Archiv für die Kategorie „Märkische Allgemeine“

SPD: Wicklein ohne Chance

Donnerstag, 22. März 2007

Potsdamerin scheiterte bei der Wahl zum Fraktionsvorstand

BERLIN Es war von vornherein ein schwieriges Unterfangen für Andrea Wicklein: Kampfkandidaturen sind bei der Wahl für den SPD-Fraktionsvorstand unüblich, und so musste die 39-Jährige Potsdamerin mit einigem Unmut rechnen, als sie überraschend gegen Klaas Hübner als stellvertretende Fraktionsvorsitzende für den Bereich „Aufbau Ost, Verkehr und Stadtentwicklung“ antrat. Erschwerend kam hinzu, dass die Wahl im Vorfeld zu einer Entscheidung über die Durchsetzungskraft des Fraktionschefs Peter Struck stilisiert wurde. Entsprechend deutlich war das Ergebnis: Favorit Hübner ging mit 127 Stimmen als klarer Sieger hervor, für Andrea Wicklein votierten 66 Abgeordnete. „Ich hätte mir gewünscht, dass sich die spezifische Lebenserfahrung der Ostdeutschen auch künftig im Fraktionsvorstand widerspiegelt“, sagte Wicklein gegenüber der MAZ zu ihrer gescheiterten Kandidatur. Die Position sei traditionell mit Ostdeutschen besetzt worden. Nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden von Hübners Vorgänger Stephan Hilsberg ist nun kein Ostdeutscher mehr im Kopf der SPD-Fraktion vertreten. Klaas Hübner vertritt zwar einen Wahlkreis in Sachsen-Anhalt im Bundestag, stammt aber aus Niedersachsen. Der Haushaltspolitiker kommt aus der Wirtschaft und ist Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, dem auch sein Vorgänger Stephan Hilsberg angehört.
Hübner, Wunschkandidat von Peter Struck, gilt als geräuschloser Macher hinter den Kulissen. Als Unternehmer – sein Metallbetrieb in Sachsen-Anhalt hat mehr als 200 Mitarbeiter – gehört er zu den marktliberalen in der SPD. In seiner Partei wird Hübner wegen Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit auch außerhalb des Seeheimer Kreises geschätzt. Die neue Funktion im Fraktionsvorstand zwingt ihn, mit seinen Positionen mehr in die Mitte zu rücken. „Jetzt bin ich für die gesamte Fraktion da“, sagte Hübner zur MAZ. Als Schwerpunkt seiner Tätigkeit bezeichnete er die rasche Annäherung der Wirtschaftskraft der neuen Länder an die der alten. „Das ist im Interesse aller, denn dann müssen die alten Bundesländer weniger Transferleistungen bringen“. Bis es soweit sei, dürfte der Osten beim Länderfinanzausgleich keinesfalls schlechter bedacht werden.
Als Grund für seine Wahl vermutet Klaas Hübner weniger die Unterstützung der „Seeheimer“ oder dass er der Wunschkandidat des Fraktionschefs war. „Bei einem so deutlichen Ergebnis muss ich von einer über die Flügel und Landesgruppen der Partei hinausreichenden Unterstützung ausgehen“. Weil der 39-Jährige seit Jahren als Berichterstatter für Aufbau Ost und Verkehr im Haushaltsausschuss tätig war, haben sich offenbar viele Abgeordnete von seiner Kompetenz überzeugen können.
Andrea Wicklein sagte der MAZ, sie werde gut mit Hübner zusammenarbeiten. Eine erste Gelegenheit dazu gibt es bereits am Wochenende: auf einer Klausurtagung zum Aufbau Ost in Berlin.

