Provokanter Brückenbauer

Gedenken: Bob Bahra erinnert an die Toten der Hinterlandmauer/Vor der Ostalgie hat er längst kapituliert

Mauertote sind für Bob Bahra nicht nur die an der Grenze Erschossenen – auch still Gestorbene zählt er zu den Opfern

POTSDAM Die Idee, Ostalgie-Kurse für all jene anzubieten, die der DDR keine Träne nachweinen, gefällt ihm. Da könnten die Teilnehmer ostalgisches Argumentieren lernen: „Wenn sie etwa die Titelseiten der DDR-Zeitungen vom Tag des Mauerbaus in den Händen halten und beim Lesen erschüttert denken: ,Um Gottes Willen, was für Lügen, was für eine Sprache, was für ein Betrug!’, kann der ostalgisch Geschulte antworten: ,Ja, aber schau, die Zeitung kostete nur 15 Pfennig!’“
Bob Bahra provoziert gern, vor allem, wenn er resigniert ist. Die Resignation liegt hier auch räumlich nahe: Bahra steht am Potsdamer Ufer des Griebnitzsees, wo das von ihm gegründete „Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte im Land Brandenburg“ im November ein Holzkreuz am letzten verbliebenen Mauerabschnitt aufstellte und mit einer kleinen Tafel an die Toten erinnert. Der Grafiker Bahra, der in der DDR wegen Regimekritik zweimal im Gefängnis saß, informiert die Presse über eine weitere Veranstaltung: Von 17 bis 20Uhr werden an diesem 13. August Schauspieler, Pfarrer und Autoren Texte verlesen – Grußworte, Erinnerungen, Tagebucheinträge, Protokolle – um an die 17 Menschen zu erinnern, die auf diesem Abschnitt der Hinterlandmauer zwischen Wannsee und Sacrow gestorben sind.
Bahra, 66, mit Rauschebart und immer in Bewegung, geht keinem Streit aus dem Weg, doch er streitet auf eine eigene, versöhnliche Art. Während er am Mauerrest darüber spricht, dass man ehemaligen Stasi-IM die Hand geben müsse – „Wer, wenn nicht wir?“ – mischt sich eine Radlerin ein, die das Gespräch mit anhörte. Unter den IM seien so schlimme Menschen gewesen, dass sie diese Haltung nicht verstehen könne, sagt sie. Doch Bahra lässt sich nicht beirren. „Das ist doch Quatsch“, entgegnet er sanft. Überzeugen kann er die Frau nicht, aber zum Gedenken an die Mauertoten verspricht sie zu kommen.
Mauertote sind für den Michendorfer nicht nur die an der Grenze Erschossenen. Er rechnet auch jene Toten hinzu, die sich wegen des Eingesperrtseins in der DDR das Leben nahmen, dazu Menschen, die in Folge der Grenzkontrollen an einem Herzinfarkt starben, ja sogar den 14-Jährigen, der 1990 beim Pickern an den Mauerresten von einem Segment erschlagen wurde.
Die scheinbar einfachen Wahrheiten über den Umgang mit der DDR sind Bahra suspekt. Für die Aufregung etwa, wenn wieder eine Studie herausfindet, dass ostdeutsche Schüler ein verklärtes Bild von der DDR haben, hat er Verständnis. „Man kann doch nicht sagen, die Leute würden heute verdrängen“, sagt er, „sie haben damals verdrängt!“ Die DDR sei eine einzige Verdrängung gewesen. „Wir haben alle nicht hingeguckt und die Schnauze gehalten. Selbst im Mai 1989 haben noch 95 Prozent freiwillig Honecker gewählt – dabei wäre niemand bestraft worden, der nicht zur Wahl ging.“
Vor der Ostalgie hat er längst kapituliert. Nur manchmal macht er sich noch den Spaß und sprengt ostalgische Runden, in dem er so lange mittut und übertreibt, bis den Ostalgikern ihre Verklärung offensichtlich wird – oder werden müsste. Opfer sind für Bahra aber beide Bevölkerungsgruppen: diejenigen, die noch immer im Schatten der Mauer leben, die Linkspartei als Mauerpartei bezeichnen und keinen Ex-SED-Mann je grüßen würden ebenso wie jene Ostalgiker, deren DDR sich offenbar in Trabi, Club-Cola und kostenloser Kitabetreuung erschöpfte. Der Schatten der Mauer, sagt er, liegt noch immer über dem Land.
Deshalb, und um der Toten zu gedenken, kämpft Bahra um das Mahnmal am Griebnitzsee-Ufer, auch wenn es wohl nie unter Denkmalschutz gestellt werden wird und die Stadt Potsdam es am liebsten weg hätte, wie er sagt. Eine Bank direkt gegenüber fehlt seit einigen Tagen. Bahra hat das Grünflächenamt im Verdacht. Nur die aufgeworfene Erde kündet davon, dass dort ein städtisch gepflegter Platz zum Verweilen war. Dass Ministerpräsident Matthias Platzeck in seinem Grußwort den Erhalt des Mauersegments fordert, ist da willkommene Schützenhilfe, denn das Denkmal, das streng genommen sogar illegal dort steht, sei ein „notwendiger Pfahl im Fleisch“, der beweise, dass jedes Idyll bedroht ist. Dass viele Touristen und Spaziergänger anhalten, begeistert Bahra. Motiviert, es zu pflegen, wurde Bahra durch einen Schreck: Den Schreck, festzustellen, dass 15 der 17 Toten an diesem Mauerabschnitt aus seiner Generation waren.
Was die entidealisierende Wirkung der improvisierten Gedenkstätte angeht, macht sich Bahra dennoch wenig Hoffnungen: „Wenn ich jungen Leuten erzähle, was hier war, und ihr Opa erzählt, er hatte ein schönes Leben in der DDR, kann ich nicht sagen, das hatte er nicht. Das dürfen wir nicht, aber wir dürfen Ostalgie vermiesen durch Stätten wie diese. Den Rest muss man aussitzen.“
In solchen Momenten ist die Provokation nicht weit, und sie kommt zuverlässig, wenn er nachschiebt, dass „in der normalen brandenburgischen Familie 1932 das letzte Mal frei gedacht wurde“ – sei es nun durch Hirnwäsche, Resignation, freiwilligen Verzicht oder Abgeschnittensein von Information. In diesem Augenblick ist Bahra von dem Brückenbauer, der er gern wäre und oft ist, meilenweit entfernt. Es geht auch versöhnlicher: Dass er heute mit der Regierung telefonieren und mit ihr in vielen Punkten einig sein kann, ist für ihn immer noch ein „unglaubliches Gefühl“. Auch 20 Jahre nach dem Fall jener Mauer, an die sein Verein heute erinnert.

Info-Box: Mauer-Opfer
Von 1303 Toten an der Mauer geht das private Berliner Mauermuseum nach neuesten Schätzungen aus.
Das sind 58 Tote mehr als noch vor einem Jahr geschätzt.
Die Zahl fällt höher aus, weil aus der Zeit vor dem Mauerbau mehr Opfer an der innerdeutschen Grenze ermittelt wurden, sagt Museumsleiterin Alexandra Hildebrandt.
Allein für die Berliner Mauer geht das Museum nun von 289 Opfern aus, von denen 67 vor dem Mauerbau am 13. August 1961 starben.
Alle Angaben sind allerdings noch Schätzungen.
Über die Gesamtzahl wird seit Jahren gestritten, weil es zu keiner Einigung kommt, welche Erfassungs- und Bewertungskriterien gelten.
Das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung etwa ermittelt für die Berliner Mauer lediglich 136 Tote.

Erschienen am 13.08.2008

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