Archiv für die Kategorie „Reportage“

Die alten Fehler bauen

Dienstag, 11. Oktober 2011

Mit dem Architekten Martin Reichert auf Rundgang in Semmelhaacks jüngstem Viertel: „Potsdam lernt nicht dazu“

Die architektonische Qualität des neuen Wohngebietes am Bahnhof wird gern gescholten – wir baten Chipperfield-Direktor Martin Reichert um eine Expertise.

Der große Mann – Martin Reichert misst knapp zwei Meter – kommt ganz unprätentiös mit der S-Bahn in Potsdam an. Keine Limousine, kein Chauffeur. Zwar pendelt Reichert derzeit beständig zwischen Südkorea, Berlin und Russland, den Dauer-Jetlag sieht man ihm aber nicht an: Der Architekt wirkt, als habe er zuvor noch einen Termin beim Herrenausstatter gehabt. „Wir wollen doch heute sozialen Wohnungsbau besichtigen, da hielt ich die S-Bahn für angemessen“, kommentiert er die Wahl seines Verkehrsmittels mit feinem Lächeln.
Sozialer Wohnungsbau – das stimmt nicht ganz. Reichert, Direktor des Berliner Büros des Star-Architekten David Chipperfield, will an diesem Tag das „City-Quartier“ der Firma Semmelhaack am Bahnhof einer kritischen Würdigung unterziehen. Im Gestaltungsrat der Stadt fällt der Architekt, der für Chipperfield das „Neue Museum“ in Berlin behutsam restaurierte und dafür seither mit nationalen und internationalen Preisen geradezu überschüttet wird, stets durch seine glasklaren, schneidend scharfen Analysen auf. Diesmal hat er sich bereit erklärt, mit der MAZ ein umstrittenes Projekt zu besichtigen. An Stigmen mangelt es dem „City-Quartier“ auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes nicht: Von „gesichtsloser Büroarchitektur“ bis zu „maximaler Verwertung“ lauteten die Anwürfe, etwa im Bauausschuss.
Mit dem Architekten kommen auch die Tropfen. Kaum verlässt Reichert den Bahnhof, geht ein Regenguss nieder. Mit den Worten „Ich bin ziemlich wetterfest“ lehnt er einen angebotenen Schirm ab. Dann ist es wohl auch nur Regen und keine Träne der Verzweiflung, was ihm mitten im 85 000 Quadratmeter großen Areal über das Gesicht rinnt. Die erste Runde absolviert Reichert weitgehend schweigend, nur einmal entfährt ihm ein „Diese Dichte ist wirklich grenzwertig!“ 639 Wohnungen hat Semmelhaack in fünf Geschossen auf die Fläche gequetscht.
Vom Balkon eines Penthouses lässt Martin Reichert den Blick über das gesamte Areal schweifen: über den L-Riegel, dessen langer Schenkel parallel zur Bahn verläuft, über die mit drei U-förmigen Blöcken vollgestellte Mitte, schließlich das halbrunde Seniorenheim, das den massiven Block an der Friedrich-Engels-Straße zum Bahnhofsvorplatz hin öffnet. Der Blick geht ausschließlich über betongraue Flachdächer. „Die Dachlandschaft ist speziell“, sagt Martin Reichert, während er sich den Regen aus der Stirn wischt. Er betont „speziell“ in einer Art, dass es wie „katastrophal“, „monströs“ oder „schauerlich“ klingt, doch der 43-Jährige mit dem hanseatisch wirkenden Charme nähme solche Worte nicht in den Mund. Immerhin inspiriert ihn der Anblick zu einem Zwischenfazit: Alles sei sehr ökonomisch und effizient gebaut und daher lobenswert, befindet Reichert, andererseits könne man nicht verkennen, dass der Bauherr die Gewinnmaximierung über alles gestellt habe. Es fehle allerorten an Raffinesse, beim Material und den Oberflächen, alles sei günstig und ohne Liebe zu den Details entstanden. Das könne man allerdings nicht dem Architekten anlasten, sondern dem Kostendruck, den der Bauherr verordne. Das Viertel sei architektonisch vom Funktionalismus der 1920er und 1970er Jahre inspiriert, stehe in der Tradition des nüchternen sozialen Wohnungsbaus. Dem stünden allerdings die hohen Kaltmieten zwischen neun und zehn Euro entgegen: „Für 5,50 Euro würde man es loben können.“
Reichert findet noch mehr Lobenswertes: Die rigide Abwendung von der Bahn – nach hinten haben die Wohnungen nur Bad und Abstellräume sowie eine gute Lärmdämmung – findet seinen Beifall, auch die Laubengänge, die zu den Wohnungen führen, hält er für eine gute Idee. Die minimalen Freiflächen im City-Quartier seien „immerhin gestaltet“, wenn auch wenig nutzbar. Da es ohnehin Tiefgaragenplätze in großer Anzahl gibt, hätte Reichert das Parken auf den wenigen Freiflächen nicht gestattet. Auf einer dieser „Freiflächen“ stehend, dreht er sich einmal im Kreis: „Diese Dichte ist trotzdem an der Grenze des Erträglichen. Wer das genehmigt hat“, murmelt er kopfschüttelnd.
Wer eine Erdgeschosswohnung gemietet hat, bekommt von Martin Reichert das Bedauern obendrauf. Deren Mieter schauen nicht nur auf grauen Beton, wohin sie auch blicken, sondern auch noch auf die wenig einladenden Tiefgaragenfenster. Völlig unverständlich bleibt dem Architekten, warum die Terrassen im Erdgeschoss mit Dachgrün „verunstaltet“ wurden, statt sie mit Rasen einladend zu gestalten. Außerdem kann dank eines Metallgeländers den Bewohnern jeder auf die Strandliege oder den Grill schauen. Sichtschützende Mauern gibt es sinnloserweise nur zwischen den einzelnen Terrassen. Den eigentlich Schuldigen benennt Martin Reichert erst etwas später beim Tee. Vorher hat er den unvermeidlichen Architektenschal ausgewrungen. Von der Stuhllehne tropft die Jacke. „Das ist alles typisch Potsdam“, resümiert der Architekt, der nicht nur ein Jahr Gestaltungsratserfahrung in die Waagschale werfen kann, sondern sich auch schon zuvor bestens in den Bauten der Stadt auskannte. „Ein so großes Gebiet wäre anderswo nie ohne Bebauungsplan gelaufen. Dort wäre auch die mögliche Dichte festgelegt worden, und zwar eine deutlich geringere“, sagt er. Während Potsdam im historischen Bestand seit der Wende alles richtig gemacht habe, umsichtig, sensibel und mit hohem materiellen Aufwand vorgegangen sei, gebe es bei Neubauten stets eine nachlaufende Debatte, weil vorher nicht reguliert werde, sondern schlicht „vollgestellt“ – ein Fehler, der der Bauverwaltung anzulasten sei. Er sieht auch durch den Gestaltungsrat kein Umdenken dort, obwohl er dem Baudezernenten großes Engagement bescheinigt. „Das Traurige ist doch, dass die schlechten Erfahrungen, etwa mit dem Bahnhof, nicht dazu führen, dass es künftig besser wird. Potsdam wiederholt die alten Fehler, verkauft ohne Auflagen, ohne kleinteilige Parzellierung“, so Reichert. Er erregt sich nicht, sagt es ganz kühl. Und was hätte er zum City-Quartier gesagt, wenn es ihm im Gestaltungsrat vorgestellt worden wäre? „Dass es in diesem Umfeld nicht so problematisch ist, wie es in der Innenstadt wäre, dass die lieblose Gestaltung akzeptabel wäre, wenn die Mieten gering wären, dass das Farbkonzept höchst fragwürdig ist. Es sei denn, man mag betongrau“. Dann geht Reichert zurück zur S-Bahn. Korea wartet. Wo seine Jacke hing, ist eine kleine Pfütze.