Erschienen am 22.03.2007

Der Winter fiel auf einen Freitag

Dienstag, 20. März 2007

Der Skifreunde Leid, der Bauern Freud: Bilanz einer ausgefallenen Jahreszeit

POTSDAM Ein bisschen wirkte es, als wollte das Wetter die internationale Politik kommentieren: Passend zum UN-Klimabericht, zum EU-Klimagipfel und zur Oscar-Verleihung – dort wurde Al Gores Umweltdokumentation „Eine unbequeme Wahrheit“ ausgezeichnet – erlebte Deutschland einen Winter, der keiner war: Mehr als vier Grad über dem Durchschnitt lag die Temperatur, hat der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Offenbach ermittelt: 4,3 Grad verzeichnet die Statistik für Dezember bis Februar, dabei hat der deutsche Standard-Winter eigentlich im Schnitt nur 0,2 Grad. Daran ändert auch die aktuelle vorübergehende Abkühlung nichts mehr.
Es ist vor allem dem Januar geschuldet, der alle bisherigen Rekorde schlug und zum wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1901 geriet. Der Dezember war dagegen „nur“ der wärmste seit 32 Jahren, der Februar schaffte es in die heißen Top 10. Legt man die meteorologische Regel zugrunde, dass an einem klassischen Wintertag die Temperaturen nicht über minus drei Grad steigen, so fiel der Winter in diesem Jahr auf einen Freitag – den 26. Januar.
Besonders hart traf es die Wintersportler. Sie mussten auf höhere Lagen ausweichen oder mit Kunstschnee aus der Kanone vorlieb nehmen. Den örtlichen Tourismusverbänden hat das allerdings nur wenig geschadet: Bayern etwa vermeldet kontinuierlich steigende Besucherzahlen. Neue Angebote im Städte- und Kulturtourismus machen Rückgänge bei den Skifahrern mehr als wett. Die großen Skigebiete gleichen ohnehin seit Jahren die Wetterrisiken mit Schneekanonen aus. „Für die nächsten 15 Jahre wird’s reichen“, ließ sich Richard Adam, Geschäftsführer der Bayern Tourismus GmbH, mit Blick auf den Klimawandel zitieren.
Ganz ähnlich im Sauerland: Nach rekordverdächtigen 120 Wintersporttagen im letzten Jahr kam die Region in diesem Winter nur auf magere 50 Tage. „Ohne Kunstschnee wären es wohl nur zwei gewesen“, so Sprecherin Susanne Schulten. Nach einem Blick auf die Statistik sei das aber kein erschreckendes Phänomen: „Natürlich schmerzt es die Liftbetreiber, Gastwirte, Hoteliers und Einzelhändler, aber das Wintersportgewerbe war schon immer sehr wetterempfindlich“, so Schulten, die sich „in der Aufgeregtheit der Klimadebatte etwas mehr Rücksicht“ wünscht, damit „die Skiregionen nicht schlechtgeredet werden“.
Am Trend wird das nichts ändern: Mit steigenden Wintertemperaturen ziehen sich auch die schneesicheren Hänge zurück. „Irgendwann steht der technische Aufwand von Kunstschnee und Pistenpräparation in keinem sinnvollen Verhältnis mehr zu den Einnahmen“, sagt ein Experte des Umweltbundesamtes.
Acht Milliarden
Heizkosten gespart
Wenig begeistert vom Winter sind auch die Wärmeversorger. Um 15 bis 23 Prozent sei die Gasabnahme zurückgegangen, berichtet Eon-Edis-Sprecher Jörg-Uwe Kuberski. Die Erdgas Mark Brandenburg vermerkte deutlich ebenfalls fünfzehn Prozent Rückgang. Bedroht fühlen sich die Konzerne davon nicht: „Letztes Jahr gab es einen besonders strengen Winter mit hohen Abnahmen, in diesem Jahr war es halt das Gegenteil. Das gleicht sich aus“, sagt ein Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Wärme und Heizwirtschaft in Frankfurt/Main. Die Verbraucher hat’s gefreut. Nach Jahren steigender Energiepreise sind niedrige Rechnungen besonders gern gesehen. Die Hypo Vereinsbank rechnete aus, dass den Deutschen Haushalten etwa acht Milliarden mehr im Portmonee bleiben als im letzten Winter, das sind rund 200 Euro pro Haushalt. Der Heizbedarf fiel um 15 Prozent geringer aus.
Ähnlich froh wie Verbraucher sind die Landwirte. Der milde Winter verschafft ihnen etwas Luft beim Einrichten der Felder. Das Wintergetreide habe sogar drei bis vier Wochen Vorsprung, sagt der Deutsche Wetterdienst. „Nur eine längere Frostperiode könnte jetzt noch Schäden anrichten“, so Michael Lohse, Sprecher des Deutschen Bauernverbandes. An ein deutlich vorgezogenes Aussäen sei aber allein wegen der feuchten Böden nicht zu denken, die Traktoren kommen noch nicht auf die Felder. „Außerdem wollen wir das Saatgut nicht in den Boden einschmieren“, so Lohse. Zum Problem könnten Schädlinge werden, die aufgrund milder Temperaturen vielfach überlebt haben. Einige Gerstenfelder in Niedersachsen sind bereits zur Hälfte geschädigt, weil sich dort das „Gerstengelbverzwergungsvirus“, ein bisher kaum bekannter Erreger, ausbreitet. Seine Wirtstiere, die Blattläuse, haben wegen der Wärme explosionsartig zugenommen.
Sie sind nicht die einzigen Lebewesen, die vom milden Winter profitieren: Der Deutsche Jagdschutz-Verband warnt vor erhöhtem Wildwechsel, auf den sich vor allem die Autofahrer einstellen sollen: Durch das sprießende Grün sind die Wildtiere schon einen Monat vor der Zeit auf Futtersuche und überqueren dabei die Straßen. Vor allem in der Dämmerung sollten Autofahrer aufpassen.
Mücken und Zecken
machten durch
Das gilt auch für den Waldspaziergang, denn Zecken und Mücken haben vielfach „durchgemacht“, wie aus dem Friedrich-Löffler-Institut in Jena verlautet. Schon jetzt sollte auf die „Holzböcke“ genannten Spinnentiere geachtet werden, die schwere Krankheiten wie Hirnhautentzündung und Borreliose übertragen. Im Verlauf des Sommers ist gar mit einer regelrechten Insekten-Plage zu rechnen. Noch ist das aber nicht sicher: Ein plötzlicher, harter Frost kann vielen vorzeitig aktiven Krabblern den plötzlichen Garaus machen. Mücken sind allerdings frosthart bis etwa minus 20 Grad. Für die Blautsauger, die ihre Larven im Wasser ablegen, ist ein trockenes Frühjahr wesentlich bedrohlicher als ein eiskalter Winter.
Egal, wie mild der Winter war: Auf Frühlingsgefühle muss niemand verzichten. „Die hormonellen Änderungen, die der Volksmund Frühlingsgefühle nennt, kommen vor allem wegen des längeren Tageslichts zustande“, sagt Peter Walschburger, Professor für biologische Psychologie an der Freien Universität Berlin. Ein strenger und langer Winter steigere zwar das Kontrasterleben bei Frühlingsausbruch, doch selbst wenn der Winter durch den Klimawandel ausstürbe: die Frühlingsgefühle bleiben. „Es wäre evolutionär keine gute Strategie, sich an Länge und Strenge des Winters anzupassen, die Schwankungen des Lichts sind zuverlässiger“, so der Forscher. Und schließlich, nicht zuletzt, war es auch eine großartige Zeit für Medienschaffende. Hier gilt: „Wetterthemen gehen immer“, und so füllte der Winter, der keiner war, unendlich viele Sendeminuten und Druckzeilen. Eine Jahreszeit, die durch ihre Abwesenheit die aktuelle Weltpolitik kommentiert, ließ sich niemand entgehen.

Erschienen am 20.03.2007

„Männliche Rituale ablösen“

Dienstag, 13. März 2007

Daniel Cohn-Bendit über den Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich

Als deutsch-französischer Politiker und Europa-Parlamentiarier verfolgt Daniel Cohn-Bendit (Grüne) den Wahlkampf in Frankreich mit besonderem Interesse. Im MAZ-Interview spricht er über die Unberechenbarkeit französischer Wahlabsichten, die Misere von Frankreichs Grünen und erklärt, warum er sich die Sozialistin Royal zur Präsidentin wünscht. Die Fragen stellte Jan Bosschaart.

Frankreich nimmt großen Anteil an diesem Wahlkampf, nach einer Umfrage wollen so viele Bürger wählen gehen wie noch nie. Woher rührt die überdurchschnittliche Mobilisierung?
Cohn-Bendit: Die Wahl 2002 war keine richtige Wahl. Weil der rechtsextreme Politiker Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl kam, war, mussten viele für Jacques Chirac stimmen, ob sie ihn mochten oder nicht. Das hat frustriert. Nachdem Chirac nun auf eine erneute Kandidatur verzichtet hat, kommt es in jedem Fall zu einer Erneuerung. Zudem gibt es eine große Auswahl: Bei vier Kandidaten ist für fast jeden etwas dabei, es fühlen sich mehr Franzosen angesprochen. Auch weil es scheint, als sei der erste Wahlgang noch nicht entschieden.

