Archiv für die Kategorie „Potsd. Tageszeitung“

2010 – was kommt!

Donnerstag, 31. Dezember 2009

Satire: Freiland wird besetzt, die Uferwege befreit und der Bahnhof verschwindet im Pflasterhagel

Unter dem Titel „Was bleibt“ glossiert die MAZ die Themen der Woche. Zum Jahreswechsel wagen wir einen nicht wirklich ernsten Blick voraus: Was kommt?

Das neue Jahr beginnt mit der Besetzung des „Freiland“-Geländes an der Friedrich-Engels-Straße durch seine künftigen Nutzer: zum einen, weil die Stadt mit dem Projekt über allem Workshoppen nicht in die Puschen kommt, zum anderen, weil das Besetzen soziokultureller Usus ist. Quasi eine Form von Traditionspflege, auch wenn die Vokabel „Tradition“ bei autonomen Selbstverwaltern nicht wohlgelitten ist. Was wäre schon ein „Freiland“, wenn es von der Stadt legal zur Verfügung gestellt würde? Ein Unfreiland, eine Manifestation obrigkeitsstaatlicher Gewalt, eine verordnete Gummizelle zum Austoben, damit die Soziokultur den Mainstream unbehelligt lasse – kurzum: eine Frechheit. Also besetzen!
Mit einer Tradition bricht hingegen der Schlaatz: Der Integrationsgarten brennt diesmal Silvester nicht ab, was für dessen Nutzer und die Polizei eine hervorragende, für Lokalpolitik und -presse aber eine schwierige Neuigkeit ist: In der nachrichtenarmen Zeit nach Neujahr bleiben daher einige Zeitungsspalten und Sendeminuten ungefüllt, und auch die rituellen Betroffenheitsbesuche der Politik vor Ort müssen ausfallen.
Doch das Jahr kommt auch so in Gang. Baubeigeordneter Matthias Klipp kann getrost auf den Einkauf einer Jahresration Shampoo verzichten, da ihm der Oberbürgermeister ohnehin regelmäßig den Kopf wäscht – spätestens, wenn der grüne Klipp Potsdam komplett zum verkehrsberuhigten Bereich erklärt (Februar), die Humboldtbrücke nur noch für Radfahrer zulässt (März) und die Tiefgaragen abreißen lässt (April bis Dezember). Flankiert wird er von „Mitteschön“, die den neuen Gestaltungsrat feindlich übernehmen und jeden B-Plan, in dem die Worte „Rekonstruktion“, „Knobelsdorff“, „Barock“ und „sklavisch genau“ vergessen wurden, von vornherein unter größtmöglicher Öffentlichkeitswirksamkeit ablehnen. Der Bauausschuss fühlt sich daraufhin ein wenig überflüssig, was eine leise Depressivität zur Folge hat: Erstmals seit der Wende werden einzelne Vorlagen nach nur 30-minütiger Debatte ohne große Änderungen zum Beschluss empfohlen. In der Alten Mitte legt Klipp zudem ein Tempo vor, dem der Ausschuss ohnehin nicht folgen kann.
Auch der leidige Pflasterstreit erledigt sich von selbst: Es gibt bald keines mehr, weil sich die Freiland-Besetzer der Steine als Wurfgeschosse bedienen, da ihrer Besetzung zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Sie bewerfen den nahe gelegenen Bahnhof mit seinem toten S-Bahngleis und das daneben entstehende Wohngebiet. Die Empörung ist jedoch gering, da beides ohnehin als städtebauliche Katastrophe gilt und viele Potsdamer heimlich sympathisieren.
Dank des heimlich angesammelten Überschusses im Haushalt, den Bürgermeister Burkhard Exner nach hochnotpeinlicher Befragung auf zirka 73 Millionen Euro schätzt, lassen sich die Griebnitzsee-Grundstücke vom Bund kaufen, die Sperranrainer knicken ein vor der Gewalt eines fehlerfreien B-Plan-Entwurfs und der ganze Uferweg ist nun wieder von Spaziergängern besetzt.
Und sonst? Ach ja, die Oberbürgermeisterwahl. Sie geht diesmal ausnahmsweise knapp aus. Dem Linken-Kandidaten Hans-Jürgen Scharfenberg fehlt am Ende exakt eine Stimme, um Amtsinhaber Jann Jakobs zu schlagen. Es ist die seines Noch-Immer-Partei- und Ex-Fraktionsgenossen Pete Heuer. Alternativ hätte es auch genügt, wenn jemand von den Freiland-Besetzern zur Wahl gegangen wäre. Doch die waren ja mit Schmollen ausgelastet.

