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Frische Romantik für Hafnarfjord

Samstag, 25. Oktober 2008

Jede Taste, selbst die kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente werden in der Sieversdorfer Werkstatt per Hand gefertigt: Orgelbauer Christian Scheffler ist weltweit gefragt.

Im Grunde ist Christian Scheffler päpstlicher als der Papst. Denn Wilhelm Sauer, der geniale Orgelbauer, dessen Lebenswerk Scheffler und seine 16 Mitarbeiter noch heute ernährt, würde wohl längst mit modernen computergesteuerten Fräsen die Teile seiner Orgeln fertigen lassen. Doch das ist etwas, vor dem Scheffler zurückschreckt. Er schüttelt sich schon demonstrativ, wenn er es nur erwähnt. Und er tut gut daran: Christian Schefflers Orgelbaubetrieb im beschaulichen Sieversdorf (Märkisch-Oderland) ist weltweit gefragt, wenn es um die Restaurierung berühmter romantischer Orgeln geht – vorrangig solcher aus Sauerscher Produktion, aber nicht nur. Einer von vielen Gründen dafür dürfte sein, dass in Schefflers Werkstatt noch alles von Hand gefertigt wird: jede Taste, jedes Register, jede kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente.

Die Qualität aus der Mark hat sich mittlerweile herumgesprochen in den Zirkeln der Kirchenmusik: Mit den Orgeln im Bremer Dom, im Dom zu Tallinn (Estland), in der Leipziger Thomaskirche, der Pfarrkirche im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) sowie im norwegischen Trondheim hat Christian Scheffler nahezu alle großen Sauerorgeln Europas restauriert. Lediglich die allergrößte im Berliner Dom fehlt in der Sammlung des umtriebigen Sieversdorfer Orgelbauers. Die Herausforderungen gehen Scheffler deshalb aber nicht aus. Die jüngste ist der komplette Neubau einer 1400 Pfeifen umfassenden Sauerorgel. Eine Stilkopie, nach Sauers Plänen, Sauers Prinzipien und Sauers Materialvorgaben; eine Orgel für Hafnarfjord. Hafnar-fjord in Island, 20 Kilometer vor den Toren Reykjaviks.
Die Anfrage erreichte Sieversdorf auf verschlungenen Pfaden. Der Leipziger Orgel-Professor Stefan Engels erhielt einen Anruf von einem ehemaligen Schüler, der in den USA bei ihm studiert hatte. Der Schüler war mittlerweile wieder in seine isländische Heimat zurückgegangen und hatte als frisch eingestellter Kantor nun den Auftrag für eine romantische Orgel im historischen Stil zu vergeben. Stefan Engels verwies ihn nach Sieversdorf, denn viele „seiner“ Leipziger Orgeln künden mit jedem Ton vom Geschick Christian Schefflers, der im Sauerschen Betrieb das Handwerk lernte.
Scheffler, der schon einiges von der Welt gesehen hat, musste nach dem Anruf des jungen Isländers erstmal den Atlas aus dem Regal fischen. Als er ihn wieder zuklappte, wusste er, dass Hafnarfjord an der Westküste der Insel direkt am Atlantik liegt, 25000 Einwohner hat und offenbar nicht zu den ärmsten Gemeinden gehört. Solch einen Neubau zu finanzieren, sagt er, davon könnten die meisten Brandenburger Gemeinden nur träumen. Zumal sich die isländische Kirchgemeinde zeitgleich bei einer Leipziger Firma auch noch eine große Barockorgel bauen lässt.
Dass es herzliche, überaus musikbegeisterte und mit Vorfreude auf das Instrument geradezu übervolle Menschen sind, lernte Christian Scheffler im April dieses Jahres vor Ort in Island. Für ein solides Angebot, dass die Größe der Kirche, deren klangliche Eigenheiten ebenso einbezieht wie die Wünsche des Organisten ist ein Vor-Ort-Termin unerlässlich, sagt er. Schnell war man sich handelseinig, und schon auf dem Rückflug erteilte Christian Scheffler erste Bauanweisungen an seine Mitarbeiter. Der Zeitplan nämlich ist eng: Spätestens zum zweiten Advent soll die Orgel das erste Mal erklingen.
So wurde den Sommer über emsig gewerkelt in Sieversdorf: Statt baden zu gehen und Luftmatratzen aufzublasen galt es, Holzpfeifen zu schreinern, Klaviaturen zusammenzusetzen, Metallpfeifen zu intonieren und Luftklappen zu leimen. Dann verluden die Orgelbauer alle Teile in große Kisten, die wiederum in einen Container gehievt wurden und auf dem Atlantik ihrem Bestimmungsort entgegenschwammen. Ende September legte das Schiff dort an. Christian Scheffler und drei Mitarbeiter nahmen die Fracht in Empfang und begannen, alles zu einem Ganzen zusammenzusetzen – zum ersten Mal. Für den kompletten Aufbau in der Orgelwerkstatt fehlten der Platz und die Zeit. „Für Überraschung ist also noch genug Raum“, sagt Scheffler trocken. Erfahrung und Vertrauen in die Qualität seiner Arbeit machen ihn zuversichtlich genug für solche Scherze, bei denen seine Mitarbeiter gern etwas zusammenzucken.

Was unterscheidet eine romantische Orgel von den meist barocken, die jedem sofort in den Sinn kommen? Der Märker, sagt Scheffler, kennt ja vorrangig jene mit romantischem Anteil: Zwei Drittel aller Instrumente in Brandenburg sind nämlich nach 1870 entstanden oder umgebaut worden und haben die damals übliche romantische Prägung in die Pfeifen gelegt bekommen.
In fast jeder Epoche bildet die Orgel – von der Spielweise ein Tasteninstrument, von der Klangerzeugung ein Blasinstrument – das zu ihrer Zeit typische Instrumentarium nach: Im Barock waren es Flöten, Gamben und Principale, und so heißen dann auch die Pfeifen der Barockorgel; in der Renaissance entlockte der Organist seinem Instrument Schalmeien-, Dudelsack- und Trompetenklänge. In der Romantik waren vor allem Klänge gefragt, die dem ähneln, was Menschen singen können.
So hat jede Orgel auch die Musikentwicklung ihrer Epoche geprägt: Die französische Romantik, aber auch Max Reger und Franz Liszt wären ohne romantische Orgeln nicht denkbar, sagt Scheffler. Zwar klinge auch Bach darauf wundervoll, doch warne er vor dem Umkehrschluss: Der Versuch, Liszt auf einer Barockorgel zu spielen, sei meist zum Scheitern verurteilt.
Und: Romantische Orgeln haben ihre Tücken. Selbst auf guten gibt es unter den tausenden von möglichen Klängen fünf oder sechs, die der Spieler vermeiden sollte. „Ich kenne allerdings hoch gelobte Organisten, die finden auf so einer Orgel mitten im Konzert zwölf neue, unmögliche Töne“, erzählt Christian Scheffler und wirft die Stirn in Falten, als fahre ihm gerade ein solcher Ton ins Ohr. „Das ist dann nicht eben erhebend“, stöhnt er, als litte er Schmerzen.
Trotz aller Routine und obwohl Scheffler vom Umfang schon weitaus größere Aufträge bewältigte, hat ihn diesmal ein besonderes Fieber gepackt: „Ein reiner Neubau, also alles aus einem Guss zu erschaffen, das hat schon ein spezielles Flair.“ Historische Orgeln sind gereift, in Würde gealtert – „patiniert“ nennt Scheffler das –, sie haben sich abgeschliffen. Den Obertönen fehlt das unangenehm Metallische, das gealterte Holz lässt die tiefen Register wärmer klingen und auch das Raumklima und die Spielweise des Organisten haben sich ins Instrument gegraben. Die Herausforderung für den Orgelbauer als Restaurator besteht dann darin, dafür zu sorgen, dass ausgetauschte Register, Laden und Pfeifen nicht klingen wie ein Saxofon im Barockorchester: schreiend deplatziert.
Ein komplett neues Instrument erfordert solche Anpassungen nicht: Scheffler kann sich ganz auf den bestmöglichen Klang konzentrieren. Zu erleben, wie das Orgel-Neugeborene im Laufe seines Lebens einen Charakter entwickelt, kann eine unübertreffliche Freude sein, sagt er.
Vielleicht sind es jene Freuden, die Scheffler davon abhalten, moderne Orgeln zu bauen. Die können, das räumt er ein, vieles, was auf Sauer-Orgeln noch undenkbar ist, doch er baut lieber mit der Technologie und im selben Stil wie vor 100 Jahren und dem Anspruch, den damaligen Zeitgeschmack zu treffen. Mag sein, dass der alte Sauer mit dem Kopf schüttelte, wenn er das sähe: Der Meister blieb für Neues offen, rüstete noch in reifen Jahren von mechanischen Kegelladen zu pneumatischer Steuerung um und fertigte als echtes Kind der Industrialisierung Orgeln in Serie. Christian Scheffler würde ihm entgegnen, die technische Konstruktion seiner – Sauers – Orgeln, deren Steuerung, diese Klangidee zwischen Orgelklang und Hochromantik, das alles sei so modern und in sich so genial – „der Rolls-Royce unter den Orgeln dieser Zeit“ – dass er keinen Grund erkennen könne, auch nur den kleinsten Filz zu ändern. Da ist er, wie gesagt, päpstlicher als der Papst.

