Dürre Argumentation

Die klassische Reaktion auf Ohnmacht ist Aktionismus. Auch Ulla Schmidt ist in diese Falle getappt: Angesichts der Ohnmacht der Gesundheitspolitik gegenüber der Magersucht fordert sie ein Laufstegverbot für zu dünne Models. Die Ministerin hat knochige Mannequins als Schuldige am verzerrten Körperbild der kranken Teenager ausgemacht, und auf diese Fehldiagnose folgt nun ein untauglicher Therapievorschlag. Das findet jede Stammtischrunde einleuchtend, und die Ministerin steht als Retterin der Töchter da.

Magersucht ist aber kein Problem des gesellschaftlichen Schönheitsideals, sondern eines der Selbstregulation, der Körperwahrnehmung und der Familienstruktur, das kann die Gesundheitsministerin in jedem klinischen Lehrbuch nachlesen. Oder in den extra für ihr Haus erstellten Forschungsberichten. Sie hat es vermutlich längst getan – und auf diese Weise erfahren, dass politisch dagegen wenig getan werden kann. Die Hilflosigkeit gegenüber der Magersucht ist offenbar nicht nur für Therapeuten, sondern auch für Gesundheitspolitiker schwer zu ertragen. So fordert Schmidt nun ein Verbot der Magermodels. Das ist billig zu haben, im doppelten Sinne: Es sieht aus, als tue die Ministerin etwas, und es kostet sie keinen Cent. Verdienstvoller, aber mühseliger und teurer wäre es hingegen, die Zwangsdiät in der psychotherapeutischen Versorgung endlich zu lockern. Seit fast zehn Jahren steigt der Bedarf an Psychotherapie in der Bevölkerung, doch weil das Budget dafür gedeckelt ist, erhalten die Patienten immer weniger Stunden. Das entstehende Therapie-Vakuum füllen die Pharmakonzerne gern aus: Sie bringen neue Substanzen auf den Markt, die Leidenszeiten verkürzen und Menschen schneller wieder in die globalisierte Arbeitswelt entlassen. Die Hoffnung auf Spareffekte im Gesundheitssystem ist dennoch trügerisch, weil selbst die beste Pille gegen Angst, Wahn oder Zwang nicht heilt, sondern nur während der Einnahmezeit die Symptome unterdrückt. Gegen viele Krankheiten ist zudem noch kein Medikament in Sicht – die hochkomplexe Anorexie gehört dazu.

Magersucht ist eine Krankheit des Individuums. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie das jeweilige Schönheitsideal beeinflussen nur die Symptomwahl, sie entscheiden nicht darüber, ob ein Mensch krank wird oder nicht. Eine Therapie kann daher nur beim Einzelnen ansetzen. Doch Therapien in ausreichendem Maß bereitzustellen, dazu ist das über jedes gesundes Maß hinaus verschlankte Gesundheitssystem derzeit kaum in der Lage. Diese Versäumnisse der Gesundheitspolitik kann auch Ulla Schmidts dürre Argumentation nicht verdecken.

(veröffentlicht am 20. Mai 2008)

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