Erschienen am 11.10.2011

Europa in drei Stunden

Mittwoch, 24. August 2011

Mit zwei schlösserbegeisterten Amerikanern auf einem Kurztrip durch die Landeshauptstadt

Über die Bedeutung des Tourismus für Potsdam wird viel geredet, doch wie erleben eigentlich ausländische Gäste die Stadt? Die MAZ machte die Probe und begleitete zwei Amerikanerinnen auf ihrem Tagestrip.

Der Tag in Potsdam beginnt für Leah und Marybeth Berger mit einem Überfall: Kaum haben sie die S-Bahn am Vormittag am Hauptbahnhof verlassen, stürzen sich die Männer mit den Stadtrundfahrts-Prospekten auf sie. Mit sicherem Blick haben die Werber die drei untrüglichen Touristenindikatoren entdeckt: Reiseführer in der Hand, suchender Blick, ausländischer Akzent. Doch Mutter und Tochter Berger kommen aus Dayton, Ohio, USA und sind aufdringliche Werbung gewohnt: Souverän pflücken sie jedem Werber eine Broschüre aus der Hand und schreiten mit freundlich-kühlem Lächeln ungerührt weiter, direkt zur Touristinfo, wo sie die eben gewonnenen Zettel Berater Florian Sonnenschein zur Entscheidung vorlegen. Der tippt routiniert auf einen Anbieter und verkauft ihnen die Tickets, während er zugleich einem Spanier die Frage nach der nächsten Toilette beantwortet und einem Franzosen erklärt, wie er ins Holländische Viertel kommt – jeweils in deren Muttersprache natürlich.
Die Bergers schlendern indes zum Stadtrundfahrtsbus und wehren weitere Werberüberfälle durch Vorzeigen ihrer Tickets ab. Kurz zuvor haben sie noch einen Blick auf den Vorplatz des Bahnhofs geworfen, sich dann schulterzuckend angesehen und irgendwas mit „Industriegebiet“ gemurmelt. Der Weg zum Bus gefällt ihnen besser: Wasser, Grün und der Turm der Nikolaikirche.
24 Stunden zuvor hatten sie noch nie von Potsdam gehört. Die Bergers befinden sich auf einer Europa-in-drei-Wochen-Tour, haben in Frankreich begonnen, wo Leah, Mitte 20, demnächst für ein bis drei Jahre Englisch unterrichten wird, sind dann nach Hamburg und schließlich nach Berlin gekommen – jeweils für zwei Tage. Die Tour am Vortag mit dem Bus durch Berlin hat sie nicht erfüllt, doch an der Glienicker Brücke sahen sie Wasser und Schlösser und entschieden spontan: Morgen muss es dieses Potsdam sein, das sie hartnäckig für einen Teil von Berlin erklären. In ihrem Reiseführer stehts es ja schließlich auch so.
Der Regen pausiert, weshalb Busfahrer Siggi das Dach geöffnet hat und sich Reiseleiterin Jutta Romanowski auf deutsch und englisch in die Herzen der Gäste zu scherzen versucht. Die Nikolaikirche nehmen Bergers mit anerkennendem Nicken zur Kenntnis, an den Hillerbrandtschen Häusern entfährt ihnen ein „beautiful“, die Klickrate des Fotoapparates steigt. Das Brandenburger Tor erklären sie für kleiner, aber schöner als dessen Berliner Version, die verfallenen und beschmierten Häuser in der Zeppelinstraße könnten ihrem Urteil nach auch irgendwo in Chicago stehen.
Mit dem ersten Stopp am Neuen Palais kommt nicht nur der erste Schauer, sondern auch der erste Schock: Man kann diesen riesigen Park betreten, ohne Eintritt zu bezahlen. „Unglaublich“, findet Marybeth Berger, und ist darüber so erstaunt, dass sie die Dame, die um freiwilligen Parkeintritt bittet, glatt ignoriert. Wer denn das alles bezahlt, will sie wissen. Der Staat, also der Steuerzahler, sagt Jutta Romanowski. „Das ist Kommunismus“, entfährt es einem anderen amerikanischen Tourteilnehmer. Die Bergers hören es nicht mehr, denn die Mopke gefällt ihnen so gut, dass sie ins Schwärmen geraten – vor allem über ihre namensgebenden Pflastersteine. Als Jutta Romanowski erklärt, dass die Wege im Park 78 Kilometer lang sind und es allein bis zum Schloss Sanssouci 2,2 Kilometer sind, erleiden Bergers ihren nächsten Schrecken: Und es gibt keine Autos im Park, die einen weiterbringen?
Zum Glück fährt der Tourbus die Truppe weiter. Nächster Halt: Sanssouci. Den Begriff kannte Marybeth Berger bislang nur, weil ihr Lieblings-Wellness-Tempel in Dayton auch so heißt. Jetzt ergibt er Sinn, sagt sie. Direkt davor stehend, erscheint ihr die Sommerresidenz klein, doch von den unteren Terrassen aus werden die „Wows“ und „Greats“ immer lauter. „Das ist wirklich der schönste Teil von Berlin“, entfährt es Leah Berger, die sich daraufhin erneut von einem mitreisenden Potsdamer belehren lässt, dass man ja schließlich „keen Stadtteil und och keen Vorort“ sei. Okay. An Friedrichs Grab staunen sie über die Kartoffeln darauf und über die Erklärung dafür sowie über den Umstand, dass des Alten Fritz’ Frau in Sanssouci Hausverbot hatte. Schnell noch ein paar Postkarten gekauft, dann geht’s nach Cecilienhof. Erste Ermüdung macht sich breit, die Alexandrowka rauscht an den Bergers eher vorbei, ebenso Jutta Romanowskis Erklärungen zum KGB-Städtchen und der Mauer. Mutter und Tochter Berger sind wegen der Schlösser und Parks hier, die jüngere deutsche und europäische Geschichte nehmen sie entfernt zur Kenntnis. Stattdessen begeistern sie sich für das Konzept der Kleingärten, dass sie schlicht „ingenious“ – genial – finden und wundern sich, dass die Autos, Straßen und überhaupt alles in Europa so klein sei.
Cecilienhof gefällt den Bergers sofort. Das ab 1914 im englischen Stil errichtete Schloss könnte im Gegensatz zu den Barock- und Rokokobauten auch in den USA stehen und erweckt nach zwei Wochen in Europa daher fast heimatliche Gefühle.
Im Neuen Garten staunen sie über die vielen Fahrräder und dass die nicht nur diese komischen Klingeln haben, sondern sie auch benutzen, weil der amerikanische Teil der Reisegesellschaft regelmäßig den gesamten Weg blockiert.
In der Brandenburger Straße endet die Tour. Den „Broadway“ finden die Bergers ganz „okay“, das Holländische Viertel hingegen außerordentlich „cute“ – niedlich.
Bei einer heißen Schokolade resümieren sie, dass ihr Tag von Potsdam ein wunderschöner gewesen sei. Marybeth Berger sagt, eigentlich sei das statt Europa in drei Wochen Europa in drei Stunden gewesen, nach all den italienischen und französischen Baueinflüssen, der Alexandrowka und dem Holländischen Viertel. Und Leah Berger ergänzt, sollte sie zurückkehren – was sie im gleichen Atemzug ausschließt, schließlich geht es morgen nach München, dann nach Venedig und Rom –, so würde sie lieber hier als am Potsdamer Platz Quartier nehmen. Und all ihren Bekannten wolle sie’s auch empfehlen, es sei, so ist Leah überzeugt, nun einmal „der schönste Teil von Berlin“.