Knapp die Hälfte der Wähler ist noch unentschlossen. Sind alle Kandidaten so reizvoll oder können sich die Franzosen nicht zwischen verschiedenen Übeln entscheiden?

Cohn-Bendit: Weder noch: es liegt an der Überschneidung der Programme. Wer die Rechten verhindern will, weiß nicht, ob er die Sozialistin Royal oder den Zentrumspolitiker Bayrou wählen soll. Wer sich eine Mitte-Rechts-Regierung wünscht, ist unsicher, ob ihn Sarkozy oder Bayrou besser vertreten. Die Kandidaten können daher kurzfristig noch sehr viele Wähler für sich einnehmen.

Ist es an der Zeit, dass Frankreich seine erste Präsidentin bekommt?
Cohn-Bendit: Ich fände es in der Tat richtig. Zwei Dinge sind in Frankreich längst überfällig: eine Präsidentin und die Einführung des Verhältniswahlrechts. Das derzeit geltende Mehrheitswahlrecht ist undemokratisch: Wer auf einer Welle reitet, bekommt überproportional viele Abgeordnete in die Nationalversammlung und dann hat dort eine sichere Mehrheit. Das ist nicht gut für Frankreich. Das Land muss lernen, auch von Koalitionen regiert zu werden.

Im EU-Parlament haben Sie kürzlich von Angela Merkel und Ségolène Royal „Hand in Hand und Wange an Wange“ geträumt. Was versprechen Sie sich von einer Präsidentin?

Cohn-Bendit: Diese doch sehr männlichen Symbole der deutsch-französischen Freundschaften, ob es nun de Gaulle und Adenauer, Kohl und Mitterand, d’Estaing und Schmidt oder Chirac und Schröder waren, sollten mal abgelöst werden. Zwei Frauen symbolisieren die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 15 Jahre besser. Zudem verspreche ich mir davon eine zivilere Form der deutsch-französischen Freundschaft.

Was würde ein Sieg eines der „Großkandidaten“ für die deutsch-französischen Beziehungen bedeuten?
Cohn-Bendit: Ein Sieg von Ségolène Royal würde eine integriertere Kooperation beider Länder einleiten. Nicolas Sarkozy steht eher für das traditionell Französisch-Gallische, für ein „Frankreich zuerst“. Das würde die Kooperation erschweren.

Ségolène Royale erfreut sich großer medialer Beliebtheit, ist aber nicht unumstritten. Manche Kommentatoren werfen ihr vor, nur durch ihre Beliebtheit und Attraktivität zu punkten.
Cohn-Bendit: Es ist eine sehr männlich-dominierte Sicht, die sich da in Frankreich zeigt. Als sich Ségolène Royal in einem Interview einen Fehler leistete, griffen alle Medien das Thema auf. Sofort wurde gefragt, ob sie zu diesem Amt fähig ist. Zwei Wochen später machte Sarkozy einen ähnlichen Fehler, aber niemand bezweifelte seine Eignung. Hier zeigt sich ein uraltes Muster: eine Frau muss immer noch doppelt so gut sein, wenn sie mit einem Mann konkurriert, ihr wird bei gleicher Fähigkeit weniger zugetraut.
Hoffen Sie, dass ein Sieg Royals etwas an diesem Muster ändert?
Cohn-Bendit: Ein Sieg Royals würde symbolisch zeigen, wie eine Frau sich durchsetzen kann, das würde anderen Frauen Mut machen. Das wäre ein sehr positives Signal.
Was sind die drängendsten Probleme in Frankreich, die der Nachfolger von Jacques Chirac angehen müsste?
Cohn-Bendit: Die soziale Schieflage, in der Frankreich sich befindet, ist das wichtigste Thema. Zweitens ist es dringend nötig, die Umweltpolitik nach vorn zu bringen, weg von der Atomkraft, hin zu erneuerbaren Energien. Und dann muss man mit den Franzosen dringend diskutieren, wie eine vernünftige Position zur europäischen Einigung und zum Verfassungsvertrag aussieht.
Welcher Kandidat wäre für Europa am besten?
Cohn-Bendit: Ségolène Royal und François Bayrou würden die europäische Einigung am schnellsten voranbringen.
Wiederholt Bayrou das Kunststück von Jean-Marie Le Pen und wird Überraschungssieger im ersten Wahlgang?
Cohn-Bendit: Bei der derzeitigen Entwicklung ist das nicht ausgeschlossen. Aber es ist in Frankreich sehr schwer, sechs Wochen vor der Wahl eine Prognose zu machen. Die meisten entscheiden sich erst in der letzten Woche. Wie sie schon sagten: Wir haben etwa 50 Prozent Unentschlossene.
Kann Le Pen noch einmal einen Überraschungserfolg feiern, oder sind die französischen Wähler vorgewarnt?
Cohn-Bendit: Le Pen ist noch lange nicht abgeschrieben. Es kann sein, dass viele sagen, sie wählen Sarkozy, und im letzten Moment entscheiden sie sich für Le Pen. Die Situation ist unsicher, spannend und unübersichtlich. Alle vier können in die zweite Runde kommen, ich wage da momentan keine Prognose.
Wagen Sie doch mal eine andere Prognose: Ziehen die französischen Grünen wieder in die Nationalversammlung ein?
Cohn-Bendit: Die haben momentan große Schwierigkeiten. Es gab zunächst eine große Chance, mit Umweltthemen ein gutes Ergebnis zu erzielen. Doch die Grünen haben sich sehr linkslastig entwickelt und ihre Qualitäten nicht gezeigt. Ihr internes Funktionieren ist eher abstoßend. Das macht nicht gerade Lust, für sie zu stimmen.

