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Magier an der Maus

Samstag, 2. August 2008

Olaf Skrzipczyk lässt für die Leinwand Tiere sprechen, Gebäude altern undMenschen jünger werden.Was Filmeffekte angeht, hält er Deutschland dennoch für ein Entwicklungsland.

Schnee. Schöner, weißer, großflockiger Schnee ist derzeit der Renner aus Olaf Skrzipczyks Angebot. Das hat so seine Gründe: Realer Schnee kommt und geht, wann er will, aber immer zum falschen Zeitpunkt – alte Filmregel. Kunstschnee kommt und geht, wann der Regisseur will, doch er ist teuer und er fällt, wie er eben fällt. Nur Olaf Skrzipczyks Schnee tut, was immer Olaf Skrzipczyk will – und was dem Regisseur vorschwebt. Sobald die Regisseure gemerkt haben, was möglich ist, sagt Skrzipczyk, fangen sie an, den Schnee zu choreografieren, ihn der gewünschten Wirkung der Szene anzupassen. Einer habe mal gesagt, „Olaf, der Schnee ist mir zu lyrisch. Ich brauche prosaischeren Schnee“. Für Skrzipczyk ist das kein Problem. Es kostet ihn ein paar Stunden Arbeit, einige Mausklicks und etwas Rechenpower. Danach fällt der Schnee eben prosaisch. Oder theatralisch. Vielleicht sogar sehnsüchtig. Regisseure sind, was das angeht, kreativ.

Das muss Olaf Skrzipczyk, Geschäftsführer der Firma Exozet Effekte im Filmpark Babelsberg, auch sein. Das Geschäft mit den visuellen – heute heißt das vor allem: digitalen – Effekten ist keine Fließbandarbeit und darf auch keine werden. Selbst wenn drei Regisseure für verschiedene Filme digitalen Schnee wünschen, legen Skrzipczyks Leute am Computer nicht einfach ein paar Flocken über die fertige Szene. Im Gegenteil: Wenn es gut läuft, sagt der geborene Dessauer, werde seine Firma schon beim Drehbuchschreiben hinzugezogen, um von Anfang an erklären zu können, was möglich ist und wie es eingebunden werden kann: „Wer uns für Postproduktion hält, die nur hier und da ausbessert, nutzt uns nur unzureichend.“ Nicht zuletzt deshalb besteht Skrzipczyk auch darauf, den ganzen Film zu sehen, selbst wenn sein Team nur an einer Szene tätig wird. Ohne den Kontext zu kennen, sagt er, kann kein Effektspezialist gut arbeiten.

Mit Bernd Böhlich gibt es diese gute Zusammenarbeit. Der zweifache Grimmepreisträger war zunächst ebenso skeptisch wie viele seiner Regisseurskollegen; er hielt die Arbeiten aus dem FX-Center im Filmpark für Effekthascherei. Skrzipczyk aber konnte ihn überzeugen – nicht nur, aber auch mit Kostenargumenten. In Böhlichs neuestem Film „Der Mond und andere Liebhaber“ ließen die Exozet-Leute nun eine nagelneue Brücke digital altern und zerstörten die Straße davor mit einigen Mausklicks – Effekte, die in der realen Welt entweder unmöglich oder kaum bezahlbar wären. Ganz zu schweigen von der Sprengung einer Fabrik im Vorspann. Statt Steine fallen dort nur Pixel einer computergenerierten Detonation zum Opfer und verschwinden in virtuellem Staub. Besonders stolz ist Olaf Skrzipczyk auf die Szenen mit Mond und Sternen. Gerade Sterne sind im Film nicht darstellbar: Zu klein, nicht hell genug. Sie verschwinden, wenn das Filmlicht die Szene ausleuchtet, aus dem Blick der Kamera. Mit der Maus streuten die Exozet-Leute sie wieder ein. Dazu klebten sie nicht einfach ein paar Punkte an den Horizont, sie ließen sie flimmern, funkeln und synchronisierten sie mit den Kamerabewegungen.

Im Grunde ist Skrzipczyk ein Magier: Er lässt die Mongolen Europa überrollen und braucht dazu nur fünf Reiter. Die stürmen hunderte Male durchs Bild, und nach einigen Wochen Arbeit am Computer sind es unüberschaubare Horden, die den Kontinent niederwalzen. Er durchlöchert per Mausklick Menschen mit Gewehrkugeln, die danach putzmunter aufstehen und weder blaue Flecken vom Gummigeschoss noch rote Flecken vom zerplatzten Farbbeutel haben. Er lässt Tiere sprechen, Bauwerke altern und nichtexistierende Hubschrauber fliegen. Er knipst virtuos unerwünschte Lichter in gefilmten Gebäuden aus, ohne den Schalter zu kennen, räumt störende Bauwerke und andere Hindernisse aus dem Filmbild, flutet die Gustloff mit Meerwasser und sorgt dafür, dass Filmtote nicht blinzeln, atmen oder zucken. Es ist die hohe Kunst der schmerz- und trümmerfreien Zerstörung.