Erschienen am 31.12.2009

Was bleibt: Nebenerwerbe

Donnerstag, 3. Dezember 2009

Nun, da die Stadt dem Antikorruptionsverein Transparency beitreten will, müssen die Stadtverordneten ihre Haupt- und Nebeneinkünfte offenbaren. Das ist eine hübsche Sache, denn so erfahren wir, dass der Oberbürgermeister offenbar keinen Zweitjob hat und Groß Glienickes Ortsvorsteher Peter Kaminski nicht nur in Sachen Uferweg, sondern auch zum Broterwerb im Beschwerdemanagement tätig ist. Mindestens ebensoviel Einsicht verspräche es, wenn auch hochrangige Verwaltungsmitarbeiter sich auf diese Weise entäußerten. So würden wir uns nicht wundern, falls der Stadtplanungschef mit CDs und psychologischen Testverfahren seine kärglichen Beamtenbezüge aufmöbelte: Andreas Goetzmann ist ja einer, der auch in freier Rede zuwendungsbescheidreif formulieren kann, und er macht von dieser Fähigkeit hinreichend Gebrauch, gern mal untersetzt mit einer launigen Powerpoint-Präsentation, die mit kleinteiligen Tabellen und Zahlen so gespickt ist, dass selbst Adleraugen nach wenigen Minuten tränen. Wenn er zuvor dem Kaffee über die Maßen zusprach, bastelt Goetzmann auch mal eine neckische Illustration hinein: dann greifen die verschiedenen Faktoren bei der Standortanalyse zur Frage Sportbad oder Freizeitbad in lustige Zahnrädchen gesetzt ineinander. Auf seine Zuhörer hat dies einen außerordentlich ermüdenden Effekt, so dass sich in psychologischen Tests die Goetzmann-Minuten mittlerweile zum internationalen Standard für Aufmerksamkeitsdauer gemausert haben. Lediglich subalterne Mitarbeiter der Bauverwaltung und regelmäßige Besucher des Bauausschusses erreichen auf dieser Skala Spitzenwerte („Wahnsinn! Zwölf Goetzmann-Minuten! Haben Sie trainiert?“).
Dann wären da noch jene Selbsthypnose-CDs, die unter dem Label „Entschlummern mit Andy“ die schönsten Referate des Stadtplaners zu Bäderstandort, Entwicklungs- und Ergänzungskonzepten oder planungsrechtlicher Einordnung auf nur einer Silberscheibe versammeln. Ein Geschenk, das gerade in dieser, zur Besinnlichkeit angelegten Jahreszeit, jeden Gabentisch ziert. Besonders imponiert Goetzmanns Fähigkeit, fast ohne Senken oder Heben der Stimme eine 30 Folien umfassende Präsentation durchzuziehen und nicht mal am Ende den Stimmbändern Freilauf zu gewähren.
Seine baufachliche Befähigung bildet dessen ungeachtet die Kernkompetenz des Stadtplaners, vor der die Zweittalente im Zuge einer umfänglichen Gesamtschau verblassen. Das sieht auch sein Chef Matthias Klipp so, obgleich er kürzlich äußerte, wegen des städtebaulich verunglückten Bahnhofscenters demnächst ernste Fragen an seine führenden Mitarbeiter zu richten. Sollte dort der Konfliktfall eintreten, hat der noch beruflose Oberbürgermeister sicher Zeit, schlichtend einzugreifen. Oder er schickt den Kollegen Kaminski vor. Sie wissen schon: Beschwerdemanagement.

