Archiv für die Kategorie „Märkische Allgemeine“

WAS BLEIBT: Rauchmelder-Arkadien

Donnerstag, 12. April 2012

Es gibt für fast jede Randgruppe einen eigenen Tag, dieser hat aber selbst uns noch überrascht: Morgen ist der bundesweite Tag des Rauchmelders. Höchste Zeit für ein Interview mit einem Vertreter, fand Jan Bosschaart.

Tag des Rauchmelders – braucht die Welt so etwas wirklich?
Rauchmelder: Nun, wenn nicht gerade die Luft brennt, lassen wir ja nicht eben viel von uns hören.

Stimmt. Ist Potsdam denn ein gutes Pflaster für Ihresgleichen?
Rauchmelder: Sagen wir mal diplomatisch, es wird besser. In vielen Schulen und Kitas der Stadt waren wir ja lange Zeit deutlich unterrepräsentiert, aber seit ein paar Jahren wächst unsere Community auch dort zuverlässig.

Sie müssen immer gleich an die Decke gehen – nervt das nicht?
Rauchmelder: Das ist eine ambivalente Geschichte. Am Boden oder an der Wand gäbe es natürlich weniger zu tun, aber wenn man seine Aufgabe wirklich ernst nimmt, führt kein Weg an der Decke vorbei.

Verstehe. Nun ist die Zahl der Brände ja seit Jahren rückläufig. Ist Potsdam eine Art Schlafstadt für Sie, ein Rauchmelder-Arkadien?
Rauchmelder: Das würde ich nicht so sagen. Es kommt ganz drauf an, wo Sie stationiert sind. Im Stadthaus zum Beispiel gibt es viel zu tun. In Beigeordnetenkonferenzen ist die Luft so dick, dass teilweise mehrfach pro Sitzung die Batterien gewechselt werden müssen, ähnlich ist es im Plenarsaal, wenn’s ums Schwimmbad geht. Letztes Jahr hatten wir monatelang bei den Stadtwerken Großeinsatz, da brannte eigentlich ständig die Luft.

Und im Büro des Oberbürgermeisters?
Rauchmelder: Ach, da ist es vergleichsweise ruhig. In den letzten Monaten hatten wir nur zwei Einsatzfälle. Einmal, als sich der Baudezernent zum Haushalt geäußert hatte und dann zur „Aussprache“ gebeten wurde und einmal, als der OB sich nach Dienstschluss allein wähnte und eine Zigarette ansteckte.

Der Rauchmelder als Petze? Wie gemein! War das Schadenfreude?
Rauchmelder: Ich habe im Nachhinein mit dem Kollegen gesprochen. Er litt wohl schlichtweg unter einem Defizit an Zuwendung. Die Batterie war lange nicht getauscht, und auch der Probealarm ewig nicht geschaltet worden. Da ist ihm wohl die Sicherung durchgebrannt. Im übertragenen Sinne, versteht sich.

Ist das Rauchverbot seit 2008 eigentlich ein Problem für Sie?
Rauchmelder: Anfangs hatten wir mit einer gewissen allgemeinen Depressivität zu kämpfen, ja. Der Raucher war ja eine Art Komplize. Bevor er sich im Hotel oder Büro eine ansteckte, wanderte der Blick zur Decke, man beäugte den Gegner respektvoll und blies dann in die andere Richtung. Das entfällt nun. Aber wir haben ein Motivationsprogramm aufgelegt und den internationalen Rauchmeldertag eingeführt, und kämpfen uns aus dem Sumpf heraus.

Was kann der Normalverbraucher tun, um dem Rauchmelder dabei zu helfen?
Rauchmelder: Einmal im Monat den Alarm checken und gelegentlich mal das Gulasch auf dem Herd vergessen, das wäre nett. Es zeugt vom Respekt für unsere Arbeit und reduziert die Zahl der Fehlalarme, die einzig aus dem Gefühl der Vernachlässigung entstehen.

Erschienen am 12.04.2012

Rechenfehler an der Alten Fahrt

Dienstag, 27. März 2012

Rechnungsprüfer: Grundstücke nicht korrekt vergeben / Unterlegene haben Recht auf Schadensersatz

Drei von acht Grundstücken hätten andere Eigentümer, wenn so gerechnet worden wäre, wie es die Ausschreibung suggerierte.