Erschienen am 24.08.2011

Vulkanausbruch in der Mundhöhle

Samstag, 26. März 2011

Nachschlag: Das Curry Culture hat leckere Würste zu zivilen Preisen – und Soßen für Jungs, die hart sein wollen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Der Weg in die Hölle ist mit vier Stufen versehen, die da lauten: Feuriger Pfad, Krakatau, Montezumas Rache und das Jüngste Gericht. Man kann diese Namen albern finden, aber wer die Currysoßen probiert, die sie bezeichnen, billigt ihnen augenblicklich einen gewissen Respekt zu. Auch sieht der Vorhof der Hölle vergleichsweise einladend aus: Das „Curry Culture“ ist der jüngste Spross in der reichhaltigen Imbiss-Landschaft der Bahnhofspassagen und lockt mit einem satten Paprika-Orange vorbeihetzende Passanten an den Tresen. Dort haben sie die Wahl zwischen klassischer Currywurst, Kalbscurrywurst, Krakauer, Chiliwurst, Bratwurst, Schaschlikspieß und Knusperschnitzel – am besten im Menü mit Pommes Frites und einem kleinen Getränk. Zwischen vier (Bratwurst) und sechs Euro (Schnitzel) werden dafür fällig.
Die Stars sind aber die Soßen, nicht nur die Dips für die „besten Pommes weit und breit“, wie ein Plakat kündet – Schnittlauchcreme, Quark, Knoblauch, Honig-Senf, Mayo – sondern eben jene Feuerpasten. Für den vorgebildeten Chilifreund stehen die Scoville-Werte der Soßen an jedem Platz. Die Scoville-Skala gibt die Schärfe von Paprika an, in dem sie den Gehalt an Capsaicin, das für die Schärfeempfindung zuständig ist, angibt. Eine Gemüsepaprika hat null, reines Capsaicin hat 15 Millionen Punkte auf der Skala. Ein Tropfen davon auf der Zunge genügt, um in Ohnmacht zu fallen. Wir probieren alle vier Soßen – mit einer Kalbscurrywurst, die wir zunächst kosten, so lange noch ein Rest Geschmackssinn im Mundraum regiert. Sie ist heiß, weich, außen schön kross, zartes Fleisch – wie eine Curry sein soll.
Los geht’s mit dem Feurigen Pfad (150 000), eine klassische Soße für Currywurstfans, die es gern etwas pikant mögen. Hat eine gewisse Schärfe, tut aber niemandem wirklich weh. So ermutigt, ist der Krakatau (300 000) dran. Das war ein Vulkan, der 1883 sich in unbewohntes Gebiet ergoss. Die Mundhöhle des Testers ist hingegen höchst lebendig. Noch. Sie bleibt es auch danach. Krakatau beißt zwar schon gehörig in die Schleimhäute, und eine gesamte Currywurst mit dieser Soße wäre schon irgendwo zwischen Genuss und Grenzwertigkeit anzusiedeln, aber um Frauen oder die Fußballkumpels zu beeindrucken, tun Männer ja so was. Immerhin: Der Tester zieht jetzt die Jacke aus. Ihm ist „irgendwie warm“ geworden. Es folgt Montezumas Rache (600 000). Kein schöner Name für ein Lebensmittel, weil sofort Assoziationen an Reisekrankheit und Urlaubswochen auf der Toilette auftauchen. Aber sei’s drum. Montezuma ist hinterlistig, denn die tastende Zunge erschmeckt zunächst nur Fruchtigkeit. Auch der Gaumen. Verdutztes Innehalten. Dann zündet der Nachbrenner. Es ist Zeit, den obersten Hemdknopf zu öffnen und von Nasen- auf Mundatmung zu wechseln – in dem sinnlosen Versuch, die gebeutelten Geschmacksknospen zu kühlen. Der Cola-Verbrauch steigt und verschafft die Illusion von Kühlung, obgleich wir vorab doch gelesen haben, dass nur Fett oder Alkohol das Capsaicin leidlich bändigen. Für einen Schnaps im Dienst ist es aber zu früh, und die sicherheitshalber mitgebrachte Schlagsahneflasche zu öffnen kommt nicht in Frage, so lange der wirklich nette Herr hinter der Theke so dämlich und erwartungsvoll grinst.
Also zum Finale. Das Jüngste Gericht bringt eine Million Punkte auf der Scoville-Skala und den Respekt der zwei Bauarbeiter, die am selben Tisch sitzen. „Alle Achtung!“ sagen sie, das kommt nicht oft vor. Es bleibt nicht viel Zeit, sich daran zu erfreuen. Der Mundraum verwandelt sich in ein flammendes Inferno, der Tester liefe am liebsten los und wird nur noch vom Berufsethos an den Platz gefesselt. Das Zahnfleisch scheint sich zurückziehen zu wollen, es spannt, es brennt und die Gesichtsfarbe nimmt das intensive Feuerwehrrot der Soße an. Die Serviette wird zum Abtupfen der Stirn benötigt, und eine ältere Damen gegenüber tippt beunruhigt ihren Mann an und schaut, als führe sie an einem Autounfall vorbei. Die Atemfrequenz liegt deutlich über 100, nur bringt das stoßweise Kühlen des Mundraums nichts. Das Capsaicin reizt zwar die selben Nerven, die auch Hitze melden. Jetzt hilft nur noch Geduld. In all das Leiden hinein sagt der Mann hinter der Theke, um Frauen zu beeindrucken, schaffen manche Männer davon sogar eine ganze Currywurst. Wir halten das für missverstandene Liebe.

Erschienen am 26.03.2011

Nur für geladene Gäste

Donnerstag, 17. Februar 2011

Landtagsbau: Grundsteinlegung wird zum Fehlstart für das wichtigste Bauprojekt des Landes / Jauch fehlte

Selbst aus der Prignitz waren Menschen angereist, um den Baustart ihres Landtagsschlosses zu erleben. Die Reise hätten sie sich sparen können.