Erschienen am 03.12.2009

Rasen für die Stadtkasse

Dienstag, 24. November 2009

Jan Bosschaart hat ein paar Vorschläge, um das Bußgeldaufkommen zu steigern

Es gibt Radeln fürs Klima, Rauchen gegen den Terrorismus und Trommeln für den Weltfrieden. Dieser Gutmenschen-Olympiade könnte man längst die Disziplinen Falschparken für die Kommunalfinanzen und Rasen für die Stadtkasse hinzufügen. Immerhin verdient Potsdam rund 1,6 Millionen Euro pro Jahr mit Knöllchen und Blitzbescheiden. Das Perfide an diesen Formen moderner Wegelagerei und an den überteuerten Porträtfotos mit miserablen Abzügen ist, dass den vermeintlichen Abzockern nicht nur Recht und Gesetz, sondern auch das Gemeinwohl als unüberwindliche Argumentationshilfe zur Verfügung stehen. Da bleibt dem ordnungswidrigen Bürger nur, die Wut in ein Magengeschwür zu wandeln. Konsequenterweise sollten aber Spendenquittungen ausgestellt werden, wenn jemand zum Beispiel regelmäßig auf dem Bordstein parkend oder durch die Tempo-30-Zone rasend seiner Bürgerpflicht nachkommt. Auch Titel wie „inoffizieller Sponsor der Landeshauptstadt Potsdam“ würden das Engagement sicher noch steigern können, damit das leidige Haushaltssicherungskonzept endlich obsolet wird. Denn eines, liebe Bußgeldstelle, sollte doch glasklar sein: Wenn wir alle mal für einen Tag in den Ordnungswidrigkeits-Streik träten und korrekt parkten, wäre bei Euch ein Heulen und Zähneklappern.

Erschienen am 24.11.2009

Der Kevin der Jahreszeiten

Samstag, 21. November 2009

Jan Bosschaart hat Mitleid mit dem ungeliebten Winter, auch wenn er bald einbricht

Die von allen verweilenden Jugendlichen bereinigten Bushaltestellen und das immense Aufkommen suizidaler Eisdielenbesitzer lassen keinen Zweifel zu: Der Winter steht vor der Tür. Und weil niemand, der die Musik des Wortes „Cabrio“ kennt oder lauen Sommerabenden auch nur einen Hauch abgewinnen kann, diese Tür je freiwillig öffnen würde, bricht der Winter dem Sprachgebrauch zufolge irgendwann ein – ein ungebührliches Verhalten, dass sich Frühling, Sommer und Herbst nie leisten würden, ja auch gar nicht müssen, denn sie sind meist wohlgelitten. Der Winter hingegen ist das Problemkind unter den Jahreszeiten, er wurde vermutlich früh verhaltensauffällig, woraufhin sich ein jeder abwandte, was einen fatalen Kreislauf in Gang setzte: Um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu bekommen, trommelte der Winter – hätte er einen Vornamen, er müsste wohl Kevin lauten – mit Eis, Sturm und Hagel an die Fenster. Doch die Menschen, für seine Hilferufe blind, mochten ihn danach noch weniger. So harrt er nun, zwischen Wut und Resignation pendelnd, drei, vier Monate seines Endes, bevor der Frühling sanft sprießt oder wahlweise leise hereinweht. Er hat es ja auch leicht, der alte Angeber. Ihm stehen die Herzen offen.