Ein systematischer Fehler in der Bewertung der Angebote für Neubauten an der Alten Fahrt stellt das Ergebnis des aufwändigen, zweistufigen Wettbewerbs infrage. Nach Auffassung des Rechnungsprüfungsamtes (RPA), der Gerichte und einiger Bieter haben die Stadt und der mit dem Wettbewerb befasste Sanierungsträger durchgehend falsch gerechnet, als es um Barberini, Chiericati, Pompeji und Nachbarn ging. Trifft das zu, dann sind drei Grundstücke falsch vergeben worden: Das Eckgrundstück Humboldtstraße 1–2 hätte statt vom niederländischen Konzern „Kondor Wessels“ vom Elmshorner Unternehmer Semmelhaack erworben werden können, die Brauerstraße 3 wäre an die Firma Elpro statt der Complan gegangen und die Brauerstraße 2 an die Bietergemeinschaft Seisreiner/Malik statt an die Lelbach-Stiftung. Bei den anderen Grundstücken ändert die Rechenart den Gewinner nicht.
Das Problem liegt in der Bewertung des Kaufpreises. Laut Ausschreibung erhielt der Bieter mit dem höchsten Gebot fünf Punkte, der mit dem niedrigsten Gebot null. „Die Punkte der dazwischen liegenden Gebote werden durch lineare Interpolation ermittelt“, heißt es in der Ausschreibung. Demnach hätte, wenn es drei Bieter gäbe, und diese eine, zwei und drei Millionen geboten hätten, Folgendes passieren müssen: Der schlechteste Bieter (eine Million) hätte null Punkte bekommen, der beste (drei Millionen) fünf Punkte und der mittlere (zwei Millionen) 2,5 Punkte. Stattdessen ließ die Stadt aber so rechnen, als hätte der schlechteste Bieter auch null Euro geboten – was die Reihenfolge durcheinander wirbelt. Dadurch sind die Gebote „deutlich breiter gespreizt“, argumentierte Volker Theobald, Leiter des Team „Recht“ beim Sanierungsträger gegenüber dem RPA. „Wir sind trotzdem absolut von der Fehlerhaftigkeit überzeugt“, schrieb Rechnungsprüfungsamts-Chef Christian Erdmann an den Oberbürgermeister – mit Verweis auf die anders lautende Ausschreibung. „Um die Fehlerhaftigkeit zu erkennen, bedarf es keines großen mathematischen Sachverstandes“, fügte Erdmann noch an.
Das schlug hohe Wellen in der Verwaltung. Baudezernent Matthias Klipp war so erbost, dass er die Kündigung der Antikorruptionsbeauftragten Petra Rademacher forderte, die den Fehler zuerst bemerkt hatte, sagen RPA-Mitarbeiter. Deren Chef Christian Erdmann verwahrte sich dagegen. Unterdessen ließ der Sanierungsträger öffentlich erklären: „Rechenfehler gab es nicht! Das Verfahren wurde von Seiten der Antikorruptionsbeauftragten und der Ombudsfrau durchleuchtet und es wurde nichts zu Beanstandendes festgestellt“.
Unterdessen haben die unterlegenen Bieter bereits den Weg zu den Gerichten gesucht. Eine Bietergemeinschaft zog vors Landgericht, um wegen der Rechenfehler zu verhindern, dass mit dem vermeintlichen Gewinner ein Kaufvertrag geschlossen wird. Das Gericht bestritt zwar den Anspruch auf einen Kaufvertrag, wies aber darauf hin, dass die Unterlegenen wegen der Rechenfehler Schadenersatz bekämen müssten. Ähnlich äußerte sich das Oberlandesgericht. Zwar würden andere Gerichte in solchen Fällen durchaus die Stadt gezwungen haben, die Verträge zu lösen und neu zu vergeben, doch sehe sich das OLG außerstande, wegen einer Regelungslücke im Gesetz das Recht selbst fortzuentwickeln. Stattdessen sei der Gesetzgeber gefordert. Schadenersatz stehe den Parteien zu. Die „Elpro“ prüft indes noch weitere rechtliche Mittel, Semmelhaack wollte sich „derzeit“ noch nicht zu weiteren Schritten äußern.
Die Stadtverordneten hatten die Verträge übrigens in Kenntnis der Bedenken beschlossen. Oppositions-Chef Hans-Jürgen Scharfenberg (Linke) sagte, es sei Sache der Gerichte, nicht der Politik, diese Fragen zu klären.