Erschienen am 25.10.2008

Der mobile Märchenonkel

Samstag, 20. September 2008

Wie ein Theater- Schauspieler zu den Grimms zurückfand, warum er Termine hasst und was ihn im Alter von 66 Jahren bewog, auf einem klapprigen Rad durch märkische Dörfer zu tingeln.

Er lässt die Satzenden gern wie lose Fäden in der Luft baumeln. Nicht so, dass sie sich verknoten würden, nicht so, als wären sie achtlos auf einen Haufen geworfen. Maximilian Ruethlein verheddert sie nicht, seine Sätze – dazu ist er zu diszipliniert –, er bricht sie nur zugunsten des folgenden Gedankens mittendrin ab und beginnt übergangslos den neuen. Die übrig gebliebenen Fragmente hängen dann, fein säuberlich aufgereiht, in der Abendluft wie feuchte Wäsche auf einer Leine.
Es ist daher nicht ganz leicht, Ruethlein zu lauschen. Irgendwann wird der Zuhörer es müde, die Sprünge nachzuvollziehen. Und seine Gedanken gehen eigene Wege. Das ist erstaunlich bei jemandem wie Ruethlein, der, wenn er mehr als nur einen Zuhörer hat, Märchen so packend erzählen kann, dass Kinder zu atmen vergessen und Erwachsene bereitwillig wieder zu Kindern werden und sich in Augenblicke zurückversetzt fühlen, in denen sie eingekringelt im warmen Bett lagen oder aufmerksam auf dem Schoß der Oma saßen und mit großen Augen die gruselig-schönen Geschichten vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin oder der Scheherazade hörten. Situationen also, die einmal alltäglich waren, doch es nicht mehr sind. Dass sie es nicht mehr sind, dass kaum noch jemand Märchen erzählt, ist Ruethleins Kapital – neben dem unergründlichen Märchenschatz in seinem Kopf, seiner sonoren Stimme und seiner Schauspieler-Seele, die am Theater geformt wurde. Ruethlein erzählt Märchen in Kitas, in Schulen, in Volkshochschulen, in Buchhandlungen, in Kirchen und auf Plätzen. Wann immer jemand möchte, wann immer jemand Zeit hat – normalerweise gegen Bezahlung, jetzt, auf seiner Spätsommertour auch gegen eine Mahlzeit oder eine Unterkunft für die Nacht.
Wenn er im Gespräch gedanklich allzu sehr auszufransen droht, zieht Maximilian Ruethlein die Notbremse. Er wendet dann den Blick von innen nach außen, sieht sein Gegenüber an, als sei er eben erwacht und fragt, ob er gerade wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen komme. Im Grunde erwartet er gar keine Antwort, und ein kurzes Zögern genügt ihm als Bestätigung. Dann lächelt Ruethlein wissend, nippt an seinem Kaffee und nimmt den Faden wieder auf. Einen neuen Faden.
Vielleicht ist daran auch die Einsamkeit schuld. Mehrere Wochen ist der Berliner nun schon mit dem Fahrrad durch die märkische Provinz unterwegs. Die Idee, seine Märchen auf einer spontanen Sommertour durch die Welt zu tragen, kam plötzlich, und Ruethlein gehört nicht zu den Menschen, die zögern, wenn sie plötzliche Ideen haben. Also packte er seinen großen Grimm, einen Schlafsack und etwas saubere Wäsche in den abgelederten Rucksack, der ihn schon durch Südamerika begleitete, holte sein klappriges blaues Fahrrad hervor und radelte los. Ohne Termine, ohne große Absprachen, ohne festes Ziel, ohne fixe Route. Es ging zunächst nach Potsdam, wo Ruethlein im Eine-Welt-Laden erzählte, dann nach Drewitz, weil er dorthin eine spontane Einladung bekam und schließlich im Nieselregen nach Rathenow.
Wenn es beschwerlich oder einsam wird, wenn ihn das Wetter im Stich lässt oder er kein Quartier für die Nacht findet – was allerdings selten ist –, dann tröstet sich Maximilian Ruethlein mit seinen Märchen. „Ich erzähl mir dann eins“ heißt das in seinen Worten. Er schwört auf die tröstende Kraft der Urbilder, als die er Märchen begreift. Märchen tragen zu innerer Zufriedenheit bei, sagt er, sie unterwandern den Verstand, indem sie an Älteres und Größeres rühren und haben daher eine unmittelbare Wirkung.
Seit mehr als 20 Jahren sät und erntet Ruethlein Märchen. Zehn Jahre lang war er zuvor am Renaissance-Theater, spielte in Brechts „Arturo Ui“, spielte Ibsens Dramen und was das damalige Startheater unter Heribert Sasse noch so im Repertoire hatte, verdingte sich als Dramaturg, Regisseur und Stückeschreiber. Doch Ende der 80er Jahre, mit 48 und „voll im Saft“, wie er betont, beschlich ihn das Gefühl, dass er sich dort und mit seinem Universitätswissen nicht finden könne. Also warf Ruethlein hin und gründete die Märchenwerkstatt, weil er in Märchen eine „Anleitung zum kreativen Handeln“ sah und sieht, eine Verbindung von Geist und Seele, die ihm am akademischen Theater fehlte. Es lief ziemlich schnell ziemlich gut. Ins Kreuzberger „Café Graefe“, seine erste Spielstätte, kamen am ersten Abend fünf Leute, am zweiten Abend 20 und am dritten war es bereits so voll, dass die Leute auf dem Boden sitzen mussten. Ruethlein hatte sein Element gefunden, er verdiente gutes Geld, wie er sagt, tingelte tagsüber durch Schulen und Kindergärten und spielte abends sein Programm für Erwachsene. Nebenher bildete er Märchenerzähler aus, die ihm nun Konkurrenz machen.
Aus seinem Bedauern darüber, dass diese Zeiten vorbei sind, macht Maximilian Ruethlein heute keinen Hehl. Zu resignieren entspräche aber nicht seinem Naturell. Als die städtischen Gelder knapper wurden, brach er nach Südamerika auf und fuhr zweimal acht Monate lang mit dem Bus von deutscher Schule zu deutscher Schule, um Grimms Wort nach Lateinamerika zu tragen. Natürlich war er vorher nicht angemeldet, natürlich wusste vorher niemand, dass da einer kommen würde, der den „Froschkönig“ erzählt, singt und tanzt. Das wäre gegen Ruethleins Überzeugung gewesen: Das kreative Handeln verträgt keine Planung. Handeln statt Grübeln ist des Märchenerzählers Credo, er fährt so ziellos durch die Welt, wie er seine Sätze bildet.
Seine größten Glücksmomente entstehen dann, wenn er sich nur von seinem Instinkt leiten lässt, und sich auf wundersame Weise alles fügt. Die Radtour, die Mitte August begann und dieser Tage endet, scheint ein solches Erlebnis zu werden: „Ich bin ohne Erwartungen los, habe meinen Job gemacht, und zwar offenbar so gut wie noch nie, wenn ich an all das Lob denke.“
Ruethlein rollt seinen Schlafsack aus, wo er eine Einladung bekommt, er fährt, wohin der Wind oder der Tipp der Kita-Leiterin vom Vortag ihn tragen, wenn es gut läuft, bleibt er ein paar Tage, wenn nicht, ist er am nächsten Morgen auf und davon. Wenn er erst in fünf Tagen auftreten könnte, wo er gerade ohnehin schon vorspricht, winkt er dankend ab. Zuviel Fixierung. Auch ein Handy hat er nicht dabei, obwohl es manches vereinfachen würde. Wer sich mit ihm treffen will, muss warten, bis Ruethlein von einer Telefonzelle aus anruft und dann zur abgemachten Stunde an einer Bushaltestelle in irgend einem märkischen Dorf auftauchen.
Ist das nicht anstrengend? Darüber denke er nicht nach, sagt der 66-Jährige. „Würde ich nachdenken, bräche ich nie auf. Ich bin jemand, der schnell alle Für und Wider erwägt. Vor allem die Wider, deshalb darf ich nicht ins Denken geraten.“ Ein paar Zugeständnisse hat ihm die Tour dennoch abgetrotzt: Das Schlafen unter freiem Himmel nimmt ihm der Rücken auf die Dauer krumm, und auch ein etwas weniger klappriges Fahrrad hält Ruethlein mittlerweile für ratsam. Falls sich da ein Sponsor fände, würde er nicht nein sagen.
Es ist eine unweigerliche Folge des Ruethleinschen Spontanitäts-Kultes, einzelne Brüche und Abbrüche als Teil des Weges zu begreifen. Sein Studium der Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaften hat er nicht abgeschlossen. Mit 19 verdrückte er sich zunächst nach Indien, um per Anhalter den Subkontinent zu ergründen. Das Vorhaben, Erwachsenentheater zu machen, stellte er ein, als er merkte, dass der von ihm dramatisierte „Parzival“ des mittelalterlichen Dichters Wolfram von Eschenbach sich nicht wie ein Märchen inszenieren ließ. Auf der Tour musste der Plan, ein Tagebuch im Internet zu führen, dran glauben. Auch Pläne sind für Ruethlein so etwas wie Sätze: Man kann viel anfangen, muss aber nicht alles zu Ende führen, wenn Instinkt oder Fügung sich der Spontanität in den Weg werfen. Auf diese Weise entschlief Ruethleins Filmkarriere, die neben Auftritten in Otto- und Didi-Hallervorden-Filmen auch internationale Produktionen enthielt.
All diese angefangenen Lebensfäden hängen mittlerweile aufgereiht in der Abendluft, während Ruethlein Kindern vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin und von der Scheherazade erzählt. Immer dort, wohin der Weg, der Wind oder ein Wink des Schicksals ihn gerade trugen.