Erschienen am 21.11.2009

Dünnschiss auf dem Jakobsweg

Donnerstag, 19. November 2009

„No jokes on names“ – keine Witze über Namen, sagt der Engländer. Es ist zugleich eine journalistische Grundregel geworden, die eigentlich nur die anarchistische TAZ brechen darf („Castro nicht mehr fidel“, titelte sie angesichts der Erkrankung von Kubas Staats-Chef). Schade eigentlich, denn das enthebt uns einiger schöner, bunter Möglichkeiten, auf niedrigem intellektuellen Niveau das Thema Uferweg am Griebnitzsee zu kommentieren. Als da wären: das Stolpern der Stadt zum freien Weg – nach ihrem Oberbürgermeister – als Jakobsweg zu bezeichnen. Oder der Potsdamer CDU, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach offenen Wegen und den Eigentumsbegriffen ihrer Kernwählerschaft, nach ihrem Babelsberger Vorsitzenden Hans-Wilhelm Dünn, Schiss zu unterstellen. Oder die Differenz zwischen dem Preis, den der Bund gern für einen Quadratmeter Uferland am Griebnitzsee hätte und der Summe, die die Stadt nun dafür zahlt, nach ihrem Bürgermeister als „ein Exner“ zu bezeichnen. Ein Exner wäre demnach 32,50 Euro wert. Auch können wir dank der unschönen Regel nun nicht behaupten, im Behördendeutsch habe sich für das preisliche Über-den-Tisch-Ziehen bei solchen Verkäufen das Verb „krusemarken“ geprägt – nach der Chefin des Rechtsamtes und Hauptunterhändlerin der Stadt. „Der wurde aber schwer gekrusemarkt“, wäre gerade für Haushaltsverhandlungen eine hübsche Formulierungshilfe. Geht aber leider nicht; schade, schade. Das Leben ist halt kein Kirschgarten. Noch schwerer wiegt, dass die ablehnende Haltung der FDP/Familienpartei in der Uferwegfrage – die Fraktion hätte von den nötigen 2,6 Millionen Euro lieber Radwege gebaut – nun auch nicht als ein ziemliches Utting gebrandmarkt werden darf – obgleich Brian Utting genau diese Begründung an die Medien übermittelte. Vielleicht sollte sich der Baubeigeordnete mal Klipp und klar davon distanzieren, oder, etwas TACKtvoller, die scheidende Bauausschuss-Chefin.. Autsch, das war jetzt wirklich unterste Schublade, zugegeben.
Rettung aus dieser verfahrenen Lage bietet dann ganz unverhofft jenes journalistische Lehrbuch, das erklärt – wir zitieren aus lauter Freude nahezu wörtlich – eine Ausnahme von der Regel bestehe lediglich für Glossen, denn die Glosse dürfe nicht nur alles, der Bruch mit allen Regeln sei geradezu ihr „Wesenskern“. Also jetzt bitte kein Jäkeln mehr! „No jokes on names“ hat seine Berechtigung, doch ist es gut, dass es das „Was bleibt“ gibt. So lassen sich die Regeln auch mal austricksen, Verzeihung: krusemarken.

Erschienen am 19.11.2009

Im Brennpunkt der Geschichte

Montag, 9. November 2009

Mauerfall: Potsdam erinnerte vielerorts an den 9. November / Villa Schöningen eröffnet

Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls kamen Gorbatschow, Kissinger, Genscher und die Bundeskanzlerin in die Villa Schöningen. Am Griebnitzsee liefen Bürger den einstigen Grenzstreifen ab.