Erschienen am 27.03.2012

Grube in Aufruhr

Dienstag, 27. März 2012

60 Linke, 30 Rechte, 40 Polizisten: Das Dorf als Schauplatz eines Konflikts, der eigentlich nach Berlin gehört

Weil der Vermieter eines Bekleidungsgeschäfts für Rechte in Grube gemeldet ist, kam es dort am Sonntag zu gleich zwei Demonstrationen.

Es gab ein böses Erwachen für Grube an diesem schönen Frühlingssonntag: Von einigen Straßenbäumen baumelten Galgenschlingen, auf Beton und Asphalt waren mit Kreide rechte Parolen geschmiert, Thor-Steinar-Aufkleber verunzierten die Leitplanken. Zwar hatten Ordnungsamt und Polizei das meiste schnell entfernt, doch sahen viele Gruber ihre böse Vorahnung bestätigt: Bereits als in der letzten Woche die Antifa und die Fraktion „Die Andere“ eine Demonstration in dem kleinen Ortsteil angekündigt hatten, um dem Vermieter eines Geschäftes für „rechte“ Bekleidung in Berlin-Weißensee ihren Protest vor die Haustür zu tragen, zeigte sich der Ortsbeirat besorgt, dass damit „politische Auseinandersetzungen“ in die „Privatsphäre“ getragen würden, man fürchtete gar „Straßenschlachten“.
Der Sonntagmorgen war da kein gutes Omen. Klammheimlich waren die Rechten in der Nacht vorgegangen – doch vielleicht nicht taktisch klug. Denn die Polizei reagierte sofort und setzte statt wie geplant ein Dutzend Beamte noch Einheiten der Bereitschaftspolizei ein, so dass am frühen Nachmittag schon 40 Polizisten in dem in der Mittagsruhe dämmernden Dorf standen, als sich rund 30 Rechte am Ortsrand versammelten. Die Polizisten fingen sie ab. Da die Rechten keine Veranstaltung angemeldet hatten, wollte Einsatzleiter Karsten Blöss sie wegschicken, doch die Herren erwiesen sich als geschult und beantragten eine „Eilversammlung“ mit dem Thema „Gegen linke Gewalt“. Der musste Blöss stattgeben, weil das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit höher wiege als die Nicht-Anmeldung, sagte er nachher. Er sorgte aber dafür, dass die Herren am Ortsrand stehen blieben und sicherte das mit einem Dutzend Polizisten ab. Zudem nahm die Polizei von allen die Personalien auf, für den Fall, dass sie Straftaten begehen würden – allein diese Maßnahme dezimierte die Gruppe im Nu auf 20. Auch die mitgebrachten Fahnen und Transparente unterzog die Polizei einer Vorprüfung. Aus einem Kofferraum mit Reichsadler-Bedruck, der statt des Hakenkreuzes aber das Logo einer – natürlich deutschen – Automarke zeigte, holten die Rechten zwei Reichskriegsflaggen und ein Transparent, das dazu aufrief „antifaschistische Strukturen zu zerschlagen“. „Ist leider legal“, sagte trocken dazu der überprüfende Polizist.
Indes waren auch die eigentlichen Demonstranten per Bus angelangt: Hannes Püschel von der „Anderen“ und sieben weitere Mitstreiter, darunter Martin Sonnenburg von der Berliner Initiative „Kein Kiez für Nazis“. „Dann hat sich’s ja gelohnt, dass wir die Demo nicht abgesagt haben“, meinte Püschel trocken mit Blick auf die rechte Front. Sonnenburg indes klärte nochmal über die Gründe auf: Seit einiger Zeit gibt es einen Thor-Steinar-Laden in der Berliner Allee in Berlin-Weißensee. Der Vermieter wohne in Grube, und da man ihn gern bitten würde, den Laden anderweitig zu vermieten, ihn aber nicht erreiche, schaue man nun vorbei, sagt Sonnenburg. Zwar hatte der Ortsbeirat schon recherchiert, dass der Mann zurzeit in Thailand im Urlaub ist, aber Sonnenburg hoffte, die Gruber dazu zu bringen, ihn auf das Problem anzusprechen. In Weißensee habe sich längst eine parteienübergreifende Koalition gebildet, die den Vermieter auffordert, anders zu vermieten, doch bislang sei man noch nicht im Gespräch. Ob der Mann selbst Neonazi sei oder einfach nur Geschäftsmann, der an den Meistbietenden vermiete, konnte Sonnenburg nicht sagen.
Ins Gespräch kamen die Linken, deren Zahl im Laufe des Nachmittags dank Linienbussen und Fahrrädern noch auf 60 anwuchs, aber weder mit Vermieter noch mit den Rechten – die Polizei hielt die Gruppen säuberlich getrennt – noch mit den Grubern. Die standen zwar an Gartentoren, lugten hinter Gardinen vor oder beobachteten das Geschehen in einer größeren Gruppe aus gehörigem Abstand, mochten sich aber nicht zu längeren Meinungsäußerungen hinreißen lassen. „Überflüssig“, „gespenstisch“ und „die sollen uns in Ruhe lassen“ war das einzige, was ihnen an Kommentaren zu entlocken war. Carola Walter, die als einzige vom Ortsbeirat gekommen war, ärgerte sich vor allem über drei Gartenzwerge, die für „nichts hören, nichts sehen, nichts sagen“ standen und von den Linken an die Hauptstraße gepflanzt wurden. Das sei „eine völlig überflüssige und deplatzierte Provokation“, sagte sie. Die Demonstranten nahmen die Zwerge darauf hin weg – um sie vor den Rechten erneut aufzupflanzen.

