteig wesentlich lieber als die befürchtete Ablehnung im Schlaatz. Einen Satz aus dem Bericht über die Bürgerversammlung hat er sich aber gemerkt, obwohl sein deutsch noch schlecht ist: „Alle reden immer über die Menschen im Asylheim. Hat schon mal jemand mit ihnen geredet?“ Der Hauptausschuss der Stadt trifft auch ohne Besuch im Lerchensteig heute seine Entscheidung.

Erschienen am 25.02.2009

Der feine Unterschied

Montag, 2. Februar 2009

Namensstreit: Beirat diskutierte die Nuancen der Begriffe Ausländer, Immigrant, Zuwanderer und Migrant

Es bedarf keines Soziologie-Studiums, um zu wissen, dass Name und Identitätsgefühl zusammenhängen. Doch um zu erleben, wie tief eine Bezeichnung ins Selbstgefühl eines Menschen eingreifen kann – und wie unterschiedlich dabei die Wahrnehmungen sind – bot sich die jüngste Sitzung des Ausländerbeirats an. Ganz unscheinbar und nicht auf der Tagesordnung vermerkt, versteckte sich nach dem Punkt „Sonstiges“ dort die Umbenennung, eingebracht von der Ausschuss-Vorsitzenden Hala Kindelberger – eine Deutsche ägyptischer Herkunft. Sie eröffnete ihren Punkt kämpferisch: „Ausländer sagt man nicht mehr“, erklärte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zu dulden schien. Durch die NPD sei der Begriff gänzlich ins Abwertende verschoben worden. Drei Vorschläge gäbe es deshalb: Integrationsbeirat, Migrationsbeirat und Migrantenbeirat stünden zur Debatte, doch eigentlich liege der Fall klar: Integration sei viel umfassender, betreffe neben Ausländern auch Behinderte, Senioren, Delinquente und psychisch Kranke und falle daher weg, so Kindelberger, die als Soziologin zur Migration forscht, lehrt und darin promoviert. Migrationsbeirat sei auch unpassend, da man ja kein Beirat für die Durchführung von Migration sei, sondern einer für die Belange von Migranten – daher könne doch eigentlich nur Migrantenbeirat genommen werden, war Hala Kindelberger überzeugt.
Dem widersprach nun Olga Schummel, Deutsche weißrussischer Herkunft und Philologin, die betonte, Migration bedeute schlicht Wanderung, und Migranten seien auch Menschen, die von Bayern nach Potsdam zögen, so, dass es entweder Zuwanderer- oder Immigrationsbeirat heißen müsste. Als dann auch noch das Namensungetüm „Beirat für Migration und Integration“ auf der Vorschlagsliste auftauchte, fragten zwei beratende deutsche Ausschussmitglieder, was denn am Begriff „Ausländer“ eigentlich so verkehrt sei, sie empfänden sich im Ausland ja auch als Ausländer. Hier zeigte sich nun die Gespaltenheit: Hala Kindelberger betonte, mit diesem eindeutig negativen Begriff nicht mehr leben zu können, deshalb schlage sie ja die Umbenennung vor. Julia Böselt-Krupkina (hat die russische Staatsangehörigkeit) und Thi Minh Lien Ngo (vietnamesische Staatsangehörigkeit) stimmten ihr unter Vorbehalten zu, während Evgueni Kutikov (Deutscher, weißrussischer Herkunft) und zwei Gäste (ein Türke, ein Afrikaner) bekannten, sie empfänden sich als Ausländer und den Begriff neutral. Die Debatte uferte ins Leidenschaftliche aus, ohne aggressiv zu werden, und die deutschen Ausschussmitglieder und beratenden Teilnehmer nahmen sich respektvoll zurück. Alle spürten: Hier geht es um innerste Identitätsfragen, um das brüchige Zugehörigkeitsgefühl zwischen verlassenem Vaterland und neuer Heimat. Am Ende war es dann ganz knapp: Mit nur einer Stimme Mehrheit siegte der „Migrantenbeirat“ vor dem überkommenen „Ausländerbeirat“.
Wichtiger als das, war aber die Lehrstunde in Sachen Identitätsgefühl in Potsdam lebender Ausländer, das keine Fragebogenaktion oder Podiumsdiskussion so lebendig vermittelt hätte. Das spürte auch Hala Kindelberger. „Wir haben heute sehr viel von uns preisgegeben“, sagte sie zum Abschied.