Transparenz und Bürgernähe enden gestern Mittag bei Herrn Ullmann. Herr Ullmann ist ausweislich seines Namensschildes fürs Protokoll des Landtages zuständig, das heißt, er ist an diesem historischen Tag Prellbock des Bürgerzorns und versichert sich daher der Gesellschaft eines Quartetts breitschultriger Wachschützer in neonfarbenen Warnwesten. Denn zur Grundsteinlegung des Landtages darf nur, wer eine der 400 Einladungen hat.
Es geht um jenen Landtag, der, so erklärt es der Ministerpräsident den Auserwählten hinter dem blickdichten Zwei-Meter-Zaun, „hier unten auf Augenhöhe mit dem Bürger“ sein will. „Ein beschissenerer Start is ja wohl kaum denkbar“, findet ein älterer Herr vor der Absperrung. Es ist noch das freundlichste, was sich Herr Ullmann und seine Vierschröter mit humorlosem Gesichtsausdruck anhören müssen. „Frechheit“, „unverschämt bis zum Geht-Nicht-Mehr“, „Verbrecher da drin“, tönt es aus allen Richtungen. Lautes Grummeln, als die Spitze der Linkspartei samt ihrem Finanzminister und Schlossbauherren Helmuth Markov passieren darf. „Diese Leute haben mit aller Kraft gegen das Schloss gekämpft. Jetzt trinken sie auf Steuerzahlerkosten Sekt, und die Bürger, die dafür kämpften, stehen draußen und frieren“, schimpft jemand. Linksfraktionschefin Kerstin Kaiser ist das sichtlich unangenehm. „Ich habe nie für diesen Landtag gestimmt“, sagt sie, ohne anzuhalten. Sozialminister Gunter Baaske (SPD) murmelt etwas von „Sicherheit“ und „mal sehen, was sich machen lässt“. Zu sehen ist von ihm fortan nichts mehr. Auch die Bundestagsabgeordnete Andrea Wicklein (SPD) findet die Sperre „unsäglich“. Sie verstummt, als jemand fragt, ob die SPD Angst vor dem Volk habe. „Die wollen kein Prekariat und keinen Pöbel“, sagt einer aus der Prígnitz. Landtagsarchitekt Peter Kulka schüttelt den Kopf: „Man kann die Menschen mitnehmen oder nicht. Ich bin für mitnehmen.“
Der Bürgerprotest ist Wasser auf die Mühlen von Barbara Kuster. Die Schlosslobbyistin ohne Einladung zelebriert ihr Ausgesperrtsein: Demonstrativ trägt sie ein Fernglas vor sich her, um die Distanz der Regierung zu den Bürgern zu verdeutlichen. Es fruchtet: „Was? Sie sind nicht drin? Eine Schande!“ – das hört Kuster bestimmt 20 Mal.
Die Wut vor dem Tor macht resigniertem Sarkasmus Platz, als klar wird, dass die Zeremonie begonnen hat. „Vielleicht reicht der Sekt ja nicht für alle“, sucht jemand nach einer Begründung.
Herr Ullmann zieht sich mit zwei seiner Warnwesten zurück. Als der dritte Wachmann abrückt, planen die Ausgesperrten im Scherz den Durchbruch. „Gehen Sie sich doch mal aufwärmen, wir warten auch allein draußen“, ruft jemand dem verbliebenen Wachschützer zu. Kollektives Gelächter. Der Mann bleibt ernst. Irgendwer entdeckt das Schild, auf dem steht, dass das Gelände von scharfen Wachhunden gesichert werde. „Überlebende werden strafrechlich verfolgt“, steht darauf. Das finden die Umstehenden an diesem Tag nur begrenzt lustig.
Mittlerweile ist der Grundstein gelegt, und auf dem Weg zu den Häppchen läuft die Prominenz in Sichtweite zum Tor vorbei. Als Platzeck kommt, sind die „Heuchler“-Rufe so laut, dass er sie unmöglich überhören kann. „Der soll es nicht wagen, sich rauszureden. Er ist der Ministerpräsident“, ruft eine Dame mit hochrotem Kopf. „Lass doch“, sagt ihr Mann und legt beschwichtigend die Hand auf ihren Unterarm: „Wir hätten nicht kommen sollen, sondern Mittagsschlaf halten.“ Er zieht sie sanft mit sich. Für die Bürger gibt es an diesem Tag nichts mehr zu sehen.
Im Partyzelt ist der Fehlstart für das wichtigste Bauprojekt des Landes inzwischen aufgefallen. Es läuft die Suche nach dem Schuldigen. Oppositionsführerin Saskia Ludwig (CDU) ist aus Protest erst gar nicht gekommen. Der Linken-Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Scharfenberg kritisiert den eigenen Genossen Finanzminister: „Ich habe schon vor Wochen gesagt, man darf sich bei einem so symbolträchtigen Akt nicht einigeln.“ Markov war als Bauherr der Einladende. Er beteuerte gestern, man könne aus Sicherheitsgründen kein Volksfest auf einer Baustelle veranstalten. Damit hat er sich dem Regime des Baukonsortiums Bam Deutschland AG unterworfen. „Auf 100 Grundsteinlegungen habe ich so etwas nicht gesehen. Wenn einer in die Grube stürzt, zahlen wir die Rente bis zum Schluss“, sagt Bam-Vorstandschef Alexander Naujoks. Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) sagt, er hätte den erfreulichen Anlass trotzdem lieber mit den Potsdamern gefeiert.
Einer war wieder eingeladen und ist wieder nicht gekommen. Günther Jauch, der Spender des Fortunaportals. Er habe nicht einmal geantwortet, sagt Markovs Sprecherin Ingrid Mattern. Der Potsdamer TV-Moderator hat nach den Querelen um den Schlossbau für sich entschieden: Du investierst nur noch in Menschen, nicht mehr in Steine. Die Kinder im Hilfsprojekt „Arche“ danken es ihm.

(Mit Volkmar Klein)

Erschienen am 17.02.2011

Zurückgelassener Protest

Montag, 8. November 2010

Politik: Knapp 40 Potsdamer demonstrierten gegen das Demonstrationsverbot entlang der Castorstrecke

Fast sah es so aus, als gäbe es mehr Polizisten als Demonstranten. Doch dann kamen noch ein paar – und ein Transparent.

POTSDAM | Es ist kalt an diesem ersten Novembersonntag. Mehr als 20 Polizisten und knapp zehn Journalisten treten rund um das Arbeitsamt auf der Stelle, um die Restwärme im Körper zu behalten. Sie sind kurz nach 14 Uhr in der Überzahl gegenüber den 20 Demonstranten, die grüppchenweise eintrudeln. Geplant ist eine größere Demo gegen den Castortransport und das Demonstrationsverbot im rund 160 Kilometer entfernten Gorleben. Rund 300 Potsdamer seien bei den Protesten vor Ort mit dabei, schätzt Linus Rumpf, Sprecher des Antikapitalistischen Aktionsbündnisses, das zur Demo gegen’s Demoverbot aufgerufen hat. Die schon Eingetroffenen diskutieren derweil die Menschenrechtslage in Birma und den Umstand, dass leider niemand ein Transparent dabei hat. Gegen 14.30 Uhr ist die Schar immerhin auf 30 angewachsen. Linus Rumpf greift zum Megaphon und verkündet, es seien schon mehr Demonstranten, als er erwartet habe, was dem Kamerateam des RBB ein lautes Lachen abfordert. Man müsse noch zehn Minuten warten, weil man jemanden angerufen habe, der ein Plakat hat, sagt Rumpf.
Zehn Minuten später ist es da, das Plakat, samt dem, der es hat, ökologisch korrekt auf dem Fahrrad herantransportiert. Es wird entrollt, ist eingerissen und ruft zum Kampf gegen das Patriarchat auf – daneben die Zeichnung eines Mädchens mit geballter Faust. „Ist wohl ein Allzweckplakat“, scherzt ein Polizist. Auf jeden Fall geht’s jetzt los, und der Demonstranten sind es mittlerweile 40. Auch das Megaphon kommt jetzt zum politischen Einsatz. „Im Wendland holt die Polizei den Knüppel gegen die Bevölkerung raus, um die Interessen der Stromkonzerne zu verteidigen“, sagt der Sprecher. Er erklärt auch, warum man sich vor dem Arbeitsamt am Horstweg traf: „Wir sind hier so nah, wie es nur geht, an der Zentrale der Bundespolizei.“ Viel näher wird’s aber auch nicht mehr, denn der Sprecher verrät auch, dass man nicht aufs Gelände der Bundespolizei dürfe, denn das sei „privat“. Unter dem Klicken der Kameras setzt sich die Gruppe in Bewegung. „Wenn Du die Augen zusammenkneifst, siehst es fast wie eine Demo aus“, sagt jemand. Die Demo endet nach wenigen hundert Metern am Eingang zur Bundespolizei. „Wer den Klimawandel bekämpfen will, muss den Kapitalismus in Frage stellen“, ruft Linus Rumpf noch ins Megaphon und fordert, den Protest gegen die Atompolitik der Regierung nicht zu kriminalisieren. Dann löst sich die Demo auf und geht nach Hause, um im Fernseher die wirklichen Proteste zu schauen.

Erschienen am 08.11.2010

Showdown am Tag der Einheit

Mittwoch, 29. September 2010

Stichwahl: Beim Kampf um den Posten des Oberbürgermeisters in Potsdam gibt es eine Wiederauflage des Duells von 2002

Amtsinhaber Jann Jakobs und Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg an einem ganz normalen Tag vor der Entscheidung.