Erschienen am 27.03.2012

SAMSTAGMORGEN: Nackt im Eiskeller

Samstag, 24. März 2012

Über ein Naturgesetz und seine alltagspraktische Anwendung

Dass es ein Naturgesetz, ja geradezu ein philosophisches Prinzip ist, dass sich die Dinge bei Wärme ausdehnen und bei Kälte zusammenziehen, merkt der Mensch schon in recht jungen Jahren, lange, bevor ihm dergleichen im Physikunterricht beigebracht und erklärt wird und lange, bevor er es ganz biologisch-lebenspraktisch in der Pubertät an sich oder anderen erfährt. Schließlich sind, einem Kalauer folgend, ja auch die Sommerferien länger als die Winterferien. Allein, das Prinzip ist allumfassend, es dehnt sich auch in den psychologischen und politischen Raum aus. Während sich etwa im Finanzausschuss die Haushaltsdebatte an nur einem Tagesordnungspunkt im überhitzten Sitzungssaal zwei Stunden lang hinzog, ging es nach kräftigem Lüften mit den restlichen 15 Tagesordnungspunkten in wenigen Minuten zuende. Daraus ergibt sich folgender Rat: Alle weiteren Konsultationen aller Beteiligten zur Schwimmbadfrage sind im Eiskeller abzuhalten. Nackt.

Erschienen am 24.03.2012

Schwarzer Peter

Samstag, 10. März 2012

Über das Mietendilemma und die allgemeine Unzuständigkeit

Das Dilemma der hohen Mieten hat in Potsdam mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das alle Beteiligten zum munteren Schwarzer-Peter-Spielen veranlasst: Die Stadtpolitik sagt, die Stadt müsse für günstigere Wohnungen sorgen. Die Stadt sagt, das Land oder der Bund müssten den sozialen Wohnungsbau fördern. Das Land sagt, wir fördern anderswo Abriss, ihr habt da ein Luxusproblem, und hält die Sache damit für erledigt. Der Bund sagt was von Bevölkerungsrückgang und wendet sich danach wieder der Finanzkrise zu. Na gut, sagt die Stadt, dann müssen halt die sozialen Wohnungsunternehmen ran, dafür sind die ja da. Ihr spinnt wohl, sagen die Wohnungsunternehmen – sie drücken es nur freundlicher aus –, wenn wir Euren Neubaubedarf decken, dann steigen alle Mieten in einem Maße, dass ihr gleich die Hälfte der Einwohner austauschen könnt. Dann sitzen alle im Kreis und schauen sich bedröppelt an. Und nun? Nun werden diverse Arbeitskreise gegründet, die zwar die Kostensteigerungen nicht aufhalten können, aber nach einigen Monaten herausfinden, warum die Mieten steigen. Wahrscheinlich, weil Potsdam schön ist, wächst und genug Leute kommen, die mal eben elf Euro pro Quadratmeter hinblättern können, mit dem Verweis, dass Hamburg noch viel teurer ist. Schön für sie. Schade für Potsdam.

Erschienen am 10.03.2012

Der Buchstabenbäcker

Mittwoch, 7. März 2012

Friedrich Althausen erfindet Schriften / Seine „Vollkorn“ hat im Internet bereits Karriere gemacht

Von der Erotik geschwungener Linien, der Todsünde der Fettung und den Avancen einer Suchmaschine.