Kontakt zu Maximilian Ruethlein über Horst Edler, Tel. 0172/ 32032 52.

Erschienen am 20.09.2008

Das wiedererweckte Wort

Samstag, 23. August 2008

In einem Dorf an der Müritz steht Deutschlands einzige Hörspielkirche. Konzipiert und umgebaut wurde sie von einem Potsdamer.

Gemessen an der Größe seines Kirchleins hat Pastor Leif Rother eine geradezu luxuriöse Audioanlage zur Verfügung. Auch ein Beamer-Anschluss und Internet-Verbindung sind für eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert nicht unbedingt der Ausstattungs-Standard. Das wundert um so mehr, wenn man bedenkt, dass es Federower geben soll, die vor fünf Jahren gar nicht mehr wussten, dass ihr 700-Seelen-Dorf am Eingang zum Müritz-Nationalpark überhaupt eine eigene Kirche hat.
Er erregte eben nicht viel Aufmerksamkeit, der fast schon schmucklose Backsteinbau, zwar zentral gelegen, doch ohne weithin sichtbaren Turm und hinter dichtem Fliedergestrüpp verborgen. Mehr als 20 Jahre lang verfiel die stillgelegte Kirche – auf durchaus malerische Art – hinter diesem Dickicht, die Gemeindemitglieder fuhren indes zum Gottesdienst in die Warener Marienkirche oder ins benachbarte Kargow.
Dann kam Jens Franke. Der Potsdamer Architekt besuchte einen ehemaligen Kommilitonen an der Müritz, und die Kirche lag auf dem Weg. „Wenn du eine Nutzungsidee hast, kannst du sie umbauen“, soll der Freund gesagt haben. Für einen wie Franke genügt das, um Feuer zu fangen. „Du kannst tausendmal Architekt sein, wirst aber nie eine Kirche bauen“, sagt er. Weil Kirchen eigene Architekten haben, und weil Kirchenbau in Zeiten schwindender Gemeindegrößen ein seltenes Geschäft geworden ist. Also musste eine Nutzungsidee her. Auf verschlungenen Assoziationspfaden – im Radio hatte Franke vom Hörspielplanetarium in Berlin gehört – kam ihm schließlich eine Hörspielkirche in den Sinn.
Das war 2003, und was folgte, war ausgiebiges Klinkenputzen. Die Kirchgemeinde konnte sich eine Hörspielkirche prinzipiell vorstellen, doch woher das Geld kommen sollte, blieb offen. Also schrieb Franke an den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), denn der hatte auch das sehr erfolgreiche Hörspielplanetarium aus der Taufe gehoben. Dort half man, ein Konzept zu erstellen, doch Geld hatte der RBB auch nicht übrig. Selbst der Mecklenburgische Landesbischof erteilte dem Plan seinen Segen, konnte aber kein Säckel öffnen. So war es schließlich die EU, die mit einer Förderung von 160 000 Euro den entscheidenden Impuls gab: Federow bekam wieder eine nutzbare Kirche, Hörspielfreunde eine neue Pilgerstätte und der Architekt Franke den Auftrag, sie umzubauen.
Wirtschaftlich betrachtet, war es für Jens Franke dennoch ein Verlustgeschäft, aber eines mit Ansage: Unzählige Arbeitsstunden sind inzwischen in die Organisation, die Bekanntmachung und die Betreuung der Hörspielkirche geflossen, während der Spielzeit von Mai bis September fährt Franke jede Woche einmal die 185 Kilometer von Potsdam nach Federow – und zurück. Weil die Kirche keinen Eintritt erhebt, weil immer jemand die CDs starten muss und auch sonst jede Menge Arbeit anfällt, ist das Projekt nach wie vor nicht selbsttragend: Freiwillige Spenden, viel ehrenamtliche Arbeit der Federower Gemeindemitglieder sowie Zuschüsse vom Kultusministerium und nicht zuletzt CD-Verkäufe sorgen aber für einen leidlich ausgeglichenen Haushalt. Zur öffentlichen Einweihung 2005, als die Potsdamer Schriftstellerin Helga Schütz in der Kirche las und der Putz von der Decke rieselte, war das Spendenaufkommen so groß wie später nie wieder. „Wenn wir mehr Geld einnehmen wollten, hätten wir nicht sanieren dürfen“, sagt Franke trocken.
Doch natürlich ist der Potsdamer stolz auf die Kirche, die nun wieder mit frischem Putz zwischen den uralten Feldsteinen und leuchtend gelbem Vorbau erstrahlt. Der Dachstuhl wurde komplett saniert – das marode alte Gebälk drückte bereits die Wände auseinander – und auf besonderen Wunsch der Kirchgemeinde gestaltete Frankes Schwester, die in Berlin als Künstlerin arbeitete, drei neue, farbige Fenster, die das alte Klarglas ersetzen. Einen „schönen, introvertierten Raum“ nennt Jens Franke das Ergebnis, denn ein direkter Blick nach draußen ist nun nicht mehr möglich. Das ist gewollt: Wenig soll den Hörenden vom Text und dem Klang der Stimmen ablenken. Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn Kirchräume sind fürs gesprochene Wort gemacht. Franke war daher wenig überrascht, als die Akustik-Berechnungen ein hervorragendes Klangerlebnis voraussagten.