POTSDAM| Wenn es wirklich stimmt, dass der frühe Vogel den Wurm fängt, dann sieht es gut aus für Hans-Jürgen Scharfenberg: Es ist erst kurz nach 5 Uhr morgens, als im Musikerviertel, einer Aufreihung von Einfamilienhäusern im Potsdamer Plattenviertel „Am Stern“, das Licht angeht. Kurz darauf fischt der schon sehr muntere Herausforderer drei Zeitungen aus dem Briefkasten – ein festes Morgenritual. In der Küche erhebt sich derweil ein Heidenlärm: Die Wellensittiche Bubi und Karli haben Starterlaubnis und erobern sofort die Lufthoheit über den Kaffeetassen. Mit der Lektüre von zwei Lokalzeitungen und dem unvermeidlichen „Neuen Deutschland“ versüßen sich Scharfenberg und seine Frau Ursula das Frühstück. Es ist, gerade jetzt im Wahlkampf zuweilen der eine oder andere harte Brocken Lesestoff darunter: Scharfenbergs IM-Tätigkeit in den 1980er Jahren verfolgt seine Kandidatur wie ein böser Schatten. „Eigentlich ist das nur ein mediales Problem“, sagt Scharfenberg zwischen zwei Bissen. „Im Gespräch mit den Bürgern spielt es fast keine Rolle.“ Kurze Zeit später fährt er in den Landtag.
Das Holztor in der russischen Kolonie Alexandrowka öffnet sich gegen 8.30 Uhr mit leisem Quietschen. „Das müsste mal gemacht werden“, sagt Amtsinhaber Jann Jakobs lächelnd. Es ist ein Satz, von dem Jakobs Herausforderer behauptet, er tauge auch als Motto für dessen erste Amtszeit. Auch Jakobs hat zu diesem Zeitpunkt bereits die Tageszeitungen und zwei Tassen Kaffee intus und macht sich zu Fuß auf den Weg zum Rathaus, vorbei an Touristengruppen, die in der milden Herbstsonne die Alexandrowka erkunden und nicht ahnen, dass der zügig schreitende Herr im Anzug der Oberbürgermeister ist. Seinem Herausforderer entkommt er selbst bei diesem Gang am frühen Tag nicht – exakt 17 Mal lächelt Hans-Jürgen Scharfenberg von Laternenpfählen und fordert bezahlbare Wohnungen und sanierte Schulen. Er ist ihm in den letzten acht Jahren keinen Tag von den Fersen gewichen. 122 Stimmen trennten Jakobs und Scharfenberg bei der Stichwahl 2002, den Schreck hat der Amtsinhaber nie ganz vergessen – lag er doch nach dem ersten Wahlgang fast 15 Prozent vor seinem Verfolger. Dass das Duell dieses Mal auf den Tag der Einheit fällt, macht die Sache noch eine Spur brisanter: Dann streiten ein Ostfriese und ein ehemaliger IM um die Hoheit über Ostdeutschlands boomende Landeshauptstadt.
Das Büro ist klein und bis unter die Decke mit Akten vollgestopft. Kein Familienfoto, kein persönlicher Gegenstand, lediglich eine Autogrammkarte des Volleyballteams, dessen Vorsitzender Hans-Jürgen Scharfenberg ist, schmückt die Wand von Raum R606 im Landtag. Und nur ein Wahlplakat des Herausforderers an der Tür weist darauf hin, dass die Tage zwischen Wahl und Stichwahl eben nicht politische Routine sind. Es wirkt ein wenig, als hänge es zur trotzigen Selbstvergewisserung dort. Denn natürlich weiß im Landtag jeder, dass Hans-Jürgen Scharfenberg einen zweiten Anlauf auf den Rathausthron unternimmt. Sie zählen ihn hier ohnehin zum Mobiliar: Seit 1991 arbeitet er auf dem Brauhausberg, zunächst als Angestellter der Fraktion, dann als Abgeordneter. Mit Fleiß und Unermüdlichkeit hat er sich den Ruf eines Innenexperten erworben, sagen die Kollegen anerkennend. Es sind derselbe Fleiß und dieselbe Unermüdlichkeit, mit deren Hilfe sich Scharfenberg auch in der Stadtpolitik einen umfassenden Durchblick erarbeitet hat.
Scharfenbergs Vormittag gehört der parlamentarischen Routine: In der Fraktionssitzung geht es um Agrarstrukturen und Finanzen. Zwischendrin ein schnelles Mittagsmahl in der Landtagskantine, Scharfenberg kommt auf dem Hinweg vor grüßen kaum zum Reden, referiert und gestikuliert zwischen Kassler und Rosenkohl sowie einem Sturzkaffee über die Gestaltungsmöglichkeiten, die ihn am Oberbürgermeisterposten reizen, dann Grußmarathon zurück in die Sitzung, denn bei der Polizeireform ist der Innenexperte gefragt.
Den Amtsinhaber erwartet zunächst die „kleine Morgenlage“. Büroleiter, Chefsekretärin und Pressesprecher planen den Tag. Hinter verschlossenen Türen tagt kurz darauf die Beigeordnetenkonferenz. Danach Treffen mit dem Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung, um die nächste Sitzung durchzusprechen. Es herrscht Einigkeit, nur über die Nichtöffentlichkeit eines Tagesordnungspunktes ist der Präsident anderer Meinung und sagt das auch deutlich. Jakobs reagiert, wie er immer reagiert, wenn ihm Anwürfe drohen. Er lehnt sich zurück, trommelt nervös mit den Fingern auf der Tischplatte und schaut zuweilen in die Luft. Man einigt sich schließlich, verschiedener Meinung zu bleiben, dann geht der Herr Präsident, dafür kommt der Büroleiter mit einem Stapel Akten: Terminabstimmungen. Zirkusfreikarten? Werden gespendet. Bitten um Grußworte: werden gewährt. Einladungen ohne Grußworte: werden wohl abgewogen und verworfen. Flüche, wenn wichtige Termine zeitgleich liegen. Es ist Oberbürgermeisteralltag, doch Jakobs hat sichtlich Spaß am Dirigieren mit leiser Stimme. „Zu Hause muss ich das manchmal abstellen“, sagt er aufblickend, „da ermahnt mich meine Frau des Öfteren, dass ich nicht immer Chef bin.“ Über ablehnen, zusagen, Vertretung schicken verrinnt die Zeit. Drei Tassen Kaffee später ist es früher Nachmittag, ein Termin mit Schülern im Rathaus steht an. „Haben Sie schon was gegessen?“ fragt die Sekretärin. „Nee, keine Zeit. Aber oben gibt’s ja Kuchen.“