Erschienen am 13.03.2007

„Maßlos enttäuscht“

Donnerstag, 1. März 2007

Opfer-Verbände demonstrierten gegen die geplante SED-Opfer-Rente

BERLIN Die Höhe ist Peter Lehmann egal. „Ein Hunderter im Monat würde mir vollkommen reichen, selbst ein Fünziger“, sagt er. Viel wichtiger ist dem 63-Jährigen der Stolz: „Ich könnte endlich sagen: Ich kriege Opferrente, das ganze Leid war nicht umsonst. Das ist wie ein Orden auf der Brust.“
Einen Tag, bevor im Bundestag der Entwurf für das „3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz“ erstmals gelesen wird, haben die Opferverbände zur Demonstration aufgerufen, weil sie vom Entwurf „maßlos enttäuscht“ sind, wie Harald Möller, Vorsitzender des Bautzen-Komitees, es formuliert. Rund 200 Demonstranten sind gekommen. Mit Plakaten, Trillerpfeifen und einer Sirene ziehen sie gegen die geplante Opferrente zu Felde: Weil die mit 250 Euro zu niedrig bemessen sei und nur an Bedürftige ausbezahlt werden soll.
Der Oranienburger Peter Lehmann ist einer von ihnen. Insgesamt vier Jahre hat er in DDR-Gefängnissen eingesessen. Zunächst wegen versuchter Republikflucht für 15 Monate. „Dabei hatten wir den Plan längst aufgegeben, als ich gefasst wurde“, sagt er. Als Lehmann nach sieben Monaten auf Bewährung herauskommt, ist er nicht mehr der alte. Immer wieder sei er mit der Staatsmacht in Konflikt geraten, beim Anblick einer Uniform ausgerastet, habe sich geprügelt. Dafür ging der Oranienburger erneut ins Gefängnis. Besonders schlimm wurde es, als Lehmann sich zustimmend zum Prager Frühling äußerte. „Da steckten sie mich in ein noch tieferes Verlies“, sagt er.
Unter lautem Getriller ziehen die Demonstranten die Berliner Wilhelmstraße herunter zum Willy-Brandt-Haus. Warum gerade zur SPD, wo der Gesetzesentwurf doch von der Regierungskoalition eingebracht wurde? „Weil die SPD auf der Bedürftigkeitsklausel beharrt. Auf diese Weise macht sie aus SED-Opfern Opfer zweiter Klasse“, sagt Alexander Latotzky, Vorsitzender des Verbandes der Opfer des SED-Regimes (VOS). Opfer des Nazi-Regimes erhielten 717 Euro pro Monat, und zwar ohne Rücksicht auf ihre soziale Lage: „Wir fordern nichts weniger als Gleichbehandlung.“ Dass die Opferverbände heute zum Willy-Brandt-Haus marschieren, heiße nicht, dass man die CDU für besser halte, fügt er hinzu: „Der Gesetzesentwurf wird dreimal gelesen. Beim nächsten Mal gehen wir zur CDU.“
An der Kreuzung vor der SPD-Zentrale greift Latotzky zum Megaphon. Die Polizei habe den Demonstranten angeboten, die Kreuzung vor dem Willy-Brandt-Haus zu blockieren, sagt er, „weil wir mehr geworden sind, als wir gehofft haben“. Zögerlich stellen sich die ersten auf die Fahrbahn. „Los, los, nur keine Scheu“, ruft Latotzky und wedelt mit den Armen. „Wir mögen zwar SED-Opfer und Widerständler sein, aber wir sind eben auch gelernte Ossis“, kommentiert ein Plakatträger.
Peter Lehmann wird sie wohl nicht bekommen, die Opferrente. Zwar gehört er mit 690 Euro Rente im Monat durchaus zu den Bedürftigen, doch da seine Frau in Vollzeit arbeitet, liegen sie über der Einkommensuntergrenze von 1300 Euro. Groll hegt er nicht, ihm gehe es mehr um die Geste als das Geld, betont Lehmann nochmal.
So zurückhaltend sind nicht alle Demonstranten. „Du warst wohl auch bei der Stasi, so ein kleiner Mitläufer“, muss sich der frühere Bürgerrechtler Hans Misselwitz anhören, der mit SPD-Bundesgeschäftsführer Martin Gorholt vor das Willy-Brandt-Haus tritt, um mit den Demonstranten zu diskutieren. Der Rufer ist hochrot im Gesicht, er hat sich während des Umzugs in Rage gebrüllt. Da nützt es Misselwitz, der in der Parteizentrale für Ostdeutschland zuständig ist, wenig, dass er auf seine Oppositionsvergangenheit verweist. „Warst Du je im Knast? Hast nichts zu fressen bekommen? Musstest auf Befehl scheißen?“, schreit der Fragesteller zurück. Dann kommen ihm die Tränen. Misselwitz verneint und steht etwas hilflos inmitten der Plakatträger. Er finde einiges am Gesetzentwurf ja durchaus kleinlich, murmelt er mit gesenktem Kopf. Dann schaut er verschreckt wieder auf, als er bemerkt, dass die Presseleute fleißig mitschreiben und beeilt sich hinzuzufügen: „Bisher ist es ja nur ein Entwurf.“
Indes steht Martin Gorholt, der früher Landesgeschäftsführer der SPD in Brandenburg war, wie ein Fels in der Menge und verteidigt das Gesetz gegen die ihn bestürmenden Demonstranten. Es sei eine „sinnvolle und gute Lösung“, sagt er und dass man über die Höhe der Renten ja noch diskutieren könne, nicht aber über die soziale Bedürftigkeit als Voraussetzung für den Bezug.
Das macht Alexander Latotzky wütend. Neben einer Staffelung der Renten nach Haftdauer fordert er die Ausdehnung des Berechtigtenkreises auf alle SED-Opfer, auch solche, die in die Psychiatrie eingesperrt oder Opfer von Zersetzungsmaßnahmen wurden. Einige Demonstranten gehen noch weiter und möchten auch eine Kompensation für Zwangsausgesiedelte und DDR-Bürger, die wegen ihrer Kirchenmitgliedschaft nicht studieren durften.
Peter Lehmann hält sich in diesen Debatten etwas abseits. „Was hätte wohl Willy Brandt dazu gesagt?“, fragt er.


„Aufrechnung der Opfer ist unwürdig“

Der Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz (CDU) setzt sich seit Jahren für die SED-Opfer-Rente ein. Mit ihm sprach Jan Bosschaart.

Haben Sie für den Protest der Opferverbände Verständnis?
Vaatz: Ja, aber eine weitergehende Regelung ist aus Gleichheitserwägungen unmöglich.