Das ist durchaus ein Argument, wenn der Potsdamer bei den großen Hörspielproduzenten – allen voran den öffentlich-rechtlichen Radiostationen – um günstige Aufführungsrechte ersucht. „Wenn wir hier mit einem Ghetto-Blaster aufliefen, würden viele gleich wieder auflegen“, sagt er. Das Programm umfasst neben Krimis – selbst Derrick gibt es als umfangreiche Hörspielserie – vor allem gut umgesetzte hochklassige Literatur: Hemimgway, Fontane, Tucholsky, vor allem Stücke mit regionalem Bezug wie „Der Stechlin“ oder „Rheinsberg“ laufen gut. Außerdem gibt’s hin und wieder klassische Musik zu hören, und einmal am Tag ein Programm für die Kinder, meist schöne DDR-Aufnahmen bekannter Märchen wie „Zwerg Nase“ oder „Das kalte Herz“. Viele gute Hörspiele rettet Franke auf diese Weise davor, in den Archiven zu verstauben.
Was die Raumnutzung angeht, so hat das Bauwerk durchaus die Gesetze diktiert: Anfängliche Ideen, die Zuschauerplätze im Kreis anzuordnen oder eine Liegelandschaft anzubieten, erwiesen sich schon im Konzeptstadium als unpraktikabel. „Über Jahrhunderte hat sich eine Sitzordnung in Kirchen etabliert, und das hat ganz offenkundig seinen Sinn“, musste der Architekt lernen. Die harten Sitzbänke verhindern allzu bequeme Haltungen und damit ein Entgleiten der Aufmerksamkeit, die Ausrichtung nach vorn hilft, sich nicht ablenken zu lassen – „nicht mal von der hübschen Frau neben sich“, sagt Franke.
7500 Gäste haben diese Erfahrung im Jahr 2007 gemacht, 6000 davon beließen es dabei, Deutschlands einzige Hörspielkirche zu besichtigen, 1500 hörten auch. Für Franke ist das ein „Super-Schnitt“, denn mehr als 30 Personen zugleich passen ohnehin nicht bequem ins Kirchlein, und dass an manchen Tagen eine der drei Aufführungen leer bleibt, ist bei kostenlosen Vorführungen verschmerzbar. Wichtiger ist ihm, dass die Hörspielkirche bekannter wird. „Der Charme des Neuen ist längst weg“, sagt er, „und dass trotzdem jedes Jahr mehr Leute kommen, zeigt, dass wir es richtig gemacht haben.“ Wiederholbar ist das allerdings nicht ohne Weiteres: Sein Nachfolgeprojekt, einen Hörspielbahnhof in Joachimsthal (Märkisch Oderland) hat Franke mittlerweile für gescheitert erklärt. Er nennt das die „Evolution des Erfolgs“ und freut sich um so mehr, zumindest in Federow „einen vergessenen und verlorenen Ort aus dem Dunkeln ans Licht geholt“ zu haben – mit Kirche, Kunst und Kultur als Paten.

Info-Box: Hörspiele, Kinderprogramm und Klassik
Federow liegt direkt an den Toren des Müritz-Nationalparks. Rund 700000 Touristen kommen jedes Jahr durch das beschauliche 700-Seelen-Dorf.
Die Hörspiel-Saison der Kirche begann in diesem Jahr am 11. Juli und endet am 14. September.
Täglich ab 11 Uhr stehen die Kirchentüren offen, um 15 Uhr steht ein Kinderhörspiel auf dem Programm, ab 16.30 Uhr tönt klassische Musik aus der Anlage, ab 18.30 läuft ein Hörspiel für Erwachsene.
Jeden Mittwoch bieten die Veranstalter zusätzlich eine „blaue Stunde“ an: Ein gruseliges Krimi-Hörspiel, das um 20 Uhr beginnt.
Auch Lesungen stehen auf dem Programm: Am 5. September wird der in Potsdam lebende Fernsehjournalist Dirk Sager von „Russlands hohem Norden“ berichten.
Im Kinderprogramm laufen etwa „Der kleine Muck“, „Zwerg Nase“, „Das kalte Herz“, „Die Bremer Stadtmusikanten“ oder „Pinocchio“.
Im Musikprogramm erklingen Operngalas, Mozarts Requiem und der Thomanerchor.
Im Hauptprogramm sind unter anderem Fälle von Sherlock Holmes und Prof. van Dusen ebenso zu hören wie Werke von Edgar Allen Poe, Heinrich Heine, Edgar Wallace, Homer, Hemingway und Schiller.
Das volle Programm sowie weitere Informationen – auch zur Anreise – stehen im Internet unter der Adresse www.hoerspielkirche.de

Erschienen am 23.08.2008

Reichlich, kräftig, frisch

Samstag, 23. August 2008

Letscho statt Limoncello-Jus, Bauernfrühstück statt Basilikum-Schaum: im Krug Gollin isst man bodenständig.