Hans-Jürgen Scharfenberg schwärmt indes in seinem Büro vom Gestaltenkönnen. Opposition mache Spaß, doch brauche er stets die dreifache Energie, um etwas durchzusetzen, was er als Oberbürgermeister mit einem Anruf erledigen könnte. Scharfenberg kann Fragern konzentriert zuhören, wirkt aber immer etwas ungehalten, sobald er zu wissen glaubt, worauf die Frage hinausläuft. Wenn er sich ärgert, zieht sich eine tiefe Falte quer über seine Stirn, als wollte sie den Kopf in zwei Scheiben spalten: Unten der Ärger, oben der Politprofi. Wenn Scharfenberg über die Potsdamer Politik redet, ist die Falte Dauergast auf seiner Stirn. Er bezichtigt den Amtsinhaber abwechselnd der Ignoranz und des Ideenklaus: 120 Millionen für die Sanierung der Schulen, ein „Freiland“ für die alternative Jugendkultur, kostenloses Schüleressen – „das alles waren unsere Ideen, für die wir jahrelang kämpften, und wenn sie dann endlich kommen, stellt sich der Jakobs hin und schlägt sich auf die Brust“. Scharfenberg presst die Sätze heraus, in der Stirnfalte könnten mittlerweile Schwalben brüten. Wenn es ganz schlimm wird mit dem Ärger, geht er zu Hause aufs Rudergerät. „Zehn bis 15 Minuten voller Einsatz, dann geht es wieder“, sagt er und lächelt. Die Stirn ist sofort geglättet. Wer Scharfenberg auf diesem Gerät sieht, könnte es mit der Angst zu tun bekommen: ums Material und die Knochen des Herausforderers.
Im Foyer des Rathauses wartet derweil die Schülergruppe aus der italienischen Partnerstadt Perugia auf Jann Jakobs. Seine Pressechefin instruiert ihn beim Hetzen über die Gänge, dass er die Lehrerin bereits kenne. „Wie hieß die gleich?“ Schulterzucken. Jakobs geht trotzdem auf die Dame zu, als habe man noch gestern Abend gemeinsam gefeiert, und als ihm jemand den Namen zuflüstert, fließt er in seinen nächsten Satz ein, als sei das das Natürlichste der Welt. Überhaupt läuft der Amtsinhaber bei solchen Artigkeiten zur Höchstform auf: Er rühmt die italienischen Einflüsse auf die Architektur Potsdams, und die Lacher gewinnt er, als er einräumt, dass das Potsdamer Nachtleben so aufregend sei, dass die Jugendlichen lieber nach Berlin führen. Dann geht er ansatzlos ins Standortmarketing über, preist Potsdam als Stadt der Medien und der Wissenschaft und muss auch schon wieder weiter. Den Kuchen hat er nicht angerührt, aber wenigstens auch keinen weiteren Kaffee getrunken. Sondern Wasser. „Das darf ich zu Hause sowieso keinem erzählen, diese Kaffeetrinkerei“, sagt der gebürtige Ostfriese.
Wären da nicht die Anrufe im Minutentakt, Hans-Jürgen Scharfenberg könnte jetzt für ein bis zwei Stunden Akten studieren. Stattdessen redet er darüber, worüber er am meisten reden muss und am liebsten nicht mehr redete: die Akte, jene Eisenkugel an seinem Bein, den Hemmschuh seiner Ambitionen. Als Innenminister wurde er nach der letzten Landtagswahl sehr ernsthaft gehandelt, doch: die Akte. Wie oft er wohl gedacht hat, die 122 Stimmen, die 2002 fehlten, wären ohne jene Akte leicht zu bekommen gewesen? „So denke ich nicht. Es ist, wie es ist.“ Glaubt er das wirklich selbst? Er belässt es bei einem undeutbaren Lächeln. Stattdessen fällt ihm ein, dass dem Amtsinhaber die Jacke des Oberbürgermeisters eigentlich zu groß sei. Er ist wieder auf sicherem Terrain.
Konfrontiert mit diesem Vorwurf, lächelt Jann Jakobs und überrascht mit einem Eingeständnis: Er habe in der Tat erst in die Oberbürgermeisterrolle hineinwachsen müssen, sagt er. Schließlich sei die Berufspolitikerrolle nichts, was er je angestrebt habe. In den oberen Zirkeln der Brandenburger SPD blieb er mit dieser Einstellung ein Außenseiter – als profunder Arbeiter geschätzt, aber nie offen für höhere Ämter gehandelt. Er habe zu Beginn seiner Amtszeit ständig das Gefühl gehabt, bei aufkommenden Problemen Feuerwehr spielen zu müssen, sagt Jakobs, „das hat sich gegeben“. Mancher wirft ihm das als Zögerlichkeit oder mangelnde Führung vor – der Amtsinhaber begreift es als Stärke. Früher habe er auch länger zugehört, das leiste er sich heute nicht mehr, sagt Jakobs.
Auf einem sandigen Radweg im Stadtzentrum haben sich eine Handvoll Protestierer gesammelt, um gegen die teure Asphaltierung des Weges zu protestieren. Sie haben große Plakate dabei, doch die Empörung will nicht so recht auf die Passanten überschwappen. Der Weg ist bei Regen ein Pfützenmeer und bei Trockenheit eine Staubwüste, Asphalt ist den meisten Radlern willkommen. Eigentlich ist er auch Hans-Jürgen Scharfenbergs Partei willkommen, denn die setzt sich seit Langem für besseren Verkehr in der Stadt ein und war im Bauausschuss für die Asphaltierung. Doch nun ist Wahlkampf, und Scharfenberg setzt sich mit einer Selbstverständlichkeit an die Spitze des Protestes, als habe er den Widerstand dagegen erfunden. Die SPD legt ihm das als Opportunismus aus – wo immer sich in der Stadt Widerstand regt, führt ihn Scharfenberg gern an, auch wenn er vorher anderer Meinung war. Scharfenberg ficht diese Kritik nicht an. Er wischt sie mit Argumenten weg: Der Asphalt ist teurer, die Art und Weise, wie die Stadt hier vorging, sei „Rambomanier“, das gehöre auf den Prüfstand.
Es ist Abend geworden. Während Jann Jakobs noch in gewohnter Eloquenz und ohne eine Minute Vorbereitung eine Ausstellung zur Rolle der Frau in Wohnungsgenossenschaften eröffnet und dabei die anwesenden Soziologinnen mit seiner Sachkenntnis verblüfft, gehört der Abend des Herausforderers erneut einer Fraktionssitzung der Linken – diesmal auf Stadtebene. Es gibt süßen Sekt auf das Resultat des Wahlkampfs und einen genauen Blick auf die Ergebnisse. Zu Hause arbeitet Scharfenberg an einem Programm für die ersten 100 Tage nach der Wahl und einem Brief an die Wähler. Um 22.30 Uhr erlischt das Licht im Musikerviertel. In der Alexandrowka brennt es noch bis kurz nach Mitternacht. Nachdem er noch etwas Post bearbeitet hatte, überrascht Jakobs seine Frau mit einer Rückkehr vor 21 Uhr. Sie fragt ihn verdutzt: „Was machst denn Du hier?“