Die Verbände beklagen aber gerade eine Ungleichbehandlung von Opfern.
Vaatz: Die Opfer der Nazizeit sind nur in Ostdeutschland besser gestellt, weil hier die so genannten VN-Renten gezahlt werden, ein Besitzstand aus den DDR-Zeiten, der übernommen wurde. Im Westen bekommt jeder, der länger als sechs Monate in ein KZ eingesperrt war, ebenfalls etwa 250 Euro, wenn er weniger als etwa 10 000 Euro im Jahr verdient. Daran orientiert sich der Gesetzentwurf. Wer mehr fordert, will mehr, als NS-Opfer bekommen.

Weitergehende Forderungen lehnen Sie ab?
Vaatz: Den jetzigen Kompromiss sollten die Opfer akzeptieren. Ich verstehe aber, dass die Bedürftigkeitsprüfung einer Reihe von Opfern die moralische Anerkennung versagt. Die wirklich bedürftigen Opfer werden die 250 Euro aber spüren. Besserverdienende sollten den Kompromiss nicht durch allzu harsche Forderungen gefährden.

Viele Täter – Richter, Polizisten, Wärter – bekommen heute solide Renten. Die Opfer müssen sich mit 250 Euro begnügen?
Vaatz: Das beklage ich mit Entschiedenheit! Aber wer das bemängelt, möge sich ans Bundesverfassungsgericht wenden.

Sie haben sich seit Jahren für das Gesetz stark gemacht. Nun hagelt es Protest, auch persönliche Angriffe. Sind sie enttäuscht?
Vaatz: Nein. Politik bedeutet oft, dass man von denjenigen, für die man sich am meisten einsetzt, am schlechtesten behandelt wird. Meine Bezüge sind in solchen Situation für mich auch eine Art Schmerzensgeld.

Erschienen am 01.03.2007

Dringend gesucht: 30 Hektar für ein Anti-G8-Camp

Mittwoch, 28. Februar 2007

Protestgruppen klagen über mangelnde Kooperation rund um Heiligendamm: Im Ernstfall sehen sie das Land in der Pflicht

SCHWERIN Etwa 20 000 Mitstreiter erwarten die vornehmlich linken Gruppen und Aktionsbündnisse, die beim G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni gegen die Globalisierung protestieren wollen. Eine Fläche, um für sie ein Camp einzurichten, wird hingegen noch händeringend gesucht. Die teilnehmenden Organisationen – vor allem Attac und die Jugendgruppen der Grünen, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (Bund) – haben für diese Aufgabe eine Camp AG ins Leben gerufen.
„Um alle unterzubekommen, bräuchten wir etwa 30 Hektar freie Fläche“, sagt Adolf Riekenberg von der Camp AG. Viele Bürgermeister rund um Heiligendamm begegnen dem Ansinnen mit Skepsis und würden sich auf eine Hinhalte-Taktik verlegen, so Riekenberg. „Die wissen offenbar nicht, was auf sie zukommt und was so ein Protest eigentlich ist“, vermutet er. Momentan führt die Camp AG nach eigenen Angaben Gespräche mit Bürgermeistern im Amtsbereich Bad Doberan. Einzelne Gesprächspartner hätten bereits zugesagt, sich im Gemeinderat für das Anliegen der Camp AG stark zu machen. Dennoch vermisst Riekenberg den „Willen, sich wirklich intensiv der Lösung des Platzproblems zu widmen“. Sollte es nicht gelingen, die geeigneten Flächen zu bekommen, sieht die Camp AG das Land in der Pflicht, für die Unterbringung der Protestler zu sorgen.
Ein Ansinnen, dass das Innenministerium in Schwerin energisch zurückweist. „Wir sind nicht verpflichtet, irgend etwas zur Verfügung zu stellen“, so Sprecherin Marion Schlender gegenüber der MAZ. Das gelte ebenso für die Kommunen vor Ort. Das Innenministerium würde es aber begrüßen, wenn Camp AG und Gemeinden zu einer einvernehmlichen Lösung kämen. „Es ist sicher im Interesse aller, wenn es zu einer Einigung kommt. Die Gemeinden haben dann Kontrolle darüber, wo gecampt wird, und die Polizei kann leichter für Ordnung sorgen“, so die Sprecherin. „Die Leute kommen nämlich ohnehin, auch wenn es kein offizielles Camp gibt.“ In einer Pressemitteilung hatte die Camp AG bereits gedroht, sie werde individuelle Lösungen finden, falls die Gemeinden rund um Heiligendamm nicht genügend Platz zur Verfügung stellten. Das soll im Klartext wohl heißen: Dann campen wir, wo es uns passt, und ihr habt den Schaden. Konkret wollte Adolf Riekenberg diese Drohung aber nicht bestätigen.
Auch die Pressestelle der extra für den G8-Gipfel eingerichteten Sonderpolizeieinheit „Kavala“ verweigerte mit Hinweis auf die laufenden Verhandlungen die Auskunft. Derweil ärgert sich die Camp AG über die jüngst bekannt gewordenen Pläne, um den umstrittenen Zaun um Heiligendamm noch eine zehn Kilometer breite Sicherheitszone zu ziehen, in der nicht protestiert oder gecampt werden darf. „Wir werden diese Zone nicht akzeptieren“, erklären die Gipfelgegner, freuen sich aber über die hohe Zahl der eingesetzten Polizisten: „Das zeigt, dass die internationale Protestbewegung ernst genommen wird.“

Erschienen am 28.02.2007

Klarheit und Reinheit

Mittwoch, 21. Februar 2007

2005 konvertierten mehr als 4000 Deutsche zum Islam – darunter auch einige Märker