Um festzustellen, wie die Verkehrssituation auf der 15 Kilometer entfernten Autobahn A11 ist, genügt Corinna Kühnke ein Blick in den Gastraum. Ist er spärlich besetzt, fließt der Verkehr. Gibt es Stau, platzt der „Krug Gollin“ hingegen aus allen Nähten. „Wir kriechen dann auf dem Zahnfleisch“, sagt die Wirtin. Die A11 ist Segen und Fluch zugleich für den „Krug“. Einerseits schwemmt sie mögliche Gäste in die Uckermark und – wenn es mal wieder staut – auch in den „Krug“, andererseits lenkt sie die Verkehrsströme von Berlin Richtung Ostsee 15 entscheidende Kilometer östlich an Gollin vorbei. Das war nicht immer so: Als noch die B109 durch den Ort führte, füllte sie das Haus zuverlässig, besonders im Sommer.
Jene verkehrsgünstige Lage war auch der Grund, warum Corinna Kühnke sich vor neun Jahren entschloss, den „Krug“ im ansonsten verschlafenen Gollin zu übernehmen. Dass die Autobahn ihr soviele Gäste stiehlt, habe sie nicht kommen sehen, sagt sie. Kühnke ist im „Krug“ einige Jahre aufgewachsen. Ihre Eltern betrieben die Gaststätte von 1970 bis 1975, und die Tochter trat mit einer Kellnerlehre in deren Fußstapfen. Dann verbrachte sie 20 Jahre in einem anderen Beruf, doch der „Krug“ rief sie zurück. Als er 1999 zum Verkauf stand, zögerte die Mittvierzigerin nicht lange. Während des Komplettumbaus verkaufte sie ein Jahr lang Speisen aus dem Fenster heraus.
Die Version, dass der „Krug“ sie zurückgerufen habe, würde Kühnke als romantisierenden Unfug abtun. Sie pflegt einen eher spröden, direkten, bodenständig-uckermärkischen Charme. „Er stand halt zum Verkauf, ick hab mich an früher erinnert, meinen Mann gefragt und dann haben wir es halt gemacht“, sagt sie. Thema erledigt.
Es muss dennoch Herzblut darin stecken, denn die Arbeit ist nicht unerheblich: Corinna Kühnke plant, organisiert, kocht, bedient, füllt Getränke ein, macht Abrechnungen, liefert Bestellungen aus, putzt und räumt auf – unterstützt nur vom Mann, von der Schwiegermutter und, wenn es völlig überfüllt ist, von ein paar Aushilfskräften. Am Wochenende müssen die beiden Kinder mit anpacken, wenn sie sich denn blicken lassen.
Auch heute lebt der „Krug“ noch von den Reisenden – er zog schon um 1850 als Postkutscherstation zwischen Berlin und Prenzlau hungrige, durstige oder müde Reiter und Kutscher an. Heute sind es vor allem Ur-Berliner und Potsdamer, die lieber die schöne Landstraße unter uckermärkischen Bäumen fahren, statt die hektische, anonyme Autobahn. Aus Tradition und wegen der bodenständigen Küche kehren sie gern im „Krug“ ein. Die Karte ist übersichtlich, aber traditionell und regional gehalten: Das Wildangebot richtet sich täglich danach, was dem Jäger am Vorabend vor die Flinte lief, die Pilzauswahl nach der Saison und dem Finderglück der lokalen Anbieter, der Spargel kommt ausschließlich aus Beelitz und die Forellen und Zander aus den Seen der Schorfheide. Darüber hinaus gibt’s, was es immer gibt in ländlichen Lokalen: 1,2 Kilo Rieseneisbein, Sülze, Schnitzel mit Letscho, Rinderrouladen, Rinderleber, Bauernfrühstück, ungarisches Gulasch. Immer reichliche Portionen, immer kräftig gewürzt, immer frisch, zu höchst zivilen Preisen. 13Euro für das Rieseneisbein markieren die Obergrenze der Karte, die auch im Bereich Wein übersichtlich bleibt: zwei Rot- und zwei Weißweine, je einer süß und einer trocken – Punkt.
Corinna Kühnke weiß um den Charme dieses Angebots und erzählt stolz, dass häufiger Gäste aus den „feinen Hotels“ in ihren nicht eben lichten, mit dunklem Holz ausgekleideten Gastraum kommen, um mal ein handfestes Bauernfrühstück oder eine rustikale Roulande zu essen – „den feinen Kram bekommt ja niemand auf Dauer runter“, sagt sie. Viele genießen auch die entspannt-ländliche Atmosphäre. Für die Kinder hält der „Krug“ einen Miniatur-Streichelzoo vor: Hängebauchschweine, Meerschweinchen, Kaninchen, einen Fischteich. So können die Eltern in Ruhe essen, während der Nachwuchs über den riesigen Hof tobt. „Die Kinder“, sagt die Wirtin, „geben doch lieber einem Karnickel einen Nasenstüber, statt sich aus der Entfernung eine Giraffe anzuschauen.“ Das ist die Logik, die das Konzept des „Krugs“ ausmacht: Die meisten essen schließlich auch lieber im urigen Lokal an der Landstraße ein Schnitzel, statt im Stau auf der Autobahn Tankstellenessen aus der Mikrowelle zu verdrücken.

Info: Krug Gollin, Golliner Dorfstraße 36, 17268 Templin, Tel. (039882) 4 91 60

Fein-bürgerlich im Grafenschloss

Samstag, 9. August 2008

Mitten in der Uckermark, zwischen Seen und Wäldern, fühlten sich schon die Arnims Jahrhunderte lang wohl. Ihr einstiger Stammsitz, das Schloss Boitzenburg, steht heute jedermann offen.

Auf dem Portikus sitzt es sich gräflich. Das säulengetragene Dach schützt vor der Mittagssonne, der Blick schweift über den Park zum Schlossweiher, die Kellnerinnen eilen mit voll beladenen Tabletts treppauf, treppab zur weitere 80 Plätze umfassenden Terrasse. Helge Leopold klappt die riesige, ledergebundene Karte zu, lehnt sich in seinem Korbsessel zurück und sagt, beim „saftigen Wildspieß auf Rotwein-Orangensoße mit Bechamélkartoffeln und überbackenem Fenchel“ müsste er nicht mehr weiterlesen – da hätte er sein Wunschgericht gefunden.

Leopold muss es wissen. Gemeinsam mit der Küchenchefin und der Restaurantleiterin kostet der Gastronomie-Chef des Schlosses Boitzenburg – seine genaue Berufsbezeichnung lautet „Food-and-Beverages-Manager“ – jedes Gericht, bevor es auf der Karte erscheint. Das ist eine härtere Arbeit, als es scheint, sagt er lächelnd, denn mit Rücksicht auf die Figur müsse es beim Probieren bleiben. Schloss Boitzenburg ist die zentrale Attraktion des gleichnamigen kleinen Städtchens im Herzen der Uckermark. Die Arnims haben dort – mit kurzen Unterbrechungen – seit dem Mittelalter gewohnt, und da nahezu jeder Schlossherr so seine Aus- und Umbauten an dem Gebäude tätigte, ist ein abenteuerlicher, aber romantischer Mix sämtlicher Baustile der letzten 500 Jahre daraus entstanden. Nach umfangreicher Restaurierung dient das Schloss heute als Hotel, der einst gräfliche Marstall ist zur Schlossbäckerei, Schokoladenmanufaktur und Kaffeerösterei umfunktioniert worden.