Erschienen am 29.09.2010

Rumpelnde Wahlwerbung

Donnerstag, 24. September 2009

Politik: Grüne und Linke chauffierten den Wähler mit Straßenbahnen durch die Stadt

Gute Laune, quietschende Bremsen: Grünen-Bundeschefin Claudia Roth und Landtagskandidaten der Linken waren auf Tour.

POTSDAM |  Es herrscht nicht wirklich Gedränge an diesem Dienstagabend, auch wenn am Hauptbahnhof jedes zweite Plakat für „Straßenbahnfahren mit Claudia“ wirbt. Das mag daran liegen, dass Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Grünen, mit satten zwei Stunden Verspätung in die historische Gotha-Bahn steigt. Selbst der Ruf „Bis Platz der Einheit, kostenlos!“, von eifrigen grünen Parteigängern in die kühle Nacht gerufen, verhallt nahezu ungehört. Nur eine Gruppe Schwaben, die eigentlich in eine andere Richtung wollte, steigt der Landsfrau zuliebe ein. Und Harri. Harri trägt Leggings mit Tigerdruck, Gummischuhe und eine Art Nachthemd unter einer Sportjacke, seine Habe fährt er in einem ausgedienten Kinderwagen vor sich her: Decke, Bierflaschen, Leergut. Er steige ein, weil er auf Verpflegung und ein warmes Plätzchen hoffe, sagt er. Letzteres kann ihm die Tatrabahn bieten, ersteres nur bedingt: Wasser und Weintrauben schenken die Grünen aus, eine Mischung, von der Harri sagt: „kriechick Dünnsch… von“. Mit dieser Haltung steht er schnell allein. Die Grünen sagen, es wäre wegen des Geruchs.
Indes hat Claudia Roth, die auch nach einem langen Tag, der um 7 Uhr mit vier Tassen Kaffee und einer Parteiklausur in Nürnberg begann, recht munter wirkt, das Mikrofon der Straßenbahn ergriffen und freut sich zunächst, dass Schwaben an Bord sind: „Wenn’s was umsonst gibt, da fahrt’s schon mit, gell?“ frotzelt sie. Die Stimmung bleibt auch gut, als Roth sagt, in Ostdeutschland hielten viele die Grünen für einen Luxus, den man nur in guten Zeiten wählen könne, weil sie sich um Mopsfledermäuse und Gräser kümmerten. Was natürlich so nicht stimme. Es sei höchste Zeit, sagt sie, dass die Mark grüner würde, den abtrünnigen Parteigänger Platzeck müsse man an seine frühen Ziele mahnen, und Kohle sei nun wirklich keine Zukunftsenergie. Sie beklagt die „Ausschließerei“ im Bundestagswahlkampf, schließt aber im selben Satz die „Jamaika-Koalition“ aus und erzählt, dass Trams schon als Kind für sie das Größte waren. Am Platz der Einheit befragt Roth den Zugführer zu technischen Details, Harri indes steigt aus; er ist an diesem Abend kein Grünen-Wähler geworden. „Die kommt also mittn Fliega und ’n Auto und will mia watt über Ökolojie erzähln“, sagt er im Fortgehen, den Kinderwagen vor sich her schiebend. Claudia Roth muss indes mit dem Bus weiter nach Rostock. 25000 Kilometer legt sie in neun Wochen Wahlkampf zurück. „Das geht mit dem Fahrrad nunmal nicht“, stöhnt sie.
Weniger gehetzt und bester Laune drehen zwölf Stunden später die Linken eine Runde durch die Stadt. Landtagskandidatin Anita Tack hat eingeladen, Hans-Jürgen Scharfenberg und Bundestagskandidat Rolf Kutzmutz sind mit an Bord der diesmal knallroten Tatra. Als verkehrspolitische Sprecherin hat Tack die Straßenbahn als Wahlkampfmobil erwählt, als Kämpferin für eine Wiederbelebung des Bahnhofs Pirschheide das Fahrziel festgelegt. Und die Lieblingsforderung der Linken, den kostenlosen Schülerverkehr, kann sie so auch noch zwanglos anbringen.
Von Harri keine Spur, doch es hätte ihm gefallen: Es gibt starken Kaffee und handfeste Brötchen. Als dann auch noch sechs Kinder mit zwei Erziehern auf dem Weg zur Kita „Firlefanz“ zusteigen, ist der Wahlkampftraum nahezu perfekt. Die Jüngstwähler sind an verkehrspolitischen Fragen zwar eher desinteressiert, nehmen Bonbons und Luftballons aber gern an. Auch die weitere Klientel ist dankbar: Eine ältere Dame kommt nun schneller zur Apotheke, ein älterer Herr rechtzeitig zum Arzt: „Janz tolle Idee“, lobt er. An jeder Haltestelle tobt ein Junglinker heraus, um Wahlplakate über die Fahrpläne zu kleben. Einmal wäre die Bahn fast ohne ihn weitergefahren, doch die resolute Anita Tack lässt stoppen: „Die Linke vergisst keinen“, sagt sie, als ihr Helfer wieder an Bord ist.

Erschienen am 24.09.2009

Freudenfahrt mit klemmenden Luken

Mittwoch, 2. September 2009

Stadtentwicklung: Neue Straßenbahntrasse freigegeben / Die Linke macht ihren Frieden mit der Trambrücke

Nach anderthalb Jahren Bauzeit fährt die Tram über ihre neue Brücke – leiser, schneller und ohne die Straße zu kreuzen. Für den Landtagsneubau ist nun Platz geschaffen.

POTSDAM |  Ein bisschen wirkten sie ja wie auf Klassenfahrt in dem Straßenbahn-Sonderzug. Zur offiziellen Freigabe der neuen Trasse kutschierten der Verkehrsminister, der Oberbürgermeister, der neue Baubeigeordnete und die Pro-Potsdam-Spitzen gestern nebst einem Presse-Pulk durch die Stadt. Dem SPD-Übergewicht im Waggon angemessen war es dann auch ein knallroter Tatra-Zug, der zugleich als Partybahn zu buchen ist, wovon nicht nur knallbunte Plastikblumen an den Fenstern zeugten. Dafür ließen sich die Fenster nicht öffnen, die Dachluken klemmten und an der Einmündung zur Friedrich-Ebert-Straße ging’s wegen Restbauarbeiten nicht weiter.
Die Hitze drückte, der Stimmung tat das keinen Abbruch. „Das ist das erste Mal, dass Sie bei der Arbeit schwitzen“, neckte Pro-Potsdam-Chef Horst Müller-Zinsius Erich Jesse vom Sanierungsträger, Verkehrsminister Reinhold Dellmann (SPD) legte Potsdams neuem Baubeigeordneten Matthias Klipp (Grüne) indes auf munter-joviale Weise die Paragraphen 34 und 35 des Baugesetzbuches ans Herz, die bitte künftig „personenunabhängig“ angewandt werden mögen, und die Bauausschuss-Vorsitzende Anita Tack (Linke) frotzelte über den ihrer Partei missliebigen Abriss des „Hauses des Reisens“, als die Bahn es passierte.
Doch irgendwann endete auch diese launige Fahrt an der neuen Haltestelle „Alter Markt“, und es galt zu arbeiten, eine Schere in die Hand zu nehmen, ein Band zu zerteilen und sich gegenseitig zu loben: Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) freute sich, dass die Arbeiten im Zeitplan lagen, dass nun die Voraussetzungen für den neuen Landtag da seien und man den 32 Millionen Euro teuren Verkehrsumbau in der Mitte gestemmt bekam: „Das war gut investiertes Geld.“ Dellmann freute sich, dass die „kluge Verkehrsführung“ eine Vollsperrung überflüssig machte, dass die zwölf Millionen Landeszuschuss in „stimmigem Kosten-Nutzen-Verhältnis“ ausgegeben wurden und klagte nur, der „Radfahrer im Verkehrsminister“ habe manchmal unter fehlenden Schildern gelitten. Sanierungsträger-Chef Jesse hingegen erfreute sich daran, dass 120 Leute in drei Schichten bis zuletzt zum Gelingen beitrugen und man 850Tonnen Stahl und 1,5 Kilometer Schienen für Brücke und Trasse verbaut habe. Sogar die Linke hat offenbar mit der „Luxusbrücke“ mittlerweile ihren Frieden gemacht: „Nun ist sie fertig – nutzen wir sie“, forderte Anita Tack, die auch im Infrastrukturausschuss des Landtages sitzt und verkehrspolitische Sprecherin der Linken ist. Sie betonte zwar noch einmal ihre Zweifel an der Wirtschaftlichkeit, räumte aber ein, dass sich die Brücke gut in die Umgebung einfüge und die Einschränkungen für Besucher der Freundschaftsinsel erträglich seien.
Bis spät in die Sonntagnacht hatten die Bauarbeiter noch gewirkt, bevor kurz nach vier Uhr am Montagmorgen die erste reguläre Tram über die neuen Flüstergleise rollte. Ab 20 Uhr waren am Sonntag die ersten Testwagen gefahren, hatten den Kontakt zur Fahrleitung und die Spurlage getestet und die korrekte Weichensteuerung überprüft. Trotz des hohen Zeitdrucks sei die Qualität der Bauarbeiten sehr gut, lobten die Verkehrsbetriebe.
Dem Verkehrsminister erschloss sich die Qualität ganz unmittelbar: Er konnte seine Ansprache trotz direkt neben ihm rollender Bahn halten, ohne von Quietschen, Kreischen oder Holpern unterbrochen zu werden. Bis zur Begehung der Brücke kam der Tross aber nicht mehr. Im Schatten des Fortunaportals warteten gekühlte Getränke, und dann mochte bei der Hitze niemand mehr weiter. Wie bei einer Klassenfahrt.