Erschienen am 02.02.2009

Letzte Ausfahrt Heiligendamm

Samstag, 14. April 2007

Attac: Im Jahr des G 8-Gipfels droht der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit

POTSDAM In der „Galerie“ finden sich Bilder aus besseren Tagen: Die Potsdamer Attacies beim G8-Gipfel in Evian (Sommer 2003) und beim Europäischen Sozialforum in Paris (November 2003). Unter Termine steht: „Nächstes Treffen 2005, Montag“. Die Rubrik „Aktuelles“ vermerkt eine Protestdemo am 16. Februar 2005. Kurzum: Auf der Internetseite von Attac Potsdam liegt eine spürbare Staubschicht. Auch auf Mails und Anrufe reagiert zunächst niemand. Damit ist Potsdam kein Einzelfall, die Attac-Hauptseite beweist es – viele Ortsgruppen haben den Betrieb vorübergehend oder dauerhaft eingesellt: Emden: „Die Gruppe ruht im Moment, es soll aber bald weitergehen.“ Oder Greifswald: „Zurzeit finden keine Treffen statt.“ Was also ist los mit Attac, dem einstigen Medienliebling, der „Stimme der Globalisierungskritiker“?
„Attac ist in ein Loch gefallen, man macht eine formidable Orientierungskrise durch“, sagt Ralf Baus, der für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung mehrere Dossiers über das Netzwerk verfasst hat. Ein Grund sei die abgenommene Aufmerksamkeit der Medien. Aber erklärt das das Phänomen nicht quasi von hinten nach vorn? „Die Medien haben Attac groß gemacht“, bestätigt Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin über soziale Bewegungen forscht: „Attac war nie ein Vorkämpfer der Globalisierungskritik. Und es ist nicht groß: Im Vergleich mit den Gewerkschaften oder Greenpeace ist es sogar ein Zwerg. Aber sie sind im richtigen Moment von den Medien emporgespült worden.“
Geboren wurde die Protestbewegung schon einige Jahre zuvor in Frankreich. In einem berühmt gewordenen Leitartikel der französischen links-intellektuellen „Le Monde diplomatique“ forderte der Journalist Ignacio Ramonet die Einführung einer Steuer auf internationale Devisengeschäfte, die so genannte Tobin-Steuer, um die internationalen Finanzmärkte zu demokratisieren. Der Aufruf erzeugte soviel Resonanz, dass es innerhalb weniger Monate Anfang 1998 zur Gründung von Attac kam. Der Name leitet sich aus der französischen Abkürzung für „Verein für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“ ab. Der deutsche Ableger des Netzwerks erblickte im Jahr 2000 das Licht der Öffentlichkeit. Ein denkbar günstiger Moment: Die beiden linken Parteien im Bundestag waren an der Regierung und hatten ein Jahr zuvor Deutschland in den ersten Kriegseinsatz seit Gründung der Bundesrepublik geführt. Linker Protest fand im Parteiensystem keinen Ansprechpartner mehr.
„Gerade für viele junge Leute war Attac eine interessante Gruppe: Sie erhofften sich eine schnelle Veränderung in der Politik und wurden von den lockeren Netzwerkstrukturen angezogen“, sagt Dieter Rucht. In wenigen Jahren explodierten die Mitgliedszahlen förmlich: von 2000 im Dezember 2000 auf 12 000 im Dezember 2003. Daran ist vor allem Genua schuld. Kein Ereignis hat soviel Aufmerksamkeit auf Attac gelenkt wie der G 8-Gipfel im Juni 2001 in Italien, bei dem es zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen zwischen teils militanten Globalisierungsgegnern und der Polizei kam. „Das war das Format von Attac: Wo die Großen der Welt zusammenkommen, sind wir demonstrierend dabei, und wenn es Randale gibt, haben wir mediale Aufmerksamkeit“, umschreibt Ralf Baus den Mechanismus. Die „nicht eindeutige Abgrenzung von Gewalt“ hält er für den schwierigsten Aspekt an Attac. Dass die Gruppe immer wieder mit dieser Frage ringt, zeigt sich auch vor dem G 8-Gipfel im Juni in Heiligendamm: Weil sich der Attac-Vorsitzende Peter Wahl im Vorfeld eindeutig vom gewaltsamen Protest distanzieren wollte, distanzierte sich plötzlich der G 8-kritische „Gipfelsoli“ von Attac.