Mit den Schriften, sagt Friedrich Althausen, sei es wie mit Frauen: auf die Kurven komme es an. Er sagt das ganz ernst, ohne zweideutiges Lächeln, und schwärmt dann von der Faszination der Buchstaben, vom Kribbeln in den Fingern, wenn der Bogen an einem B besonders schwungvoll gelungen ist, wenn an der Serife des kleinen l, dem Rand am Buchstabenende, genug „Fleisch“ – genug Dicke – dran ist, wenn beim Betrachten einer Buchseite der „Grauwert“, das Verhältnis von Schwarz und Weiß, ausgewogen wirkt und sich Ober- und Unterlängen der einzelnen Lettern zu einem harmonischen Bild ergänzen. „Wen dieses Feuer gefangen hat, der sehnt sich künftig danach“, sagt Friedrich Althausen, und in dem sonst zwar engagiert, aber eher kühl wirkenden Gesicht zeichnet sich eine Leidenschaft ab.
Der 30-jährige Schriftgestalter hat auf Hermannswerder Abitur gemacht und ist dann nach Weimar gegangen, um an der Bauhaus-Universität Mediengestaltung und Visuelle Kommunikation zu studieren. Seit einem Jahr ist er zurück in Potsdam und arbeitet als Typograf und Schriftgestalter. Schon im Studium begann Friedrich Althausen mit einer Schrift, die er „Vollkorn“ nannte – weil es sich um eine „Brotschrift“ handelt. „Brotschrift“ nennen Schriftsetzer eine Alltagsschrift für längere Fließtexte. Da sich Althausens Schrift als zurückhaltend und klassisch, aber eben auch kräftig, kernig und robust präsentierte, habe der Name Vollkorn nahegelegen, trotz der schlechten internationalen Vermarktbarkeit, sagt er. Althausen stellte die Schrift ins Internet und erlaubte jedem die kostenlose Nutzung. Unter Schriftfreunden erfreute sich die Vollkorn schnell einiger Beliebtheit, viele forderten auch eine fette und eine kursive Version – einen „Schnitt“ – der Schrift. Unter Buchstabengourmets gilt die rein digitale Schrägstellung oder Fettung einer Grundschrift nämlich als Todsünde, da dabei die Proportionen und Formen verloren gehen. Vor dieser Arbeit drückte sich Friedrich Althausen zunächst – eine Schrift zu schaffen und zu perfektionieren, kann Jahre dauern –, bis eines Tages eine E-Mail vom Internetriesen Google in seinem Postfach landete, die er fast als Werbemüll aussortiert hätte. Dort bot ihm ein Google-Mitarbeiter an, die Schrift in eine neue Schriftendatenbank des Unternehmens zu stellen, die auch jedem Nutzer kostenlos offen steht. Da sich Google aber mit Vollkorn schmücken wollte, zahlte das Unternehmen ihm 1000 Dollar für jeden Schnitt, wenn er noch die anderen Schnitte kursiv, fett und fett-kursiv dazuerfände. In einem dreimonatigen Gewaltakt war das vollbracht, und auch die schon vorher begeisterten Vollkorn-Freunde freuten sich über den Zuwachs. „Ich mag, wie edel die Kursive daherkommt, und ich mag, wie selbstbewusst die Fettschrift sich breit macht“, schwärmt Stefan Niggemeier, Medienjournalist und viel gelesener Internetblogger von der Vollkorn, die er für die Renovierung seiner Internetseite nutzte: „Markant, aber unaufdringlich; gediegen, aber kein bisschen maniriert“. Ein bisschen hat er damit auch Friedrich Althausen beschrieben, der zwar stolz auf den Erfolg der Vollkorn ist, mit seinen Schriften aber gern sein Brot verdienen würde. Bislang füllt er sein Konto hauptsächlich mit der Gestaltung und Illustration von Büchern und Plakaten. Eine neue, diesmal kommerzielle Schrift ist aber schon in Arbeit – sie basiert auf alten Drucken der DDR-Kinderbuchreihe „Knabes Jugendbücher“, die Althausen im Zuge seiner Diplomarbeit neu auflegte.

Erschienen am 07.03.2012

Knapp 7 Gramm

Donnerstag, 1. März 2012

Geschichte Preußenprinz verkauft prestigereichsten Diamanten aus dem Kronschatz

Um finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen, lässt das aktuelle Oberhaupt der Hohenzollern-Familie einen Edelstein versteigern, der wie kaum ein zweiter die europäische Adelsgeschichte dokumentiert.