Erschienen am 02.09.2009

Der Thron muss noch warten

Montag, 24. August 2009

Film: Frank-Walter Steinmeier besuchte Sets von Hexe Lilli und Sandmann

POTSDAM-BABELSBERG| „Schade, dass der Thron noch nicht da ist. Der hätte jetzt gut gepasst“, sagt jemand aus der Filmcrew von „Hexe Lilli“ zum Kandidaten Steinmeier. Der lächelt gequält. Selbst hier in den Babelsberger Studios, selbst an diesem sonnigen Sonntagnachmittag, kann der Wahlkämpfer die Umfragen nicht vergessen. Und natürlich ist Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Wahlkampf hier, denn Filmstudios gehören für gewöhnlich nicht zu seinen Kernaufgaben als Außenminister. Ein ganzer Tross aus Studiomitarbeitern führt Steinmeier nach einem Gespräch mit Studiochef Carl Woebken über das aufwändige Set des zweiten „Hexe Lilli“-Films, der 2011 in die Kinos kommen soll. Steinmeier erfährt, dass es sich um eine für europäische Maßstäbe sehr aufwändige Produktion handelt, betrachtet interessiert den fertigen und professionell eingestaubten Basar und ist guten Mutes, bis im Thronsaal das traurige Lächeln sich durchringt. Die Thronassoziationen holen den Kandidaten in die Wirklichkeit der Umfragen zurück.
Doch der Besuch hat eine Menge Presse angelockt, das Drängeln und Schieben der Fotografen und Kameraleute in den engen Kulissen erinnert an modernen Ausdruckstanz. Steinmeier wirkt indes konzentriert, ja fast versunken. „Das wär kein Platz für mich“, sagt er angesichts des aufwändig gestalteten Thronsaals, „ansehen zu müssen, wie die Arbeit von Jahren nach drei Tagen überflüssig wird“. Was für ein Satz! Einem Reporter bricht vor Begeisterung der Bleistift ab. Steinmeier schaut ihn an, zieht sybillinisch die Mundwinkel hoch.
Per Elektrocar geht’s weiter zur Caligari-Halle. Händeschütteln mit Filmpark-Chef Friedhelm Schatz, dann erklärt Jan Bonath, wie der Sandmann gedreht wird. Es ist Tag 103 der 108-tägigen Produktion, das Set gilt als „heiß“, die Film-Mitarbeiter halten die Luft an, als Produzent Bonath Steinmeier den Hauptdarsteller in die Hand drückt. „Man kann ihn in jede Pose verbiegen, und die hält er dann“, sagt Bonath. Da staunt der Wahlkämpfer Steinmeier und schaut ein klein wenig neidisch. Als er den Sandmann wieder aus der Hand gibt, atmen zehn Leute von der Crew erleichtert auf.
Draußen sagt Steinmeier dann noch, dass er auf historischem Boden gestanden habe, dass nirgendwo auf der Welt länger Filme gemacht werden und dass Babelsberg nicht von der Geschichte, sondern von seiner Zukunft lebe. Dann muss er weiter. Sollte ihm das Volk wider Erwarten am 27. September auf den Thron heben, wird er wiederkommen. Carl Woebken sähe das gern. Er rühmte den Kandidaten als einen der Gründerväter des Deutschen Filmförderfonds, von dem Babelsberg sehr profitiert.

Erschienen am 24.08.2009

„Keine netten Menschen“

Freitag, 22. Mai 2009

Ausflug: Eine Art Katastrophentourismus: Grüne schippern am Griebnitzseeufer

POTSDAM | Jonathan ruft unverdrossen „Hallo!“, zu jedem Boot, das vorbeizieht – ganz gleich, ob jemand zurückruft. Diese bedingungslose Freundlichkeit haben nur Zweijährige. Sie wirkte anrührend und seltsam deplatziert auf jenem Floß, mit dem der Kreisverband der Grünen am Mittwochnachmittag jeden, der wollte, über den Griebnitzsee schipperte – um den Schaden am nur noch teilweise erkennbaren Uferweg sichtbar zu machen, damit die Potsdamer sich nicht an die Sperrung gewöhnen und „um Flagge zu zeigen“, wie Kreisvorsitzende Eva Benirschke erklärt. Dieses Flaggezeigen wird ein wenig dadurch erschwert, dass eine Grünen-Flagge, ökologisch korrekt mit Seil am Floß befestigt, gleich beim ersten Anlegeversuch in den Fluten des Sees versinkt. Irgendwer aus dem Floßinneren merkt an, dass das nicht geschehen wäre, wenn man statt eines Plastikstiels einen ökologisch wünschenswerten Holzstiel benutzt hätte: Dann wäre die Flagge geschwommen.

Es ist der zweite symbolische Kollateralschaden des politisch motivierten Ausflugs. Der erste tritt ein, als Seeanrainer und Stadtverordneter Wolfhard Kirsch (Bürgerbündnis) von seinem gesperrten Grundstück aus etwas zum Floß ruft. Man versteht sich nicht – akustisch wie inhaltlich – und so setzt sich Kirsch ans Steuer eines Motorbootes, umkreist das Floß und erklärt von Deck zu Deck, dass er einst kompromissbereit war und das auch dokumentieren könne. Es fallen einige weniger freundliche Sätze, dann gibt Kirsch Gas. Eine Verfolgung ist weder gewünscht noch angesichts von sechs PS aussichtsreich. Doch auf dem Floß bleibt der Nachgeschmack ob dieser Symbolik und trübt die Stimmung.

Sie wird nicht besser, als die Mitreisenden das ganze Ausmaß der Baumaßnahmen sehen: Die möglicherweise illegal auf den schmalen Pfaden angerollten 30-Tonner haben ganze Arbeit geleistet. Manche Grundstücke sehen aus, als habe es nie einen Weg gegeben, andere erinnern an Kraterlandschaften. Eine Frau fragt genau dahin, wo es den Grünen weh tut: Warum sie nicht Enteignungen fordern, wie es die Linke tut. Eva Benirschke schweigt eine Weile, dann sagt sie: „Wir können uns doch nicht den Linken anschließen.“ Außerdem widerstrebe es ihr, den Anrainern, „ auch noch Steuergelder in den Rachen zu werfen.“ Jonathan grüßt derweil mit seinem unverdrossenen „Hallo!“ jemanden auf einem Ufergrundstück. „Lass das!“, sagt seine Mutter und drückt das Ärmchen herunter, „das sind keine netten Menschen“. So geht es zwischen Dampferanlegestelle und Park Babelsberg hin und her – eine Form von ohnmächtigem Katastrophentourismus auf einem Holzfloß. Grüne und Sympathisanten bleiben dabei weitgehend unter sich, an Bord sind Sätze wie „Jetzt genieß doch mal die Fahrt, Malte, und ärger’ Dich nicht“ zu hören. Irgendwann schwappt eine Welle über den Bug und macht alle, die ganz vorn sitzen, patschnass. „Grüne gehen baden“, titelt ein Mitreisender. Ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Doch irgendwo auf dem schlammigen Grund des Griebnitzsees liegt eine Parteiflagge.

Erschienen am 22.05.2009


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