Wenn dann der Abspann flimmert und der Zuschauer sich fragt, warum dort digitale Effekte aufgeführt werden – er hat doch gar keine gesehen – hat Skrzipczyk sein Ziel erreicht. Gute Effekte sind Effekte, die nicht als solche wahrgenommen werden. Und sie sind mittlerweile überall, nicht nur in den Effektschlachten wie der „Matrix“ oder dem „Herrn der Ringe“, sondern auch in kleinen, leisen Autorenfilmen mit schmalen Budgets. Entsprechend breit ist das Auftragsspektrum bei Exozet. Die Firma hat in den zehn Jahren ihres Bestehens über 80 Filme bearbeitet – vom Sandmännchen bis zum Erotikthriller. Rund zwei Drittel der Aufträge sind für Fernsehfilme und -serien, das andere Drittel kommt vom Film – oft auch vom Studio gegenüber. Babelsberg hat so seine Synergien. Von den großen internationalen Produktionen dort, speziell jenen aus Hollywood, kann Exozet nicht profitieren. Die bringen ihre eigenen Leute mit, und sie machen ihre Effekte zuhause. Weil die Studios langfristige Verträge mit den Effektfirmen haben, und weil Deutschland im Grunde ein Entwicklungsland ist, was digitale Effekte angeht. Wo in den USA die Effektleute hinzugezogen werden, bevor der erste Satz im Drehbuch steht, sollen sie hierzulande oft am fertigen Film retten, was aus Kostengründen nicht möglich war. Wo amerikanischen Studios zwei Jahre Zeit und 20 Leute für eine Szene zur Verfügung stehen, muss Olaf Skrzipczyk mit drei Leuten und sechs Monaten für viele Szenen auskommen. Dafür bekomme er oft nur den Bruchteil der transatlantischen Honorare, aber die Produktionsfirma will am liebsten alle Effekte aus der „Herr der Ringe“-Trilogie sehen, sagt er. Das sind die Momente, wo Skrzipczyk tief Luft holt, einen Schluck Wasser trinkt und dann einen hundertfach gehaltenen Vortrag über die Möglichkeiten, Grenzen und vor allem Kosten digitaler Effekte hält.

Das macht er so gut, dass ihn die Filmhochschule, das ZDF und RTL regelmäßig buchen, damit deren Studenten, Mitarbeiter und Regisseure die Effektwelt besser zu nutzen lernen. „Wir sind aufgerufen, die Industrie zu entwickeln“, sagt Skrzipczyk, dessen Firma im FX-Center im Filmpark mittlerweile der einzige Mieter ist. „Viele Unternehmen haben es nicht geschafft, obwohl sie mehr Geld hatten“, betont er, und es ist nicht nur Stolz, sondern auch Bedauern, das in seiner Stimme mitschwingt. Mitbewerber, das hieße auch, eine größere Lobby für den visuellen Effekt zu haben, mehr Bewusstsein bei den Regisseuren. Manchmal komme er sich vor wie ein Vertreter, der einen Trick zu verkaufen hat, sagt der 48-Jährige, der ausgebildeter Kameramann ist, also beide Welten kennt und das als einen einzigartigen Vorteil begriffen hat: Als Grenzgänger zwischen Kamera und Computer, als einziger Geschäftsführer einer Visual-Effects-Firma, der – in Babelsberg! – an der Kamera ausgebildet wurde, kann Skrzipczyk anders beraten, anders helfen, anders am Set agieren. In Deutschland das durchzusetzen, was in den USA, Großbritannien und mittlerweile gar in Neuseeland längst State of Art ist, das wäre sein Traum, betont er. Er wird noch eine Weile träumen müssen, obschon es an Nachwuchs nicht mangelt.

Die Technikfreaks sind ihm aber suspekt. Einen PC bedienen können heute alle jungen Digital Artists, und auch die dafür nötigen Programme kennen sie entweder bereits seit dem Studium oder sie haben sich in kürzester Zeit eingearbeitet. Dafür vermisst der Exozet-Geschäftsführer immer häufiger den Kunstverstand, denn „Digital Artist“ wird auf dem zweiten Wort betont. Als die Exozet-Leute für einen Film einen gotischen Dom bauen sollten, sah das Ergebnis toll aus. Er hatte alles, der Dom: Säulen, Türmchen, Portale – nur nichts Gotisches. Seither schult Skrzipczyk seine Mitarbeiter: Architekturstile, Künstlerbiografien, Ausstellungsbesuche, die Geschichte Babelsbergs als Filmstadt, das alles steht auf dem Curriculum. Futter für Augen und Hirn, damit die Mitarbeiter nicht nur „Digital“, sondern auch „Artists“ sind. Dass derart umfassend gebildete Mitarbeiter auch in London oder Hollywood gefragt sind, nimmt Skrzipczyk dafür in Kauf. Er hofft, dass sich diese Investitionen auszahlen; hofft auf jene noch zu seltenen magischen Momente, wenn Regisseure neue Effekte anregen, die Exozets Kreativität herausfordern, statt sich aus Skrzipczyks Bauchladen bereits gemachter Tricks zu bedienen. Dafür würde er auch Schnee zaubern, der irgendwie „gotisch“ vom Himmel fällt.

