„Wie früher!“

Jahrestag: Zehntausende gedachten in Berlin Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs

BERLIN Hilde Ketter ist vorbereitet. Dick angezogen und zusätzlich von einer Decke gewärmt, sitzt die 72-Jährige kurz nach 9 Uhr am Sonntagmorgen auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Frankfurter Allee, auf dem Schemel neben sich ein kleines Fernglas und eine Thermoskanne mit frischem Kaffee. Unter ihr, ein Stück die Allee hinab, sammeln sich etwa 50 linke Gruppen zum alljährlichen Gedenkmarsch anlässlich des Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Mit Trommeln, Trillerpfeifen und Parolen vertreiben sie die Kälte, allgegenwärtige Polizisten kontrollieren jeden Neuankömmling auf Waffen und Wurfgegenstände, und die Demonstrationsleitung erinnert per Megaphon an die Regeln: Keine Stahlkappenschuhe, schön zusammenbleiben und Transparente stets in Laufrichtung halten, nicht zur Seite. „Von mir aus kann’s losgehen“, sagt Frau Ketter, die bereits bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen ist und langsam ungeduldig wird. Die Kälte kriecht selbst unter die Decke.
Doch unten schert man sich nicht um die Wünsche der älteren Dame, die „aus Nostalgie“ jedes Jahr den Gedenkmarsch zu Ehren der 1919 von rechten Freikorps ermordeten Arbeiterführern beobachtet. Mit „den Sozen“ habe sie zwar „nichts am Hut“, sagt sie, doch „den Aufmarsch“ schaue sie gern an. „Auch wenn früher viel mehr los war“, fügt sie enttäuscht hinzu. Zu DDR-Zeiten organisierte Politbüro das Gedenken an „Karl und Rosa“, Hunderttausende zogen damals zur „Gedenkstätte der Sozialisten“ auf dem Friedhof Friedrichsfelde. An diesem Sonntag sind es immerhin 3400 Demonstranten, die sich in den Zug einreihen, der „mit kommunistischer Pünktlichkeit“, wie der Sprecher betont, um exakt 10 Uhr startet.
Zwei Punkte sind es, die den Umzug in diesem Jahr herausheben: Zum einen haben rechte Gruppen Krawall angedroht, weshalb die Demonstrationsleitung ein wenig nervös wirkt, zum anderen ist es 20 Jahre her, dass eine kleine Gruppe Dissidenten 1988 auf der Demonstration mit einem Rosa-Luxemburg-Plakat für Meinungsfreiheit warb: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ stand darauf, es war nur kurz zu sehen, bevor Sicherheitskräfte das unterbanden, sorgte aber für Wirbel in westdeutschen Medien. Beide Punkte spielen an diesem Sonntag jedoch keine große Rolle: Von Rechten ist weit und breit nichts zu sehen, wohl auch wegen der massiven Polizeipräsenz, und weil eine NPD–Gegendemonstration verboten wurde. Und an die Dissidenten erinnert niemand öffentlich. Die Linkspartei nimmt ohnehin nicht am Umzug der tendenziell sehr linken Gruppen teil, sondern beschränkt sich auf stilles Gedenken und eine Kranzniederlegung, an der unter anderem Parteivorsitzender Lothar Bisky, Fraktions chef Gregor Gysi und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau teilnahmen. Auch viele Nichtparteigänger kommen an diesem Tag zum Ehrenmal, die meisten mit einer roten Nelke in der Hand. Die Veranstaltungsleitung spricht von etwa 70 000 Besuchern.
Als der Demonstrationszug endlich unter ihrem Balkon vorbeikommt, hellt sich auch Hilde Ketters vor Kälte gerötetes Gesicht auf: Sie hat eine DDR- und eine FDJ-Fahne in der Menge ausgemacht. Als der Zug auch noch die „Internationale“ anstimmt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Wie früher!“ sagt sie.

Erschienen am 14.01.2008

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