POTSDAM Für Christian Hoffmann war es wie ein Blitz. Auf seinem Balkon sitzend, durchflutete ihn plötzlich die Erkenntnis: „Himmel und Erde sind Allahs Schöpfung, und der Islam ist die letzte von ihm offenbarte Religion.“ Glaubt man seinen Worten, so war er damals glücklich und nach nichts auf der Suche. Später hat der ehemalige CDU-Pressesprecher ein Buch über seinen Wechsel zum Islam und all die Folgen geschrieben, das 1995 für einigen Wirbel sorgte: „Zwischen allen Stühlen“ heißt es.
Nicht immer gibt es diesen einen Moment, wo sich eine neue Religion mit Blitz und Donner oder einem inneren Erdbeben zeigt. Bei Abdalhafidh Ullmann war es ein langsamer, konflikthafter Prozess. Am Anfang stand Unzufriedenheit. „Etwas war aus der Balance geraten“, sagt der 25-Jährige und rückt seinen leuchtendroten Fez zurecht. Was genau, das weiß er nicht. Oder er mag es nicht sagen. Es ist schwer, hinter Abdalhafidhs Stirn zu blicken. Nach jeder Frage nippt er am Espresso, schaut eine Weile zum Fenster und setzt ein wissendes Lächeln auf, bevor er antwortet. „Ich weiß nicht, was gefehlt hat, aber der Islam hat es mir gegeben. Ich bin jetzt ein glücklicher Mensch.“
Nach der Schule ging Abdalhafidh für vier Jahre zur Bundeswehr. Damals hieß er noch Alexander. Die klare Struktur, die Ordnung dort haben ihm gefallen. Und der Respekt, den Jüngere vor Älteren haben. „Draußen“, sagt er, und meint die Welt außerhalb der Kaserne, „draußen habe ich das vermisst“. „Draußen“, das war auch das Volkswirtschaftsstudium, auf das sich Abdalhafidh, der bereits eine Lehre zum Bankkaufmann in der Tasche hatte, schließlich einließ. Nicht für lange. Das Gebot des Geldvermehrens, „diesen Zynismus“, das habe er nicht ertragen. Die nächste Station, eine Ausbildung zum Heilpraktiker, füllte ihn mehr aus. Die Unzufriedenheit mit seinem Leben aber blieb. Alexander war ein Suchender, Abdalhafidh ist ein Angekommener. Sagt Abdalhafidh.
Klarheit, Reinheit, Respekt: Viele Deutsche, die zum Islam konvertieren, fühlen sich davon angezogen. In den letzten Jahren wurden es stetig mehr, rund 4000 ermittelte das Islam-Archiv in Soest für 2005, und die Tendenz scheint weiter steigend. „Die Konvertitenszene hat sich total verändert“, sagt Salim Abdullah, der Leiter des Islam-Archivs. Waren es früher Ehepartner, vorrangig Frauen, die bei der Heirat mit einem Muslim dessen Religion annahmen, so sind es heute vor allem junge Akademiker, die sich intensiv mit dem Koran beschäftigen und dann aus freien Stücken den Weg zu Allah suchen. „Die wenigsten sind älter als 35“, sagt Abdullah.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. „Das ist eine ganz individuelle Entscheidung“, meint der Leiter des Islam-Archivs. Auffällig ist, dass die Zahl der deutschen Konvertiten seit etwa 2001 rapide ansteigt – von etwa 300 im Jahr vor 2001 auf mehr als 4000 heute. Es scheint, als habe der 11. September eine Lawine ausgelöst.
Eine Erklärung lautet: Durch die politische Entwicklung ist der Islam ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, und viele Menschen begannen, sich damit näher zu befassen. Einige fanden darin eine neue Heimat. Ahmad Gross, der Amir der Potsdamer Muslime, sagt, für manchen sei der Wechsel zum Islam auch eine politische Aussage: gegen Globalisierung, gegen die Macht des Zinses, den der Koran ausdrücklich verdammt, und gegen die amerikanische Außenpolitik. Das ist die andere Erklärung.
Auf Abdalhafidh treffen beide nicht zu. Der Islam ist für ihn ein Weg, sein Leben neu zu ordnen. Und nicht nur für ihn. „Meine Frau war depressiv. Jetzt ist sie zum zweiten Mal schwanger. Einen besseren Beweis für meinen Glauben gibt es nicht.“ Auch er schätzt am Islam die Klarheit. Mit der Dreifaltigkeit des christlichen Gottes kann er wenig anfangen. Für Moslems sind Christen Polytheisten. Außerdem stehe bei ihnen die Kirche zwischen dem Einzelnen und Gott.
„Im Islam schließt der Gläubige hingegen einen Privatvertrag mit Allah. Keine Priesterkaste entscheidet über Aufnahme oder Ablehnung“, sagt der Leiter des Islam-Archivs. Lediglich zwei muslimische Zeugen sind nötig, um die Schahada, das Bekenntnis, abzulegen. Auch einen formellen Austritt gibt es nicht. „Das muss der Gläubige mit Allah ausmachen“, so Abdullah.
Die Klarheit seines neuen Glaubens – ein Gott, ein Prophet, eine seit ihren Ursprüngen unveränderte heilige Schrift – korrespondiert für Abdalhafidh mit der Klarheit, die sein Leben seitdem gewann. Mit seiner Herkunftsfamilie habe er sich ausgesöhnt, nachdem er den Koran studiert hatte. Auf einige Freunde müsse er verzichten. „Die dachten, ich renne künftig mit dem Sprengstoffgürtel durch die Welt“, erzählt er und versucht ein Lächeln. Die Aufnahme in die muslimische Gemeinde ersetze sie ihm hundertfach.
Es ist ein enger Kreis, etwa 20 Familien, der sich in den hellen, spartanisch eingerichteten Räumen in der Potsdamer Weinbergstraße trifft. Der Sonntag gehört ganz den Familien. Man liest gemeinsam im Koran, hört Vorträge, betet und singt. Die Frauen bereiten im Obergeschoss Essen zu, die Männer sitzen in Grüppchen auf dem Boden und reden. Draußen tobt ein munterer Haufen Kinder. Aufgaben und Hierarchien sind klar verteilt, und Abdalhafidh findet hier den Respekt, den er „draußen“ so schmerzlich vermisst: Die Kinder sind höflich, und sie übernehmen selbstverständlich Pflichten: decken den Tisch, räumen auf, machen sauber. Reinheit ist auch eine Besonderheit des Islam. Viele Moslems fühlen sich schon von der christlichen Lehre der Erbsünde „irgendwie beschmutzt“, wie Abdalhafidh es nennt. Vor jedem Gebet ist eine Waschung Pflicht, um in den Zustand ritueller Reinheit zu gelangen. Wer Moslem wird, bekommt alle zuvor begangenen Sünden vergeben. Alkohol und Schweinefleisch lehnen Muslime als verunreinigend ab.
Abdalhafidh hat einige Religionen „angetestet“, wie er sagt, bevor er zum Islam fand. Das haben sie hier fast alle. Die meisten der Potsdamer Muslime sind in der DDR großgeworden und waren sehr skeptisch. „Wie in einem Warenhaus haben sie alles genau geprüft und abgewogen“, sagt Amir Gross. Für viele Ostdeutsche ist es die erste Religion, was die Skepsis nicht eben minderte. Die Geschichte von Christian Hoffmann und dem Blitz kann Abdalhafidh daher nicht nachvollziehen. „Der Glaube wächst in einem – dafür bleibt er dann auch.“

