Warner vor einem beschlossenen Krieg
Alan Chochiev floh aus Ossetien, als der Feldzug begann
Den Kontakt zur Familie und zu Gleichgesinnten hält der Historiker und Oppositionelle heute nur noch per Mail.
Sie kamen bei Nacht: Zwei maskierte Männer, schwer bewaffnet, stürmten Alan Chochievs Haus in Nordossetien. Der damals 62-Jährige hatte Glück, er war nicht zu Hause – dafür seine Mutter und zwei Enkel. Nachdem die Männer Chochiev nicht fanden und die Wohnung hinreichend verwüstet hatten, bedrohten sie seinen 13-jährigen Enkel mit der Pistole: „Wo ist Dein Großvater?“
Er kann noch heute nicht ruhig darüber sprechen. Chochievs ganze Gestalt, die sonst eher an einen Bären erinnert – gedrungen, massig, aber stets wachsam, die grauen Haare militärisch kurz geschoren – diese Gestalt, die sonst nahezu reglos auf dem viel zu kleinen Stuhl thront, gerät in Bewegung, wenn er sich an jene Szenen erinnert. Auch wenn er sie nur erzählt bekam. Er fuchtelt dann mit den Händen, der Stuhl unter seinem Körper ächzt bedrohlich, und seine Stimme wird laut. Die Nachbarn im Potsdamer Asylbewerberheim irritiert das zuweilen.
Chochiev war damals vorsichtig genug, selbst seiner Mutter nicht zu verraten, wohin er gegangen war. Der promovierte Historiker galt schon lange als persona non grata in seinem Heimatland Südossetien. Spätestens, seit er anlässlich einer Ordensverleihung in einem Zeitungsinterview sagte, Russlands Präsident Putin und der ossetische Premier Eduard Kokoity lassen es zum Krieg kommen. Die Botschaft war nicht neu: Immer wieder hatte Chochiev, der als Kulturanthropologe und ehemaliger Vorsitzender des südossetischen Parlaments einigen Ruhm und Einblick genoss, vor dem Krieg gewarnt, der „längst beschlossen war, um die Republik aus Georgien zu lösen und heim nach Russland zu holen“. Für solche Äußerungen war er nicht gut gelitten, und das Interview war eines zuviel: Die Journalistin, die es führte, verlor ihren Job, und nur die rechtzeitigen Warnungen wohlmeinender Nachbarn verhinderten, dass Chochiev inhaftiert und in ein russisches Gefängnis deportiert wurde. Er versteckte sich, kehrte aber einige Monate später zurück. Ein Fehler: Zuhause empfing ihn die Polizei mit einem Haftbefehl. Mit Hilfe eines Anwalts zog Chochiev noch einmal den Kopf aus der Schlinge. „Doch nun war mir klar: Wenn ich bleibe, gibt es zwei Möglichkeiten. Sie töten mich, oder sie sperren mich sehr lange ein.“
Als der Krieg im Spätsommer 2008 wirklich kam, ging er. Auf abenteuerlichen Pfaden floh Chochiev über Bratislava und Wien, wo er sich trotz der Flucht den Jugendtraum erfüllte, einmal in die Wiener Oper zu gehen. Er gelangte nach Potsdam. Deutschland war von vornherein sein Wunschziel, weil er wissenschaftliche Kontakte zur Heidelberger Universität hat. Doch die Mühen waren damit nicht zu Ende, sie änderten sich nur. Statt Ruhe zu finden und publizieren zu können, geriet er in den Umzugswirbel des Potsdamer Asylheims aus einer ruhigen, abseitigen Lage ins quirlige Plattenbauquartier. Aus dem Ärger darüber floh er in die Arbeit – ein druckfrisches Buch über Protosprachen und Religion auf seinem Nachttisch legt davon Zeugnis ab. Und er analysiert weiter die Zustände in Ossetien und den Krieg – unter anderem für die Moskauer Nowaja Gaseta, für die auch die ermordeten Journalistinnen Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa arbeiteten.
Den Kontakt zur Heimat hält Alan Chochiev über einen Laptop, den ihm ein Freund vor der Flucht schenkte – „das größte Geschenk meines Lebens“, wie er sagt. Pünktlich um 18 Uhr zieht seine Schwester in Nordossetien jeden Tag einen Schemel vor ihren Laptop, auf dem dann Chochievs 87-jährige Mutter Platz nimmt. Sie reden über das Wetter, die Politik und das Leben im „Ghetto Asylheim“, denn treffen können sie sich nicht: Mütterchen ist nicht mehr reisefähig, und Chochiev darf als Asylbewerber Potsdam nicht verlassen. Das schmerzt ihn am meisten, denn auch die so wichtige Teilnahme an Konferenzen ist dem Wissenschaftler damit versagt. Er kompensiert es, so gut es eben geht, über das Internet: liest russische Zeitungen, bloggt, videofoniert. Neben mehr Demokratie in Russland sind Reisefreiheit und etwas mehr Ruhe im Heim seine größten Wünsche.
Erschienen am 25.07.2009