Niemand wurde geschont an diesem Abend. Nicht einmal Hausherr und Springer-Vorstand Mathias Döpfner. „Sagen Sie mal, wo arbeiten Sie eigentlich?“ schallte es aus dem Pulk der Kameraleute und Fotografen, die darüber verärgert waren, dass Döpfner, der rund zwei Meter misst, mit seiner imposanten Erscheinung Angela Merkel beim Signieren eines Mauerstücks vor der Villa Schöningen glatt verdeckte. Sie als Medienprofi, sollte das heißen, müssten es doch besser wissen – zumal wegen galoppierender Platznot angesichts von 500 hochkarätigen Gästen ohnehin kaum ein Journalist Zugang zu den Hallen erhielt, in denen ab heute ein Museum über die Glienicker Brücke, den Agentenaustausch, die Mauer und die wechselvolle Geschichte der Villa allen Interessierten offen steht.
Es war wohl die größte Ansammlung politischer Prominenz in Potsdam seit der Potsdamer Konferenz: Zur Eröffnung kamen nicht nur die Bundeskanzlerin und Außenminister Guido Westerwelle, auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger und der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow sowie Polens Außenminister Radoslaw Sikorski signierten das Mauerstück und verschwanden dann in der hoffnungslos überfüllten Villa, flankiert von der Spitze der deutschen Medien-, Kultur- und Wirtschaftsprominenz. Die Kanzlerin war gar mit vereinzelten „Angie“-Rufen begrüßt worden, die Friedensnobelpreisträger Kissinger und Gorbatschow ernteten Applaus von zahlreichen Schaulustigen in der Schwanenallee.
Während sich der 86-jährige Kissinger in seiner Rede vor allem der bedeutenden Zeit, in der er amtierte – und damit seiner eigenen Bedeutung – vergewisserte, Angela Merkel das private Engagement Döpfners für das Museum lobte und über die Rolle der Glienicker Brücke reflektierte, erntete der polnische Außenminister den größten Beifall: Er habe beim Feiern auf der Mauer 1989 gemischte Gefühle gehabt, bekannte Sikorski: Einerseits habe er sich über das Ende des Kommunismus gefreut und andererseits ein wenig vor dem vereinten Deutschland gefürchtet. Doch das sei unnötig gewesen, heute leite die Bundesrepublik als „einflussreichstes Land Europas“ durch gutes Beispiel. „Es gelang gemeinsam“, sagte Sikorski auf deutsch, auch auf die Leistungen der polnischen Solidarnosc-Gewerkschaft anspielend.
Die Museums-Eröffnung war nicht das einzige Ereignis, das am Vorabend des 20. Jahrestags an den Fall der Mauer erinnerte. Am Mauerstück in der Stubenrauchstraße trafen sich auf Einladung der Fördergemeinschaft Lindenstraße mehr als 100 Potsdamer, um die „wichtigste Meile der Nachkriegsgeschichte“, wie Bob Bahra in seiner Begrüßung sagte, abzuwandern. Das „grellweiße Monstrum, das unser Leben auf Jahre verschattete und verdunkelte“ (Bahra) war der Ausgangspunkt für die rund einstündige Wanderung am Griebnitzseeufer entlang, die nur von gesperrten Ufergrundstücken unterbrochen wurde. Mit vorneweg marschierte Linken-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg. Im Treffpunkt Freizeit berichteten Zeitzeugen, wie sie die Wendezeit erlebten – vom jungen Mann, der noch am 1. November in die NVA eingezogen wurde und bis zum 31. Dezember gar keinen Ausgang bekam, bis zur Westberliner Studentin, die flugs ihren Traum verwirklichte, einmal unter dem Brandenburger Tor zu stehen. Die Kinder und ihre Eltern hörten gebannt zu.

Erschienen am 09.11.2009

Hochhängende Trauben

Dienstag, 27. Oktober 2009

Jan Bosschaart über einen Erfolg, der sich ganz schnell rächen kann

Nicht nur die familienfreundlichste Stadt Deutschlands ist Potsdam und jene mit den höchsten Mieten, jetzt haben wir auch noch die besten Taxis. Potsdam, Stadt der Superlative. Die Liste ließe sich fortsetzen: Die oppositionellste Linke, der geschlossenste Uferweg, die spendabelsten Star-Einwohner drängen sich geradezu auf. Doch auch da ist es, wie es mit den Taxen ist: Der Titel allein zählt wenig, es lohnt ein Blick aufs Detail. Der zeigt dann eher, dass die Mietkutschen in Potsdam im Durchschnitt ganz ordentlich sind, wie in vielen anderen Städten auch. Prestigeträchtige Titel indes können schnell zum Fluch werden, weil sie die Erwartungen in den Himmel heben. Wer mit dem Test im Hinterkopf auf einen jener typischen Taxilenker trifft, die mit bodenständig-märkischem Charme dem Fahrgast beim Kofferverladen zusehen, bevor sie ihn mit einem sanft gebrüllten „mit den Döna aba nich ufft Polsta“ freundlich zurechtstutzen und die beim Bezahlen gezogene Kreditkarte mit den Worten „so’n Kram nehmwa nich“ zart zurückweisen sowie auf den ersatzweise beschafften 50-Euro-Schein mit „kannick nich wechseln“ reagieren, wird Potsdam in wenig guter Erinnerung behalten. Ohne den Test würde er es hingegen als ganz normalen Wahnsinn verbuchen. In diesem Sinne, liebe Taxifahrer: Die Trauben hängen jetzt vadammt hoch!