Infobox: Exozet effects

Je nach Auftragslage arbeiten zehn bis zwölf feste Mitarbeiter für Exozet effects im Babelsberger Filmpark, in Spitzenzeiten wächst das Team um Olaf Skrzipczyk (Foto: Exozet) auf 25Leute an.
Seit rund zehn Jahren sitzt die Visual-Effects-Firma im sogenannten Special-FX-Gebäude des Filmparks.
Seither ist das Unternehmen kontinuierlich gewachsen. Mit der Offenheit für Effekte bei den Produzenten haben auch die Aufträge zugenommen.
Als Spezialist für visuelle Effekte arbeitet Exozet heute vor allem mit digitaler Nachbearbeitung – aber nicht ausschließlich: Für die ZDF-Tragödie „Die Gustloff“ baute das Unternehmen ein Modell im Maßstab 1:5, das dann mit Wasser geflutet wurde. Am Computer erhielten die Aufnahmen den letzten Schliff.
Den aufwändigsten Auftrag erledigte Exozet, als sie für die ARD „Frau Holle“ bearbeiteten. Die märchenhafte Landschaft entstand nahezu komplett am Computer, die Schauspieler agierten vor blauen Wänden.

Erschienen am 02.08.2008

Zuviel ist zuviel

Freitag, 1. August 2008

Jan Bosschaart über eine Erkenntnis, die nur schwer zu verkraften ist

Dass der Mensch das einzige Tier ist, das lachen kann, wissen wir schon seit Aristoteles. Dass er das einzige Tier ist, das lügen kann, wissen wir seit der leidigen Geschichte mit Eva und dem bisschen Apfel. Dass er sich selbst belügt, wissen wir immerhin seit der Psychoanalyse. Dass dies alles Quark ist, wissen wir hingegen erst seit gestern und nur dank jener Potsdamer Forscher, die herausfanden, dass Fische beim Sex lügen. Diese Nachricht verliert auch dadurch nichts von ihrer glaubenserschütternden Brisanz, dass es nur der wenige Zentimeter lange mexikanische Zahnkärpfling ist, der dem etablierten Menschenbild diesen Schlag versetzte: Er neigt dazu, sexuelle Konkurrenten abzulenken, indem er Interesse für ein anderes Weibchen heuchelt. Fällt der Störenfried darauf herein und stellt der anderen nach, gilt des trickreichen Kärpfleins ganzes Streben wieder der ursprünglich Umschwommenen. Schön und gut – dennoch, liebe Forscher: So geht’s nicht weiter! Wir haben es mittlerweile gut verkraftet, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind; wir haben ohne großes Murren geschluckt, dass wir vom Affen abstammen, und wir ringen noch immer damit, womöglich keinen freien Willen zu haben. Dass ihr uns nun auch noch das Monopol auf das Lügen beim Sex nehmt, das geht uns dann aber doch einen Flossenschlag zu weit.

Erschienen am 01.08.2008

Endlich!

Donnerstag, 31. Juli 2008

Jan Bosschaart über eine Ernährungsstudie, die längst überfällig war

Wir haben es ja immer geahnt, dass Vegetarier keine echten Kerle sind. Diese ganze Weinerlichkeit wegen ein paar geschlachteter Säuger; diese Genussunfähigkeit, wenn alles Fleisch außer totgestreichelten Tieren auf dem Teller blieb, das wirkte nicht eben wie die Inkarnation des Maskulinen auf uns. Da begrüßen wir eingefleischten Tofu-Brätling-Verweigerer, dass die Wissenschaft nun, nach Jahren voller Studien über Schädlichkeit und Schändlichkeit des Fleischgenusses, einmal unsere Sprache spricht: Ein Harvard-Mediziner fand heraus, dass der Verzehr von Soja-Produkten die Spermienqualität nachhaltig beeinflusst. Tofu-Typen, so die Studie, bilden nur halb so viele Spermien wie Eisbeinesser aus. Die Begründung dafür ist Wasser auf die Mühlen unserer Vorurteile: Soja enthält Isoflavone, die im männlichen Körper wie weibliche Hormone wirken. Ha! Ihr Weichlinge! Ihr Mädchen! Im Lichte der neu gewonnenen Erkennntis völlig überflüssig ist daher eine zweite Meldung, nach der vegan lebende junge Eltern ihre Ernährung vorübergehend umstellen sollten, weil Babys Eisen benötigen. Wir fragen an dieser Stelle besorgt und hämisch zugleich: Welche Babys?