Seit 2003 ist das Restaurant in Betrieb, dass sich „fein-bürgerliche Küche mit großbürgerlichen Portionen zu bürgerlichen Preisen“ auf die Karte geschrieben hat. Der Grundgedanke hinter allem lautet Regionalisierung. Es gibt landestypische Gerichte mit Zutaten aus uckermärkischen Wäldern und Seen zu Preisen, die auch in einer strukturschwachen Region bezahlbar sind: Fischsuppe mit Frischkäsepfannkuchen kostet 4,50 Euro, Matjes an jungen Kartoffeln 9,50 Euro und Kräuterschnitzel an Sommerspargel 12,90 Euro. Küchenchefin Regina Rosin hat aber auch Ambitionierteres in petto: Gebratenes Rumpsteak auf Holler-Sternanissoße an Rotweincharlotten und Steckrübenpürree, Kaninchenkeule in Lavendel-Senfsoße oder Scholle auf Cassis-Sahnecremé bekommt der Gast eben nicht an jeder Ecke, auch wenn die zubereiteten Speisen manchmal nicht ganz so inspiriert schmecken, wie sie sich lesen. Das Rumpsteak etwa, immerhin Höhepunkt und teuerstes Gericht der Karte, erweist sich eher als gut durch- denn als medium gebraten, und die Holler-Sternanissoße lässt Ausgewogenheit vermissen, die auch die draufgekleckste Holundermarmelade nicht ausgleichen kann.

Kaffeerösterei und Schokoladenmanufaktur im Marstall sind nicht nur eine zusätzliche Touristenattraktion – den fleißigen Damen kann dank großzügiger Glasscheiben beim Confiserie-Handwerk und der Kaffeeröstung zugesehen werden. Von ihnen profitiert auch das Restaurant: Der Pralinen-Eisteller zum Nachtisch mit handgeschöpften Pralinen im Karamellkörbchen hat dem Schlossrestaurant bereits einigen Ruhm eingebracht, und die selbstgerösteten Kaffeesorten zeichnen sich durch kaum noch wahrzunehmende Restsäure aus. Raritäten wie wilder äthiopischer Waldkaffee sorgen dafür, dass auch experimentierfreudige Kaffeefreunde sich nicht langweilen, die Schlossmischung aus mildem Hochlandkaffee aus Guatemala und Brasil Santos ist höchst magenfreundlich und wer gern fülligen Geschmack in der Tasse hat, greift zum Costa Rica Tarrazu.

Um soviel gutes Essen zu verdauen, empfiehlt sich im Anschluss ein Spaziergang durch den Schlosspark oder der kurze Aufstieg zum Pavillon auf dem Hügel gegenüber, von dem aus sich ein imposanter Blick auf das Schloss eröffnet. Kinder können derweil den Streichelzoo besuchen oder über die weitläufige Anlage toben.

Info: Schlosshotel Boitzenburg, Templiner Straße 13, Tel. 039889/ 50930 , www.schloss-boitzenburg.de

Erschienen am 09.08.2008

Magier an der Maus

Samstag, 2. August 2008

Olaf Skrzipczyk lässt für die Leinwand Tiere sprechen, Gebäude altern undMenschen jünger werden.Was Filmeffekte angeht, hält er Deutschland dennoch für ein Entwicklungsland.

Schnee. Schöner, weißer, großflockiger Schnee ist derzeit der Renner aus Olaf Skrzipczyks Angebot. Das hat so seine Gründe: Realer Schnee kommt und geht, wann er will, aber immer zum falschen Zeitpunkt – alte Filmregel. Kunstschnee kommt und geht, wann der Regisseur will, doch er ist teuer und er fällt, wie er eben fällt. Nur Olaf Skrzipczyks Schnee tut, was immer Olaf Skrzipczyk will – und was dem Regisseur vorschwebt. Sobald die Regisseure gemerkt haben, was möglich ist, sagt Skrzipczyk, fangen sie an, den Schnee zu choreografieren, ihn der gewünschten Wirkung der Szene anzupassen. Einer habe mal gesagt, „Olaf, der Schnee ist mir zu lyrisch. Ich brauche prosaischeren Schnee“. Für Skrzipczyk ist das kein Problem. Es kostet ihn ein paar Stunden Arbeit, einige Mausklicks und etwas Rechenpower. Danach fällt der Schnee eben prosaisch. Oder theatralisch. Vielleicht sogar sehnsüchtig. Regisseure sind, was das angeht, kreativ.

Das muss Olaf Skrzipczyk, Geschäftsführer der Firma Exozet Effekte im Filmpark Babelsberg, auch sein. Das Geschäft mit den visuellen – heute heißt das vor allem: digitalen – Effekten ist keine Fließbandarbeit und darf auch keine werden. Selbst wenn drei Regisseure für verschiedene Filme digitalen Schnee wünschen, legen Skrzipczyks Leute am Computer nicht einfach ein paar Flocken über die fertige Szene. Im Gegenteil: Wenn es gut läuft, sagt der geborene Dessauer, werde seine Firma schon beim Drehbuchschreiben hinzugezogen, um von Anfang an erklären zu können, was möglich ist und wie es eingebunden werden kann: „Wer uns für Postproduktion hält, die nur hier und da ausbessert, nutzt uns nur unzureichend.“ Nicht zuletzt deshalb besteht Skrzipczyk auch darauf, den ganzen Film zu sehen, selbst wenn sein Team nur an einer Szene tätig wird. Ohne den Kontext zu kennen, sagt er, kann kein Effektspezialist gut arbeiten.

Mit Bernd Böhlich gibt es diese gute Zusammenarbeit. Der zweifache Grimmepreisträger war zunächst ebenso skeptisch wie viele seiner Regisseurskollegen; er hielt die Arbeiten aus dem FX-Center im Filmpark für Effekthascherei. Skrzipczyk aber konnte ihn überzeugen – nicht nur, aber auch mit Kostenargumenten. In Böhlichs neuestem Film „Der Mond und andere Liebhaber“ ließen die Exozet-Leute nun eine nagelneue Brücke digital altern und zerstörten die Straße davor mit einigen Mausklicks – Effekte, die in der realen Welt entweder unmöglich oder kaum bezahlbar wären. Ganz zu schweigen von der Sprengung einer Fabrik im Vorspann. Statt Steine fallen dort nur Pixel einer computergenerierten Detonation zum Opfer und verschwinden in virtuellem Staub. Besonders stolz ist Olaf Skrzipczyk auf die Szenen mit Mond und Sternen. Gerade Sterne sind im Film nicht darstellbar: Zu klein, nicht hell genug. Sie verschwinden, wenn das Filmlicht die Szene ausleuchtet, aus dem Blick der Kamera. Mit der Maus streuten die Exozet-Leute sie wieder ein. Dazu klebten sie nicht einfach ein paar Punkte an den Horizont, sie ließen sie flimmern, funkeln und synchronisierten sie mit den Kamerabewegungen.

Im Grunde ist Skrzipczyk ein Magier: Er lässt die Mongolen Europa überrollen und braucht dazu nur fünf Reiter. Die stürmen hunderte Male durchs Bild, und nach einigen Wochen Arbeit am Computer sind es unüberschaubare Horden, die den Kontinent niederwalzen. Er durchlöchert per Mausklick Menschen mit Gewehrkugeln, die danach putzmunter aufstehen und weder blaue Flecken vom Gummigeschoss noch rote Flecken vom zerplatzten Farbbeutel haben. Er lässt Tiere sprechen, Bauwerke altern und nichtexistierende Hubschrauber fliegen. Er knipst virtuos unerwünschte Lichter in gefilmten Gebäuden aus, ohne den Schalter zu kennen, räumt störende Bauwerke und andere Hindernisse aus dem Filmbild, flutet die Gustloff mit Meerwasser und sorgt dafür, dass Filmtote nicht blinzeln, atmen oder zucken. Es ist die hohe Kunst der schmerz- und trümmerfreien Zerstörung.