Erschienen am 27.10.2009

Schade eigentlich!

Mittwoch, 30. September 2009

Schade eigentlich, dass die Wahl schon wieder vorbei ist. Man hat so gar nichts gemerkt davon. Erste freundliche Menschen machen sich bereits daran, die inhaltsleer grinsenden Kandidatengesichter von den Laternenmasten zu schälen. Manchem Mandatsbewerber ist das Grienen im Laufe des Sonntagabends ohnehin vergangen, und das überhebliche Feixen der Sieger will auf die Dauer erst recht niemand sehen. Es erinnert den Bürger zu schmerzlich daran, dass die Freude beim Kreuzen kurz und die Reue beim Regiertwerden lang ist. Passend zur politischen Stimmung hat sich mit der großen Koalition auch der Sommer verabschiedet. Jetzt ist es kalt in Deutschland, dunkel und grau, das Leben fällt von den Bäumen. Sagen jedenfalls die Verlierer. Die Gewinner hingegen versprechen mehr netto als brutto, frische Atomkraftwerke und einen festen Platz der Türkei in der Arabischen Liga – statt in der EU. Im Land haben es zumindest die Grünen wieder in den Landtag geschafft – wenn auch nur in die Opposition. Sie werden sich wohl vergeblich am Ausstieg aus der Kohle aufreiben, statt sich um das Problem zu kümmern, das die Landeshauptstädter wirklich bedrückt: die immens wachsende Zahl von Riesenjeeps in Potsdam, die trotz Klimawandels und Abwrackprämie täglich um zehn Exemplare zuzunehmen scheint. Vorsichtigen Schätzungen zufolge verlängern diese in der Stadt völlig sinnfreien Cayennes und Qashqais den ohnehin nervigen täglichen Stau um den Faktor zwei und die Parkplatznot in der Innenstadt sogar um den Faktor drei: Weil die rollenden Kompensationsmechanismen zwei Parkplätze brauchen und der Fahrer sich qua gesellschaftlichem Status und Geldbörse den albernen Linien, die den Parkplatz begrenzen, ohnehin nicht verpflichtet fühlt. Er steht außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams und daher auch der Verkehrsregeln, und auch den Treibhauseffekt kommentiert er eher schulterzuckend mit: „Was kümmert mich Euer Klimaelend? Wenn die Ostsee dereinst bis Berlin reicht, weil Holland als Vorfluter untergeht, kaufe ich mir halt eine Finca im südamerikanischen Hochplateau.“ In solchen Momenten gewinnt dann die Idee an Charme, die Abgase aller Autos mit mehr als 300 Milligramm Kohlendioxidausstoß zur Vorklärung zunächst durch den Innenraum des Fahrzeugs zu leiten und den Lenker als Biofilter zu benutzen. Wird sich aber natürlich mal wieder nicht durchsetzen, diese grandiose Idee, weil die Grünen mal wieder Mopsfledermäuse schützen. Oder, wie in Potsdam, mit der Errichtung eines gesamtstädtischen Freilichtmuseums befasst sind. Schade eigentlich.

Erschienen am 30.09.2009

Rumpelnde Wahlwerbung

Donnerstag, 24. September 2009

Politik: Grüne und Linke chauffierten den Wähler mit Straßenbahnen durch die Stadt

Gute Laune, quietschende Bremsen: Grünen-Bundeschefin Claudia Roth und Landtagskandidaten der Linken waren auf Tour.