POTSDAM/GENF Es sind nicht einmal sieben Gramm, doch obgleich lupenrein, haben sie es in sich: Mehr als 400 Jahre europäischer Geschichte stecken im „Beau Sancy“, einem Diamanten aus dem preußischen Kronschatz, der am 15. Mai in Genf zur Auktion kommt. Friedrich I., der die Königswürde nach Preußen holte, ließ den fast 35 Karat schweren Edelstein, der schon damals berühmt und daher prestigeträchtig war, in die Königskrone einarbeiten. Sein Enkel Friedrich II. schenkte den Stein seiner Gattin, und seither trugen alle preußischen „First Ladys“ den im Doppel-Rosenschliff gehaltenen größten Edelstein des Hauses Preußen (zirka 23 mal 20 mal 11 Millimeter) bei ihrer Hochzeit und anderen hohen Anlässen. Es darf daher vermutet werden, dass Georg Friedrich Prinz von Preußen, der im August in Potsdam geheiratet hat, die Entscheidung zum Verkauf dieses wertvollen Familienerbstückes nicht leicht gefallen ist. Die Familie habe viele Renten und sonstige finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen, die den Verkauf erforderlich machten, hieß es dazu knapp von einer Sprecherin. Zuletzt getragen wurde der Diamant nach Kenntnis des Hauses bei der Hochzeit des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. von dessen Gattin Auguste Viktoria. Als Wilhelm II. 1918 ins Exil floh, blieben die Kronjuwelen in Berlin. Im zweiten Weltkrieg wurden sie in eine zugemauerte Krypta in Bückeburg gebracht, wo sie britische Truppen fanden und dem Haus Preußen schließlich zurückgaben.
Auf rund 1,5 bis drei Millionen Euro Wert schätzen die Gutachter des Auktionshauses Sotheby’s den Stein, der aus den berühmten indischen Minen nahe der Stadt Golconda stammen soll, aus denen die weltweit bekanntesten Diamanten stammen, auch der „große Bruder“ des „Beau Sancy“, der „Grand Sancy“, mit rund 55 Karat (elf Gramm) deutlich schwerer.
Doch auch bevor der Stein in preußische Hände fiel, hatte er schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Erworben vom „Lord von Sancy“ in Konstantinopel im Jahr 1500, kaufte ihn 1604 der französische König Heinrich IV. auf Drängen seiner Gattin Maria de Medici, die um so nachdrücklicher bat, als sie erfuhr, dass der große „Sancy“ an die englische Krone verkauft war. Als Heinrich IV. 1610 ermordert wurde und seien Frau vorübergehend den Thron bestieg, ließ sie den Stein in ihre Krone einarbeiten. Maria musste 1631 in die Niederlande fliehen und verkaufte den Beau Sancy an das Haus Oranien-Nassau (Niederlande) für 80 000 Gulden – damals die höchste Ausgabe im Staatshaushalt des gesamten Jahres. So ging es weiter: Durch die Hochzeit eines Nassauischen Königs mit Maria Stuart gelangte der Stein nach Schottland, später an den Thron von England und fiel schließlich wegen Kinderlosigkeit wieder an Oranien-Nassau zurück. 1702 übernahm der Preuße Friedrich I. das Vermächtnis des Hauses von Oranien und gelangte so in den Besitz des prestigereichen Diamanten, der perfekt zur soeben errungenen Königswürde passte. Dort blieb der Stein fast 300 Jahre. Georg Friedrich – auch er ist noch ein Prinz von Oranien – verkauft also nicht nur ein Prestigeobjekt der Familienhistorie, sondern auch ein Stück europäischer Geschichte.

Erschienen am 01.03.2012

Ohne Hang zum Krawall

Donnerstag, 23. Februar 2012

Johannes von der Osten-Sacken ist Berufsrichter und seit kurzem FDP-Fraktionschef

Von der rhetorischen Keule hält er wenig: Mit stiller, kluger Sacharbeit will der neue Fraktions-
chef Wähler gewinnen.