Erschienen am 21.02.2007

Ein Prinz als Schirmherr

Donnerstag, 1. Februar 2007

Sebastian Krumbiegel über die Probleme als „Betroffenheits-Gutmensch“

Sebastian Krumbiegel, Sänger der „Prinzen“, wird Schirmherr der ökumenischen Friedensdekade 2007, die unter dem Motto „andere achten“ steht. Krumbiegel tourt derzeit mit dem von ihm herausgegebenen Buch „Hoffnung säen“ durch Deutschland. Gemeinsam mit Kristof Hahn liest er auf dieser „musikalischen Lesereise“ aus Lebensgeschichten von Flüchtlingen. Die Fragen stellte Jan Bosschaart.

Ein Pop-Sänger als Schirmherr der Friedensdekade – wie kam es denn dazu? Krumbiegel: Das liegt daran, dass ich zurzeit mit meinem Buch „Hoffnung säen“, den Geschichten von neun Flüchtlingen, durch Deutschland toure. Es klingt hochtrabend, aber ich glaube, die Kirche ist auf mich aufmerksam geworden, weil ich mich mit dem Buch für ein menschlicheres Miteinander ausspreche.
Was müssen Sie als Schirmherr tun, außer ihren Namen hergeben?
Krumbiegel: Ich werbe für die Idee, ich mache die Leute darauf aufmerksam, dass die Friedensdekade stattfindet. Mit Auftritten ist das nicht verbunden.
Was hat Sie bewogen, ja zu sagen?
Krumbiegel: Dass es um menschliches Miteinander geht, darum, dass wir aufeinander zugehen sollten. Wir verlassen uns zu sehr auf den Staat oder denken: „Irgendjemand sollte irgendetwas für mich tun.“ Stattdessen sollte jeder die Dinge selbst in die Hand nehmen und sich darum kümmern, dass die Welt um ihn herum besser wird. Das ist ja auch ein Anliegen der Lesetour. Es macht Spaß, weil wir merken, dass wir die Leute erreichen. Sie hören zu und sie werden berührt von dem, was wir vorlesen.
Sie touren nur durch ostdeutsche Städte?
Krumbiegel: Wir wollten dahin, wo es die Leute angeht. In ein multikulturelles Zentrum nach Berlin-Kreuzberg zu gehen, hieße Eulen nach Athen tragen. Wichtiger sind Gegenden, wo Rechtsradikalismus ein Thema ist, wo Übergriffe stattfinden. Das ist statistisch im Osten häufiger. Dennoch werden wir das ändern: Ab April sind wir auch in Westdeutschland – sogar in Bayern – unterwegs, denn es geht auch darum, die Toleranz in die Welt hinauszutragen – allerdings, ohne den Heilsbringer zu spielen. Es ist problematisch, sich vor die Leute zu stellen und zu sagen: „Ich weiß was!“ Wir versuchen, die Texte und die Musik für sich wirken zu lassen.
Haben die ostdeutschen Bundesländer größeren Nachholbedarf in Sachen Ausländertoleranz?
Krumbiegel: Ich glaube ja. Wir sind 40 Jahre lang anders sozialisiert und anders groß geworden. Mit Ausländern waren wir kaum konfrontiert. Die wenigen Ausländer hier blieben unter sich, es gab nicht, wie in Westdeutschland, die typischen Gastarbeiter, die ihre ganze Kultur mitbrachten. Das ist es sicher nicht allein, aber Fakt bleibt: Die Übergriffe im Osten sind häufiger, es gibt hier mehr Nazis, sie werden sogar in die Landtage gewählt – das muss schon mit unserer DDR-Vergangenheit zu tun haben.
Was erhoffen sie sich von der Lesereise?
Krumbiegel: Ich hoffe, dass ich die Leute anknipse, sie für ein Thema sensibilisiere, das kein populäres ist. Die Leute rufen ja nicht „Juhu, jetzt kommt einer und erzählt uns was über Ausländer in Deutschland.“ Ich hoffe, dass ich vor allem die erreiche, die noch gar keine gefestigte Meinung haben. Selbst bei Nazis ist nicht Hopfen und Malz verloren, es gibt viele, die man einfach nur zur Besinnung bringen sollte.
Kommen nicht ohnehin nur die, die schon ihrer Meinung sind?
Krumbiegel: Das ist ein Problem, mit dem wir umgehen müssen. Ein Beispiel: Bei einer Lesung in einer Dresdner Berufsschule fragte ich, ob alle freiwillig da seien. Da haben einige gemault und gesagt „Gezwungen!“, und ich sagte: „Okay, wer gehen will, kann gehen“. Von über hundert sind wohl fünf aufgestanden und gegangen, die fühlten sich dann stark. Hinterher habe ich gedacht: „Eigentlich blöd!“ Vielleicht hätte ich die noch kriegen können. Andererseits will ich niemanden zwingen. Aber ich würde es beim nächsten Mal anders machen.
Wie haben Sie die Flüchtlinge, deren Geschichten Sie lesen, kennengelernt?
Krumbiegel: Die „Bunten Gärten“ sind ein Leipziger Integrations-Projekt. Bei gemeinsamer Gartenarbeit können Migranten hier der Isolation entrinnen. Mit der Einrichtung hatte ich schon mehrfach Kontakt. Irgendwann fragte man mich, ob ich ein Buch herausgeben würde, das die Schicksale der Migranten beschreibt. Zwei Journalistinnen haben die Interviews geführt, und gemeinsam haben wir neun Geschichten ausgewählt. Mit der Tour will ich den Menschen dahinter ein Forum verschaffen.
Ein Kritiker schrieb, man spüre, dass das Buch betroffen machen soll.
Krumbiegel: Ich sehe darin nichts Schlechtes. Natürlich ist es immer ein Balanceakt und schwer, als Betroffenheits-Gutmensch durch die Gegend zu eiern. Oft ist es aber der einzige Weg, die Menschen zu erreichen. Man kann sich zu Recht auch über Betroffenheitsgalas im Fernsehen aufregen – aber am Ende bleiben dennoch Millionen für Bedürftige hängen.
Haben Sie nach einem Lese-Abend wieder Lust auf Prinzenkonzerte?
Krumbiegel: Die Prinzen sind meine Lieblingsband, darauf habe ich immer Lust. Wir kaspern ja als Prinzen auch nicht nur herum, da kommen auch ernste Töne. In beiden Fälle schlüpfe ich nicht in eine Rolle. Weder sage ich mir vor der Lesung „Jetzt gehe ich als Literat raus!“, noch setze ich mir als Prinz die Narrenkappe auf. Ich bin jetzt 40 Jahre alt und weiß schon, dass das zwei verschiedene Dinge sind. Aber es sind Seiten, die beide zu mir gehören.
Sie sind im Juni 2003 in Leipzig von zwei Jugendlichen zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Hat diese Erfahrung ihr Engagement verstärkt?
Krumbiegel: Ich denke nicht. Wir waren auch vorher aktiv, richten zum Beispiel seit zehn Jahren das „Courage zeigen“- Festival in Leipzig aus. Die wichtigste Lektion ist, dass mir jemand geholfen hat, dass einer mutig war. Er spielte nicht den Helden, er hat einfach nur Lärm gemacht und die Täter in die Flucht geschlagen. Es geht bei Zivilcourage nicht darum, mit einer Kung-Fu-Nummer dazwischenzuspringen. Es geht darum, dass man sich einmischt und Alarm schlägt.