Mediale Aufmerksamkeit hat den Charakter einer Droge: Sie putscht und pusht, aber sie flacht schnell wieder ab. So schnell, dass Attac nicht immer nachlegen konnte. Im Überraschungserfolg von Attac 2001 lag bereits der Keim des Untergangs: Der Medienhype spülte Tausende Mitglieder ins Netzwerk, das darauf gar nicht vorbereitet war. Auch war nicht jeder Neuzugang zum Besten der Organisation: Die Randale in Genua machte Attac vor allem für radikale Linke interessant, kirchliche Gruppen wie Pax Christi oder Umweltverbände wurden an den Rand gedrängt. Also ging man in die Breite, um jedem seine Spielwiese zu geben. Vielfach wurde das Thema Globalisierung dazu aufs Nationale oder gar Regionale heruntergebrochen. Plötzlich gab es Arbeitsgruppen zur Bahnprivatisierung und zu kommunaler Abwasserproblematik. Attac zerfaserte. Das Konsensprinzip, nach dem eine Mehrheit für Entschließungen nicht genügt, sondern stets allgemeine Übereinstimmung herrschen muss, machte die aus 170 Organisationen bestehende Gruppe zum zahnlosen Tiger.
Nicht zuletzt ist Attac auch ein wenig das Opfer seines eigenen Erfolges geworden. Kernforderungen der Globalisierungskritiker sind längst Allgemeingut: Als Franz Müntefering (SPD) im Frühjahr 2005 Finanzinvestoren mit einer Heuschreckenplage verglich und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) weltweite Finanzspekulationen auf die Tagesordnung der G 8 setzte, nahmen sie globalisierungskritische Kernthemen auf. „Wenn Themen einer Gruppe in die Öffentlichkeit einsickern, steht der ursprüngliche Impulsgeber nicht mehr lange im Zentrum“, sagt Bewegungsforscher Rucht. Eine Erfahrung, die auch Greenpeace und die Grünen machen mussten. Erfolg kann für soziale Bewegungen tödlich sein, wenn sie sich nicht rasch neu orientieren.
Bewegungsforscher Dieter Rucht sieht die größere Dynamik der Globalisierungskritik ohnehin bei christlichen Gruppen in Afrika und den sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas. „Die Dynamik geht nicht von den kapitalistischen Kernländern aus. Die Kraft, die Energie und vor allem die Evidenz der Problematik sind in den Südländern viel stärker spürbar“, sagt er.
Was also passiert mit Attac? Geht es unter? Thomas Baus sieht keine Perspektive. Ein Großereignis wie Heiligendamm könne zwar die Orientierungskrise überdecken, aber nicht lösen, glaubt er. Dieter Rucht hingegen sieht Attac momentan nicht aktiv bedroht. Durch die G 8-Mobilisierung gebe es „einen Zufluss an Kräften“. Exorbitantes Wachstum erwartet er aber nicht.
Am Ende gibt es doch noch Rückmeldung von der Potsdamer Attac-Website. Man sei derzeit dabei, die Gruppe neu zu formieren, heißt es. Was das genau bedeutet, ob die alte Gruppe tot und eine neue im Aufbau ist, verrät der Sprecher auch auf Rückfrage nicht. Man sei mit den Vorbereitungen für den Gipfel voll ausgelastet. Das scheint auch drigend nötig zu sein: Auf dem steilen Weg nach unten ist Heiligendamm die letzte Ausfahrt.