POTSDAM |  Es herrscht nicht wirklich Gedränge an diesem Dienstagabend, auch wenn am Hauptbahnhof jedes zweite Plakat für „Straßenbahnfahren mit Claudia“ wirbt. Das mag daran liegen, dass Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, mit satten zwei Stunden Verspätung in die historische Gotha-Bahn steigt. Selbst der Ruf „Bis Platz der Einheit, kostenlos!“, von eifrigen grünen Parteigängern in die kühle Nacht gerufen, verhallt nahezu ungehört. Nur eine Gruppe Schwaben, die eigentlich in eine andere Richtung wollte, steigt der Landsfrau zuliebe ein. Und Harri. Harri trägt Leggings mit Tigerdruck, Gummischuhe und eine Art Nachthemd unter einer Sportjacke, seine Habe fährt er in einem ausgedienten Kinderwagen vor sich her: Decke, Bierflaschen, Leergut. Er steige ein, weil er auf Verpflegung und ein warmes Plätzchen hoffe, sagt er. Letzteres kann ihm die Tatrabahn bieten, ersteres nur bedingt: Wasser und Weintrauben schenken die Grünen aus, eine Mischung, von der Harri sagt: „kriechick Dünnsch… von“. Mit dieser Haltung steht er schnell allein. Die Grünen sagen, es wäre wegen des Geruchs.
Indes hat Claudia Roth, die auch nach einem langen Tag, der um 7 Uhr mit vier Tassen Kaffee und einer Parteiklausur in Nürnberg begann, recht munter wirkt, das Mikrofon der Straßenbahn ergriffen und freut sich zunächst, dass Schwaben an Bord sind: „Wenn’s was umsonst gibt, da fahrt’s schon mit, gell?“ frotzelt sie. Die Stimmung bleibt auch gut, als Roth sagt, in Ostdeutschland hielten viele die Grünen für einen Luxus, den man nur in guten Zeiten wählen könne, weil sie sich um Mopsfledermäuse und Gräser kümmerten. Was natürlich so nicht stimme. Es sei höchste Zeit, sagt sie, dass die Mark grüner würde, den abtrünnigen Parteigänger Platzeck müsse man an seine frühen Ziele mahnen, und Kohle sei nun wirklich keine Zukunftsenergie. Sie beklagt die „Ausschließerei“ im Bundestagswahlkampf, schließt aber im selben Satz die „Jamaika-Koalition“ aus und erzählt, dass Trams schon als Kind für sie das Größte waren. Am Platz der Einheit befragt Roth den Zugführer zu technischen Details, Harri indes steigt aus; er ist an diesem Abend kein Grünen-Wähler geworden. „Die kommt also mittn Fliega und ’n Auto und will mia watt über Ökolojie erzähln“, sagt er im Fortgehen, den Kinderwagen vor sich her schiebend. Claudia Roth muss indes mit dem Bus weiter nach Rostock. 25000 Kilometer legt sie in neun Wochen Wahlkampf zurück. „Das geht mit dem Fahrrad nunmal nicht“, stöhnt sie.
Weniger gehetzt und bester Laune drehen zwölf Stunden später die Linken eine Runde durch die Stadt. Landtagskandidatin Anita Tack hat eingeladen, Hans-Jürgen Scharfenberg und Bundestagskandidat Rolf Kutzmutz sind mit an Bord der diesmal knallroten Tatra. Als verkehrspolitische Sprecherin hat Tack die Straßenbahn als Wahlkampfmobil erwählt, als Kämpferin für eine Wiederbelebung des Bahnhofs Pirschheide das Fahrziel festgelegt. Und die Lieblingsforderung der Linken, den kostenlosen Schülerverkehr, kann sie so auch noch zwanglos anbringen.
Von Harri keine Spur, doch es hätte ihm gefallen: Es gibt starken Kaffee und handfeste Brötchen. Als dann auch noch sechs Kinder mit zwei Erziehern auf dem Weg zur Kita „Firlefanz“ zusteigen, ist der Wahlkampftraum nahezu perfekt. Die Jüngstwähler sind an verkehrspolitischen Fragen zwar eher desinteressiert, nehmen Bonbons und Luftballons aber gern an. Auch die weitere Klientel ist dankbar: Eine ältere Dame kommt nun schneller zur Apotheke, ein älterer Herr rechtzeitig zum Arzt: „Janz tolle Idee“, lobt er. An jeder Haltestelle tobt ein Junglinker heraus, um Wahlplakate über die Fahrpläne zu kleben. Einmal wäre die Bahn fast ohne ihn weitergefahren, doch die resolute Anita Tack lässt stoppen: „Die Linke vergisst keinen“, sagt sie, als ihr Helfer wieder an Bord ist.