Erschienen am 01.02.2007

„Menschenrecht ist schwieriges Terrain“

Montag, 29. Januar 2007

Der Grünen-Politiker Volker Beck über seine Gespräche im Iran

Die Grünen-Politiker Fritz Kuhn und Volker Beck waren vergangene Woche im Iran. Dort besuchten sie den Deutschen Donald Klein im berüchtigten Ewin-Gefängnis. Klein war auf einer Angelreise in iranische Gewässer geraten und daraufhin zu 18 Monaten Haft verurteilt worden. Mit Volker Beck sprach Jan Bosschaart.

In welchem Zustand haben Sie Donald Klein angetroffen?
Beck: Er wirkte gefasst und verhalten optimistisch. Er hatte im Sommer fast nichts gegessen und drastisch abgenommen, das sieht man noch. Mittlerweile hat er etwas zugelegt und sich seelisch gefangen. Er sagt, er werde vom Wachpersonal und den Mitgefangenen ordentlich behandelt. Die restlichen Monate will er durchstehen – er sehnt sich sehr nach der Freiheit.

Was konnten Sie für ihn tun?
Beck: Wir haben das Problem angesprochen und auf eine Lösung gedrängt. Und wir haben deutlich gemacht, dass ein solcher Einzelfall für Deutschland enorm wichtig ist.

Welche weiteren Ziele hatte die Reise?
Beck: Wir wollten uns über den Diskussionsstand zum Atomprogramm und zur Situation nach dem UN-Sicherheitsratsbeschluss informieren. Wichtig war, zu verdeutlichen, dass man den Beschluss des Sicherheitsrates ernst nehmen muss. Und wir haben die Menschenrechte angesprochen – die Todesstrafe, die Rolle der Frau, der Homosexuellen und die Verfolgung religiöser Minderheiten.

Mit welchem Erfolg?
Beck: Uns war klar, dass wir nicht mit konkreten Erfolgen heimkehren. Wir konnten unseren Standpunkt verdeutlichen und sehen, wie die Iraner denken. Wichtig ist, dass wieder Bewegung in den Menschenrechts-Dialog kommt. Direkte Gespräche sind die einzige Perspektive.

Wie wurden ihre Standpunkte aufgenommen?
Beck: Menschenrechtsfragen sind im Iran ein schwieriges Terrain. In Sachen Atomkraft sind die Iraner erschrocken über die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft – den Beschluss des Sicherheitsrats haben sie wohl nicht erwartet.

Gab es Misstrauen?
Beck: Es gibt Misstrauen gegenüber Europa insgesamt, ob es bereit ist, eine eigene Position durchzuhalten oder ob es nur Angebote macht und am Ende doch Amerika folgt. Wir müssen den Iranern deutlich machen, dass Europa bereit ist, eine eigenständige Rolle zu übernehmen.

Erschienen am 29.01.2007

„Ein Anfang, mehr nicht“

Donnerstag, 25. Januar 2007

Ex-Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) ist angesichts des Sinneswandels in Washington verhalten optimistisch. Mit ihm sprach Jan Bosschaart.

Ist der US-Präsident jetzt ein Grüner?
Trittin: Bush hat bereits 2006 die Abhängigkeit der USA vom nahöstlichen Öl erkannt. Nun nennt er ein Ziel: Verbrauch und Nachfrage bis 2017 um 20 Prozent zu reduzieren. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, grün wird er damit noch lange nicht.

Ist die Verringerung um 20 Prozent ein realistisches Ziel?
Trittin: Ja, aber kein besonders ambitioniertes. Ein ambitioniertes Ziel wäre es, den Treibstoffverbrauch im gleichen Zeitraum um die Hälfte reduzieren.

Was müsste dazu getan werden?
Trittin: Es gibt zwei Kernpotenziale: Das eine sind effizientere Fahrzeuge, das zweite ist der massive Einsatz von biologischen Treibstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen.

Hat Bush Sie überrascht?
Trittin: Ich erkenne an, dass es ein erster Schritt ist. Noch schöner wäre es, wenn die US-Regierung Bundesstaaten wie Kalifornien, die Verbrauchsobergrenzen wollen, dabei freie Hand ließe.

Schließen sich die USA am Ende doch noch dem Kyoto-Protokoll an?
Trittin: Wohl kaum. Das Protokoll läuft 2012 aus. Die aktuellen Bemühungen der USA erhöhen aber die Chancen, Länder wie China und Indien in ein Nachfolgeprotokoll einzubinden. Da ist in eine lange festgefahrene Angelegenheit jetzt etwas Bewegung gekommen. Es ist ein Anfang, mehr aber auch nicht.

Erschienen am 25.01.2007


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