Es macht ihm sichtlich Spaß. Fast weidet er sich ein wenig daran, an der Reaktion auf diesen Kontrast aus Form und Inhalt, aus Erwartung und Überraschung. Denn formal wirkt Johannes Ullrich Theodor Baron von der Osten genannt Sacken wie die Fleischwerdung des konservativen, statusbewussten Richters nach süddeutscher Prägung: Adelstitel, Siegelring mit Familienwappen, Trachtenhut, Cordsakko. Doch dann staunt der Besucher über das für einen Vorsitzenden Richter am Landgericht kleine Büro, und von der Osten-Sacken sagt ganz leichthin: „Für mich reicht’s, ich habe keinerlei Repräsentationsbedürfnisse“ – und schaut genau hin, wie dieser Satz aufgenommen wird. Er ist ohnehin ein konzentrierter Zuhörer, der Herr Richter, auch wenn er dabei gern auf dem Stuhl lümmelt, was ihm – eingeräumtermaßen – auch im Gerichtssaal und – beobachtetermaßen – im Bildungsausschuss passiert. Doch sobald er Sätze sagt wie „Ich war früher ziemlich links, habe beim Protest in Wackersdorf am Zaun gerüttelt“, richtet er sich auf, und die Mundwinkel verziehen sich zu einem amüsierten Lächeln, das sagt: Das hätten Sie jetzt nicht gedacht, gell?
Ähnlich unprätentiös ist von der Osten-Sacken auch vor vier Monaten in seine neue Funktion als FDP-Fraktionsvorsitzender gerutscht – eine Partei, der er erst seit drei Jahren angehört und für die er bei der Kommunalwahl kandidierte, ohne große Ambitionen auf die Macht zu haben – sondern eher aus einer Art Pflichtbewusstsein. „Wenn ich mich aufstellen lasse und dann gewählt werde, dann nehme ich das Mandat auch an“, sagt er. Als dann im Spätherbst überraschend Martina Engel-Fürstberger als Fraktionsvorsitzende ausschied, rutschte von der Osten-Sacken nicht nur nach, sondern auch gleich auf den Chefposten der vierköpfigen Fraktion. „Ich habe mich nicht um den Vorsitz gedrängt“, sagt er – ein typischer Politikersatz, doch dem 51-Jährigen glaubt man es sogar. Die anderen Fraktionäre seien beruflich noch mehr eingespannt gewesen. Das mag stimmen, doch mit rund 1200 neuen Fällen im Jahr kann auch von der Osten-Sacken als Vorsitzender der Zivilkammer des Landgerichts über Langeweile nicht klagen. 3000 bis 4000 Aktenseiten muss er an manchen Tagen durchackern – „einen nicht vorbereiteten Richter erkennen Anwälte sofort und nutzen das zu ihren Gunsten“. Dagegen sind die Papierberge der Stadtverordnetenversammlung offenbar ein Kinderspiel.
Besonders aufgefallen ist von der Osten-Sacken im Plenar indes noch nicht, denn mit seiner eher besonnenen und an den Fakten orientierten Art ist der Kontrast zur Vorgängerin, die auch mal die rhetorische Keule herausholte, wenn sie es für angebracht hielt, recht ausgeprägt. Sein Credo laute eher „beobachten, analysieren, ausgleichen, bescheiden“. Ob das für die Außenwahrnehmung einer Partei, die bundesweit eine einmalige Krise durchlebt, genügt? „Ich empfinde es oft als zielführend“, sagt Osten-Sacken, ganz Jurist. Die Stadt vernünftig zu verwalten sei wichtiger als Krawall, etwa: für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen. Gerade in einer Kooperation aus vier Parteien sei niemandem gedient, wenn man laut „Diebstahl!“ rufe, sobald eine andere Fraktion den eigenen Antrag übernimmt. Man könne dann auch „Super, dass ihr unserer Meinung seid“ sagen. Er hat halt wenig Repräsentationsbedürfnisse, der Herr Baron.

Erschienen am 23.02.2012

WAS BLEIBT: Hotz Potz!