Wenn dann der Abspann flimmert und der Zuschauer sich fragt, warum dort digitale Effekte aufgeführt werden – er hat doch gar keine gesehen – hat Skrzipczyk sein Ziel erreicht. Gute Effekte sind Effekte, die nicht als solche wahrgenommen werden. Und sie sind mittlerweile überall, nicht nur in den Effektschlachten wie der „Matrix“ oder dem „Herrn der Ringe“, sondern auch in kleinen, leisen Autorenfilmen mit schmalen Budgets. Entsprechend breit ist das Auftragsspektrum bei Exozet. Die Firma hat in den zehn Jahren ihres Bestehens über 80 Filme bearbeitet – vom Sandmännchen bis zum Erotikthriller. Rund zwei Drittel der Aufträge sind für Fernsehfilme und -serien, das andere Drittel kommt vom Film – oft auch vom Studio gegenüber. Babelsberg hat so seine Synergien. Von den großen internationalen Produktionen dort, speziell jenen aus Hollywood, kann Exozet nicht profitieren. Die bringen ihre eigenen Leute mit, und sie machen ihre Effekte zuhause. Weil die Studios langfristige Verträge mit den Effektfirmen haben, und weil Deutschland im Grunde ein Entwicklungsland ist, was digitale Effekte angeht. Wo in den USA die Effektleute hinzugezogen werden, bevor der erste Satz im Drehbuch steht, sollen sie hierzulande oft am fertigen Film retten, was aus Kostengründen nicht möglich war. Wo amerikanischen Studios zwei Jahre Zeit und 20 Leute für eine Szene zur Verfügung stehen, muss Olaf Skrzipczyk mit drei Leuten und sechs Monaten für viele Szenen auskommen. Dafür bekomme er oft nur den Bruchteil der transatlantischen Honorare, aber die Produktionsfirma will am liebsten alle Effekte aus der „Herr der Ringe“-Trilogie sehen, sagt er. Das sind die Momente, wo Skrzipczyk tief Luft holt, einen Schluck Wasser trinkt und dann einen hundertfach gehaltenen Vortrag über die Möglichkeiten, Grenzen und vor allem Kosten digitaler Effekte hält.

Das macht er so gut, dass ihn die Filmhochschule, das ZDF und RTL regelmäßig buchen, damit deren Studenten, Mitarbeiter und Regisseure die Effektwelt besser zu nutzen lernen. „Wir sind aufgerufen, die Industrie zu entwickeln“, sagt Skrzipczyk, dessen Firma im FX-Center im Filmpark mittlerweile der einzige Mieter ist. „Viele Unternehmen haben es nicht geschafft, obwohl sie mehr Geld hatten“, betont er, und es ist nicht nur Stolz, sondern auch Bedauern, das in seiner Stimme mitschwingt. Mitbewerber, das hieße auch, eine größere Lobby für den visuellen Effekt zu haben, mehr Bewusstsein bei den Regisseuren. Manchmal komme er sich vor wie ein Vertreter, der einen Trick zu verkaufen hat, sagt der 48-Jährige, der ausgebildeter Kameramann ist, also beide Welten kennt und das als einen einzigartigen Vorteil begriffen hat: Als Grenzgänger zwischen Kamera und Computer, als einziger Geschäftsführer einer Visual-Effects-Firma, der – in Babelsberg! – an der Kamera ausgebildet wurde, kann Skrzipczyk anders beraten, anders helfen, anders am Set agieren. In Deutschland das durchzusetzen, was in den USA, Großbritannien und mittlerweile gar in Neuseeland längst State of Art ist, das wäre sein Traum, betont er. Er wird noch eine Weile träumen müssen, obschon es an Nachwuchs nicht mangelt.

Die Technikfreaks sind ihm aber suspekt. Einen PC bedienen können heute alle jungen Digital Artists, und auch die dafür nötigen Programme kennen sie entweder bereits seit dem Studium oder sie haben sich in kürzester Zeit eingearbeitet. Dafür vermisst der Exozet-Geschäftsführer immer häufiger den Kunstverstand, denn „Digital Artist“ wird auf dem zweiten Wort betont. Als die Exozet-Leute für einen Film einen gotischen Dom bauen sollten, sah das Ergebnis toll aus. Er hatte alles, der Dom: Säulen, Türmchen, Portale – nur nichts Gotisches. Seither schult Skrzipczyk seine Mitarbeiter: Architekturstile, Künstlerbiografien, Ausstellungsbesuche, die Geschichte Babelsbergs als Filmstadt, das alles steht auf dem Curriculum. Futter für Augen und Hirn, damit die Mitarbeiter nicht nur „Digital“, sondern auch „Artists“ sind. Dass derart umfassend gebildete Mitarbeiter auch in London oder Hollywood gefragt sind, nimmt Skrzipczyk dafür in Kauf. Er hofft, dass sich diese Investitionen auszahlen; hofft auf jene noch zu seltenen magischen Momente, wenn Regisseure neue Effekte anregen, die Exozets Kreativität herausfordern, statt sich aus Skrzipczyks Bauchladen bereits gemachter Tricks zu bedienen. Dafür würde er auch Schnee zaubern, der irgendwie „gotisch“ vom Himmel fällt.

Infobox: Exozet effects

Je nach Auftragslage arbeiten zehn bis zwölf feste Mitarbeiter für Exozet effects im Babelsberger Filmpark, in Spitzenzeiten wächst das Team um Olaf Skrzipczyk (Foto: Exozet) auf 25Leute an.
Seit rund zehn Jahren sitzt die Visual-Effects-Firma im sogenannten Special-FX-Gebäude des Filmparks.
Seither ist das Unternehmen kontinuierlich gewachsen. Mit der Offenheit für Effekte bei den Produzenten haben auch die Aufträge zugenommen.
Als Spezialist für visuelle Effekte arbeitet Exozet heute vor allem mit digitaler Nachbearbeitung – aber nicht ausschließlich: Für die ZDF-Tragödie „Die Gustloff“ baute das Unternehmen ein Modell im Maßstab 1:5, das dann mit Wasser geflutet wurde. Am Computer erhielten die Aufnahmen den letzten Schliff.
Den aufwändigsten Auftrag erledigte Exozet, als sie für die ARD „Frau Holle“ bearbeiteten. Die märchenhafte Landschaft entstand nahezu komplett am Computer, die Schauspieler agierten vor blauen Wänden.

Erschienen am 02.08.2008

Schau mir in die Augen, Rechner

Freitag, 22. Februar 2002

Es hat schon etwas Magisches: Vor meinen Augen schwebt die Erde im leeren Raum. Sie beschreibt eine perfekte Kreisbahn, dicht gefolgt von einer Hupe. Mein Blick verweilt einen Moment auf der Hupe, sie kommt daraufhin meinem Auge ein Stück entgegen. Vorsichtig versuche ich, mit dem Finger darauf zu tippen. Es trötet, dann verwandelt sich die Hupe in eine Klaviatur. »Probieren sie’s ruhig!« ermuntert mich Siegmund Pastoor. Na gut. »Für Elise« erklingt – etwas holprig – aus den Computerboxen. Mein Klavierlehrer würde jetzt strafend schauen.