Erschienen am 24.09.2009

Versehrt an Körper und Seele

Dienstag, 8. September 2009

Bildung: DDR-Dopingopfer berichtet am OSZ „Johanna Just“ aus seinem Leben

Dass mancher die DDR nicht unbeschadet am Charakter überstand, hatten die Schüler schon gehört. Bernd Richter erweiterte ihr Wissen ins Körperliche.

POTSDAM | Anschaulicher kann Geschichtsunterricht kaum sein. „So wie ich hier sitze, bin ich ein Produkt der DDR“, sagt Bernd Richter gleich zu Beginn.
Er meint damit nicht nur, wie das Land, in dem er aufwuchs, seinen Charakter prägte, sondern auch und in erster Linie seinen Körper. Einen Körper, der fast alle Knorpelmasse abgebaut hat, der unter einer schweren Gerinnungsstörung des Blutes leidet, mit Embolien und Thrombosen kämpft und zeitweise nur durch Morphium vom Druck der Schmerzen entlastet werden kann. Er hat sich wirklich nichts dabei gedacht, sagt Richter, und die Schüler des Oberstufenzentrums (OSZ) „Johanna Just“ in der Berliner Straße glauben es ihm, als er, der begabte Sportler, der familiären Problemen auf dem Sportplatz davonlaufen oder sie mit dem Diskus und dem Hammer von sich werfen konnte, in der Sportschule „Vitamintabletten“, „Eiweißpillen“ und „Spezialessen“ angedient bekam.
Es war Anfang der 70er Jahre, Richter war erst in der 9. Klasse und gerade in die Jugend-Nationalmannschaft gekommen – der Begriff Doping war noch nicht etabliert. Dass dem 15-Jährigen Brüste wuchsen, wurde mit dem „vermehrten Schwitzen“ beim Sport erklärt, wie auch andere hormonelle Probleme, die er lieber nicht vor den 18- und 19-jährigen Zuhörern, überwiegend Frauen, erzählt. „Was wir da bekommen haben, war noch nicht mal für Tierversuche zugelassen“, weiß Richter heute.
Es war ziemlich still in der Aula, als Richter seine Erzählung begann. Eingeladen hatte Bildungsminister Holger Ruprecht (SPD), der gestern auf „Kreistour“ war und nach einem empörten Brief einer Gymnasiastin, die DDR-Geschichte käme in Brandenburgs Schulen zu kurz, beschloss, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen: Bereits zum 21. Mal trat der Minister in Sachen DDR-Geschichte nebst einem weiteren Zeitzeugen auf. Doch die recht glatt und glücklich verlaufene Vita des Ministers verblasst neben der brüchigen des Gastes: Die Dopingerfahrung war erst der Anfang.
Als er kurz darauf nicht nach Kuba zu einem Wettkampf reisen durfte, beschloss der 17-Jährige, über Ungarn und Jugoslawien in den Westen zu fliehen. Von einem Freund verraten, wurde er in Jugoslawien gefasst, was ihm tage- und nächtelange Verhöre in Budapest, in Berlin-Hohenschönhausen und der Potsdamer Lindenstraße einbrachte. Im dortigen Stasi-Untersuchungsgefängnis musste er ein halbes Jahr Einzelhaft erdulden, eine Qual, an der Richter auch hätte sterben können: Seinem Körper, der zehn Stunden Training am Tag gewohnt war, drohte bei so plötzlichem Trainingsabbruch Herzversagen.
Selbst nach der Entlassung aufgrund einer Amnestie wurde es immer nur vorübergehend besser: Ob in der Armee oder bei der GST (Gesellschaft für Sport und Technik), ob beim Versuch, sich selbstständig zu machen oder bei der Arbeit in der Potsdamer Bauverwaltung: Stets legten Stasi oder SED dem Unbequemen Steine in den Weg.
Die Schüler nahmen es mit Schrecken und fragten vergleichsweise viel nach. Einer bat gar um zusätzlichen Geschichtsunterricht zur DDR.

Erschienen am 08.09.2009


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