Donnerstag, 23. Februar 2012

Dass Verkehrsplaner zu den sympathischsten Exegeten einer verständlichen, klaren deutschen Sprache gehören, ist spätestens seit dem Moment bekannt, als der erste unter ihnen auf die ruhmreiche Idee kam, die schlichte, unmissverständliche und jedermann bekannte Ampel als „farblich differenzierte Lichtsignalanlage“ zu betiteln. Schwups hatte er aus zwei handlichen Silben und einer klaren Ansage 13 den Selbstwert und den Expertenstatus vermeintlich enorm hebende Silben gemacht, die außerhalb seines Büros kein Aas mehr verstand. Da aber auch Verkehrsplaner sprechfaul sind, wurde daraus flugs die „FDLSA“, die nun wiederum nur noch über fünf Silben verfügt, dafür aber selbst den größten Ratefuchs unter den freiwilligen wie unfreiwilligen Verkehrsplanerzuhörern (vulgo: Bauausschussmitglieder und Journalisten) vor unüberwindliche Rätsel stellt. Darüber, dass unter Verkehrsplanern jede Wiese eine Grünfläche, jede Baumreihe ein Grünzug und jeder Feldweg eine Zuwegung ist, reden wir ja schon gar nicht mehr. Auch nicht über den Unsinn des Begriffes – Verzeihung: der Begrifflichkeit – „Ortsverbindungsstraße“ – als ob eine Straße je etwas anderes getan hätte, als Orte zu verbinden. Aber auch die Straße heißt ja nicht Straße, sondern Verkehrsraum – immerhin eine Silbe gewonnen, und ein Abstraktionsniveau erklommen. Soweit, so gut. Nun ist aber bekanntlich das Bessere der natürliche Feind des Guten, und so kam ein optimierungswütiger Verkehrsplaner auf die Idee, man könne ja mit der Zeit gehen und auch noch ein paar Anglizismen in die Verkehrsplanersprachsoße rühren, auf dass jedes Restrisiko gemildert werde, dass doch jemand unter den Zuhörern noch folgen kann. Im als Berufsgeheimnis behandelten und daher öffentlich kaum bekannten Verkehrsplanersprachverhunzungshandbuch steht unter dem Stichpunkt „Ausführungsbestimmungen“ dann noch, dass ebenjene Anglizismen möglichst deutsch ausgesprochen werden sollen, dschast in käs, dass jemand sonst verstünde. Und so ward dann am Dienstagabend bekannt, dass, wer bei rasch Aua an einem der Hotz Potz im Schdobbäntgoh steht, keine guten Karten hat. Alles klar? Nein? Also: In der Rush-Hour (Feierabendverkehr) an den Hot Spots (Brennpunkten) kann’s schon mal nur ruckweise vorangehen (Stop-and-go). Das hätte leider jeder verstanden. So aber war’s perfekt. Warum das so sein muss, hat ja der Baubeigeordnete erst letzte Woche eindrücklich belegt, als er auf einer Pressekonferenz Klartext sprach: Bums, Disziplinarverfahren. Hätte er das Minuswachstum in der Zuwendungsausstattung für die Instandhaltung des kommunalen Verkehrsraumvermögens thematisiert, es hätte niemand „Skandal!“ geschrien. Denn für Skandale muss man wach sein.

Erschienen am 23.02.2012

Überschaubar

Freitag, 17. Februar 2012

über das Risiko überraschender Hinterlassen- schaften von Fluggästen

Es bedurfte nicht dieses stinkenden Eisblocks aus einer Flugzeugtoilette, um zu wissen, dass das Sprichwort, demzufolge alles Gute von oben komme, seine besten Tage auch hinter sich hat. Doch selbst ohne den Glauben daran setzen in Quaderform gefrorene Fluggasthinterlassenschaften im Dachstuhl die Sorge frei, dass man nicht nur ein geruchstechnisches Problem erlitte, wenn sie statt der Schindeln oder Scheiben die eigene Schädeldecke durchschlügen. Das einschlägige Risiko ist aber, gelinde gesagt, überschaubar: Rund zehn versehentliche Eisbrocken aus Bordtoiletten errechnete ein Gutachten 2005 pro Jahr für Deutschland, fast alle davon schlugen in Gebäuden oder der freien Landschaft ein und setzten dort langsam ihren Zauber frei. Bislang ist weltweit kein Mensch zu Tode gekommen. Das Risiko des Ablebens ist damit deutlich geringer, als im Laufe eines 80-jährigen Lebens von einem Blitz (1:12 500), einem Meteoritensplitter (1:3,7 Milliarden) oder einem Lotto-Jackpot (1:163) erwischt zu werden. Der Griff zur Zigarette, das Einsteigen ins Auto oder zuviel Vertrauen auf den Satz „Der will doch nur spielen“ sind wesentlich riskanter. Tröstlich auch: Von tiefgekühltem Flugpipi erschlagen zu werden, würde im Gegensatz zu den Alltagsrisiken zumindest einen Platz in den Abendnachrichten sichern.

Erschienen am 17.02.2012


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