Der allerdings war auch noch nie in der Verlegenheit, auf einem nichtexistenten Klavier zu spielen. Von der Seite muss das recht albern aussehen: Da sitzt jemand in einem Labor des Heinrich-Hertz-Instituts für Nachrichtentechnik in Berlin vor einem Flachbildschirm und spielt mit seinen Fingern in der Luft Beethoven. Dr. Siegmund Pastoor, Projektleiter von »mUltimo 3D«, kennt den faszinierten Gesichtsausdruck seiner Besucher bereits. »Vor allem bei Männern schlägt der Spieltrieb voll durch«, erklärt er mit einem Lächeln.

»mUltimo« ist ein Kunstwort. Es steht für Multimodalität, also einen Computer, der sich auf verschiedene Arten – Modalitäten – bedienen lässt. Mindestens drei dieser »Modalitäten« sind eigene Entwicklungen: Blickverfolgung, Kopfbeobachtung und Handsteuerung, oder im besten Computerdeutsch: gaze-, head- und handtracking. Das »Ultimo« ist auch nicht ganz zufällig im Projekttitel versteckt, versuchen die Berliner Forscher doch, ganz bescheiden, ein perfekt und intuitiv bedienbares Gerät zu entwickeln.

Das Herzstück aber sind die dreidimensionalen Bilder. Hier griffen die Ingenieure teilweise auf bestehende Technik zurück, etwa den Linsenraster. »Der funktioniert wie die gute alte Wackelkarte«, erläutert der Projektleiter. Etwa eintausend senkrecht angeordnete Linsenstäbe über dem Monitor sorgen dafür, dass jedes Auge ein leicht verschobenes Bild erhält. Das Gehirn verbindet beide zu einem dreidimensionalen Objekt. Damit es das kann, sind der richtige Blickwinkel und der korrekte Abstand zum Monitor wichtig. Hier setzten Dr. Pastoor und sein Team an: Eine kleine, im Bildschirm integrierte Kamera verfolgt jede Kopfbewegung des Nutzers. Dreht er sich nach links, folgt ihm Monitor, senkt er den Kopf – etwa um zu nicken – dann nickt der motorbewegte Bildschirm ebenfalls.

Klavierspielen ist öde. Mit einem Fingerschnipps gegen die Tasten verschwindet das Instrument in den Tiefen des Raums. Die Erde war doch faszinierender. Das merkt der Computer an meinem Blick und bringt sie ein Stück nach vorn. »Hat ihn!« rief Software-Entwickler Oliver Stachel, als ich vorhin vor dem Monitor Platz nahm. Soll heißen: Das Betriebssystem hat meine Augen erkannt. Was für den Menschen eine Kleinigkeit ist, verlangt dem Computer einiges ab: Ein Gesicht als solches zu identifizieren und schließlich die Augen zu finden. »Im Zweifelsfall hilft kräftiges Zwinkern«, erklärt er. »Am Anfang konnte das Programm kaum zwischen einem Gesicht und einer Melone unterscheiden«, sagt Oliver Stachel trocken. Mittlerweile erkennt die Software Augen sogar unter verschiedenen Lichtbedingungen. Auch schnelle Kopfbewegungen bringen den Rechner nicht mehr aus dem Takt. Und hat er seinen Nutzer doch mal aus den Augen verloren, so findet er ihn in Sekundenbruchteilen wieder.

Dem System entgeht nichts. Wohin ich blicke, da passiert etwas. Suche ich Europa, so dreht sich der Globus vor mir freundlicherweise in die richtige Position. Vier Infrarotleuchten im Monitorgehäuse projizieren harmlose Punkte auf mein Auge. Anhand der Position der Pupille zu den Punkten weiß das Programm jederzeit, welchem Objekt auf dem Schirm meine Aufmerksamkeit gilt. Und es reagiert darauf, mit erstaunlicher Präzision: Höchstens um ein Grad weicht der vom Computer berechnete Blickpunkt vom tatsächlichen ab – für fast alle Anwendungsbereiche eine vernachlässigenswerte Ungenauigkeit.

Auf die andere Seite des Globus’ gelange ich nicht allein mit Blicken – die Hand muss erneut helfen. Ein leichter Fingertipp bringt die Erde zum Drehen, ein erneuter hält sie an der richtigen Stelle an. Ich bin beeindruckt, Siegmund Pastoor ist stolz: »Die Fingerverfolgung war eine der härtesten Nüsse, die wir knacken mussten.« Das Prinzip ist der Blickverfolgung ähnlich, aber wesentlich komplexer. »Die Pupille ist für den Rechner nur eine Scheibe, die sich auf wenigen Zentimetern bewegt«, so Pastoor. Die Hand aber ist stets dreidimensional und durch ihre Drehbarkeit und vielen Fingerstellungen unglaublich vielgestaltig. Harte Arbeit also für die Software-Ingenieure des elfköpfigen Teams.

Zwei Infrarotkameras – technisches Gegenstück des menschlichen Augenpaars – im oberen Teil der Tastatur ermitteln die Position der Hand im Raum. Das Betriebssystem muss nun aus den zwei Bildern die Gesten lesen. Für grobe Merkmale – geöffnete oder geschlossene Hand, Richtung der Finger – funktioniert das bereits. Es genügt, um Objekte zu aktivieren, sie zu verschieben oder ihre Größe zu ändern. Es genügt auch, unbeholfen Beethoven zu spielen oder den Globus anzuhalten. Einen virtuellen Knoten binden kann man damit aber noch nicht.

Das ist ein kleiner Nachteil der Berühungslosigkeit des Systems. Dafür muss sich niemand mehr unter Datenhelme oder in Datenhandschuhe zwängen. Virtuelle Realität findet im Heinrich-Hertz-Institut ohne Schweißperlen oder aufwändige Anpassungen an den Körper des Nutzers statt. Andererseits erzeugen die vier Kameras mit je 25 Bildern pro Sekunde auch einen gewaltigen Datenstrom, der möglichst verzögerungsfrei ausgewertet werden soll. Eigens dafür verrichtet im Technikraum ein Supercomputer seinen Dienst: Die Graphikstation Onyx 2 von Silicon Graphics ist mit rund 13 Millionen berechneter Flächen (Polygone) pro Sekunde der Wunschtraum jedes Computerfreaks.

Heißt das, der mUltimo 3D wird auf absehbare Zeit nur in den Studios professioneller Architekten und Konstrukteure zu finden sein? »Keineswegs! Einzelne Elemente wie die Kopf- und Augensteuerung lassen sich problemlos an heutigen PCs einsetzen«, weiß Siegmund Pastoor. Und da die Computer jährlich um ein Vielfaches schneller werden, könnte schon in wenigen Jahren auf den meisten Schreibtischen ein 3D-System Marke mUltimo stehen.

Bis dahin wären aber noch einige Hürden zu überwinden. Das Betriebssysteme müsste dreidimensional ausgerichtet werden, ein finanzkräftiger Hersteller in die Serienproduktion einsteigen. »Wegen der Krise in der New Economy sind die großen Firmen derzeit vorsichtig mit neuen Projekten«, musste Siegmund Pastoor erfahren. Also ergriff er selbst die Initiative und beteiligte sich an einer Ausgründung namens »PerspectiveTechnologies«. »Allerdings wird das langsam ganz schön viel«, stöhnt der rojektleiter. Koordination, Entwicklung und dann noch Vermarktung machen ihm zu schaffen. Schwer zu glauben bei einem Mann, der dafür sorgt, dass man im leeren Raum Klavier spielen und die Welt mit einem Fingerschnipps zum Stehen bringen kann.


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