Erschienen am 14.04.2007

Der Winter fiel auf einen Freitag

Dienstag, 20. März 2007

Der Skifreunde Leid, der Bauern Freud: Bilanz einer ausgefallenen Jahreszeit

POTSDAM Ein bisschen wirkte es, als wollte das Wetter die internationale Politik kommentieren: Passend zum UN-Klimabericht, zum EU-Klimagipfel und zur Oscar-Verleihung – dort wurde Al Gores Umweltdokumentation „Eine unbequeme Wahrheit“ ausgezeichnet – erlebte Deutschland einen Winter, der keiner war: Mehr als vier Grad über dem Durchschnitt lag die Temperatur, hat der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Offenbach ermittelt: 4,3 Grad verzeichnet die Statistik für Dezember bis Februar, dabei hat der deutsche Standard-Winter eigentlich im Schnitt nur 0,2 Grad. Daran ändert auch die aktuelle vorübergehende Abkühlung nichts mehr.
Es ist vor allem dem Januar geschuldet, der alle bisherigen Rekorde schlug und zum wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1901 geriet. Der Dezember war dagegen „nur“ der wärmste seit 32 Jahren, der Februar schaffte es in die heißen Top 10. Legt man die meteorologische Regel zugrunde, dass an einem klassischen Wintertag die Temperaturen nicht über minus drei Grad steigen, so fiel der Winter in diesem Jahr auf einen Freitag – den 26. Januar.
Besonders hart traf es die Wintersportler. Sie mussten auf höhere Lagen ausweichen oder mit Kunstschnee aus der Kanone vorlieb nehmen. Den örtlichen Tourismusverbänden hat das allerdings nur wenig geschadet: Bayern etwa vermeldet kontinuierlich steigende Besucherzahlen. Neue Angebote im Städte- und Kulturtourismus machen Rückgänge bei den Skifahrern mehr als wett. Die großen Skigebiete gleichen ohnehin seit Jahren die Wetterrisiken mit Schneekanonen aus. „Für die nächsten 15 Jahre wird’s reichen“, ließ sich Richard Adam, Geschäftsführer der Bayern Tourismus GmbH, mit Blick auf den Klimawandel zitieren.
Ganz ähnlich im Sauerland: Nach rekordverdächtigen 120 Wintersporttagen im letzten Jahr kam die Region in diesem Winter nur auf magere 50 Tage. „Ohne Kunstschnee wären es wohl nur zwei gewesen“, so Sprecherin Susanne Schulten. Nach einem Blick auf die Statistik sei das aber kein erschreckendes Phänomen: „Natürlich schmerzt es die Liftbetreiber, Gastwirte, Hoteliers und Einzelhändler, aber das Wintersportgewerbe war schon immer sehr wetterempfindlich“, so Schulten, die sich „in der Aufgeregtheit der Klimadebatte etwas mehr Rücksicht“ wünscht, damit „die Skiregionen nicht schlechtgeredet werden“.
Am Trend wird das nichts ändern: Mit steigenden Wintertemperaturen ziehen sich auch die schneesicheren Hänge zurück. „Irgendwann steht der technische Aufwand von Kunstschnee und Pistenpräparation in keinem sinnvollen Verhältnis mehr zu den Einnahmen“, sagt ein Experte des Umweltbundesamtes.
Acht Milliarden
Heizkosten gespart
Wenig begeistert vom Winter sind auch die Wärmeversorger. Um 15 bis 23 Prozent sei die Gasabnahme zurückgegangen, berichtet Eon-Edis-Sprecher Jörg-Uwe Kuberski. Die Erdgas Mark Brandenburg vermerkte deutlich ebenfalls fünfzehn Prozent Rückgang. Bedroht fühlen sich die Konzerne davon nicht: „Letztes Jahr gab es einen besonders strengen Winter mit hohen Abnahmen, in diesem Jahr war es halt das Gegenteil. Das gleicht sich aus“, sagt ein Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Wärme und Heizwirtschaft in Frankfurt/Main. Die Verbraucher hat’s gefreut. Nach Jahren steigender Energiepreise sind niedrige Rechnungen besonders gern gesehen. Die Hypo Vereinsbank rechnete aus, dass den Deutschen Haushalten etwa acht Milliarden mehr im Portmonee bleiben als im letzten Winter, das sind rund 200 Euro pro Haushalt. Der Heizbedarf fiel um 15 Prozent geringer aus.
Ähnlich froh wie Verbraucher sind die Landwirte. Der milde Winter verschafft ihnen etwas Luft beim Einrichten der Felder. Das Wintergetreide habe sogar drei bis vier Wochen Vorsprung, sagt der Deutsche Wetterdienst. „Nur eine längere Frostperiode könnte jetzt noch Schäden anrichten“, so Michael Lohse, Sprecher des Deutschen Bauernverbandes. An ein deutlich vorgezogenes Aussäen sei aber allein wegen der feuchten Böden nicht zu denken, die Traktoren kommen noch nicht auf die Felder. „Außerdem wollen wir das Saatgut nicht in den Boden einschmieren“, so Lohse. Zum Problem könnten Schädlinge werden, die aufgrund milder Temperaturen vielfach überlebt haben. Einige Gerstenfelder in Niedersachsen sind bereits zur Hälfte geschädigt, weil sich dort das „Gerstengelbverzwergungsvirus“, ein bisher kaum bekannter Erreger, ausbreitet. Seine Wirtstiere, die Blattläuse, haben wegen der Wärme explosionsartig zugenommen.
Sie sind nicht die einzigen Lebewesen, die vom milden Winter profitieren: Der Deutsche Jagdschutz-Verband warnt vor erhöhtem Wildwechsel, auf den sich vor allem die Autofahrer einstellen sollen: Durch das sprießende Grün sind die Wildtiere schon einen Monat vor der Zeit auf Futtersuche und überqueren dabei die Straßen. Vor allem in der Dämmerung sollten Autofahrer aufpassen.
Mücken und Zecken
machten durch
Das gilt auch für den Waldspaziergang, denn Zecken und Mücken haben vielfach „durchgemacht“, wie aus dem Friedrich-Löffler-Institut in Jena verlautet. Schon jetzt sollte auf die „Holzböcke“ genannten Spinnentiere geachtet werden, die schwere Krankheiten wie Hirnhautentzündung und Borreliose übertragen. Im Verlauf des Sommers ist gar mit einer regelrechten Insekten-Plage zu rechnen. Noch ist das aber nicht sicher: Ein plötzlicher, harter Frost kann vielen vorzeitig aktiven Krabblern den plötzlichen Garaus machen. Mücken sind allerdings frosthart bis etwa minus 20 Grad. Für die Blautsauger, die ihre Larven im Wasser ablegen, ist ein trockenes Frühjahr wesentlich bedrohlicher als ein eiskalter Winter.
Egal, wie mild der Winter war: Auf Frühlingsgefühle muss niemand verzichten. „Die hormonellen Änderungen, die der Volksmund Frühlingsgefühle nennt, kommen vor allem wegen des längeren Tageslichts zustande“, sagt Peter Walschburger, Professor für biologische Psychologie an der Freien Universität Berlin. Ein strenger und langer Winter steigere zwar das Kontrasterleben bei Frühlingsausbruch, doch selbst wenn der Winter durch den Klimawandel ausstürbe: die Frühlingsgefühle bleiben. „Es wäre evolutionär keine gute Strategie, sich an Länge und Strenge des Winters anzupassen, die Schwankungen des Lichts sind zuverlässiger“, so der Forscher. Und schließlich, nicht zuletzt, war es auch eine großartige Zeit für Medienschaffende. Hier gilt: „Wetterthemen gehen immer“, und so füllte der Winter, der keiner war, unendlich viele Sendeminuten und Druckzeilen. Eine Jahreszeit, die durch ihre Abwesenheit die aktuelle Weltpolitik kommentiert, ließ sich niemand entgehen.

Erschienen am 20.03.2007


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