Erschienen am 31.07.2008

Schluss mit lustig

Samstag, 19. Juli 2008

Musik: Deutschlands vulgärste Boygroup Knorkator hört auf

BERLIN 2006 hieß es noch, „Wir werden auf die Kacke hauen, bis man uns das per Gesetz verbietet oder unsere zerfetzten Körper es nicht mehr zulassen.“ Nach Erschlaffung sah es aber zum Auftakt der Knorkator-Abschiedstournee am Donnerstag im Berliner Monbijoupark gar nicht aus: Frontmann „Stumpen“ wirkte wendig und vulgär wie eh und je und eröffnete gut gelaunt mit „Es kotzt mich an“ das zweistündige Konzert, in dessen Verlauf kein Knorkator-Klassiker wie „Ding in die Schnauze“, „Ich hasse Musik“, „Ick wer zun Schwein“ und einige weitere mit nicht zitierfähigen Titeln und Texten folgten.
Die Atmosphäre war trotz mehrerer hundert Gäste im hölzernen Amphitheater familiär. Knorkator, die sich selbst die „etwas andere Boygroup“ nennen, sind eine Band des Entspanntseins: Ohne Konzept, ohne Schuhe, ohne politische Korrektheit. Etwa die Hälfte der Lieder wurde nicht zu Ende gespielt, weil irgendwer daneben griff, „Stumpen“ aus dem Rhythmus kam oder den Text vergessen hatte.
Das passierte ihm besonders gern bei „Westliedern mit englischem Text“ wie seiner Persiflage auf „Highway to Hell“, das er im Falsett als Ballade anlegte. Die Fans lieben Knorkator nicht nur für hintergründige Komik: Sie kommen vor allem, um den Anarcho-Charme der „weltweit meisten Band Deutschlands“ zu genießen.Knorkator machen alles, was anstößt: Sie beschimpfen das Publikum, sie nehmen nichts ernst – sich selbst zum Glück auch nicht –, sie beleidigen jeden, zelebrieren den Ekel und alles Fäkale, lassen an nichts ein gutes Haar. Sie sind wie Riesenbabys, die sich weigern, erwachsen zu werden, aber das mit soviel Charme und Selbstironie und – ja, doch – auch Intelligenz, dass es schon wieder fast reif wirkt. Lange galt die Band aus Berlin als subversiver Geheimtipp. Dann kam der Grand-Prix-Vorentscheid im Jahr 2000, und Deutschland reagierte auf die Provokationen der Spaßrocker, die im ARD-Abendprogramm in Plüschkostümen Möbel zersägten, wie es sollte: beleidigt. Einen größeren Gefallen hätte man der Band kaum tun können. „Soviel Spaß hatten wir selten“, sagte Stumpen.
Nun, nach elf Jahren, ist erstmal Schluss mit lustig. „Es hat einfach Gründe“, ist alles, was von Stumpen an diesem Abend zu den Gründen zu hören ist. Mehr war von einer Band, die nichts ernst nimmt, nicht zu erwarten.

Erschienen am 19.07.2008

Zur Not auch im Schlamm

Freitag, 18. Juli 2008

Kultur: Roland Seidler wuchtet das Theater Boitzenburg fast allein: Er schreibt, inszeniert und spielt mit

Es muss nicht immer Ralswiek sein: In der Uckermark etabliert sich ein Freilichttheater. Dahinter steht ein Mann, der schon mit Gojko Mitic durch die Mongolei ritt.

BOITZENBURG Auch das Wetter hat im Drehbuch geblättert. Feiner Landregen geht über Boitzenburg nieder – kurz bevor die Generalprobe beginnt. Das passt durchaus, um ein Stück in den englischen Wäldern des Sherwood Forest zu untermalen, doch soviel Werktreue hatte Roland Seidler eigentlich nicht im Sinn. Er setzt die schwere Holzbank ab, die er geradevor die Bühne schleppte, schaut grimmig gen Himmel, wirft sich in die Brust und donnert: „Scheiße, warum regnet es denn?“ Publikum gibt es zwar keines – die Helfer haben ihre Bänke stehen gelassen und sind unter Bäume geflüchtet – doch Seidler lässt seine rauhe Stimme erschallen, als handle es sich um eine lange geprobte Szene.
Die Generalprobe verschiebt der Regisseur Seidler wegen des Regens aber nicht. Im Naturtheater an der Boitzenburger Klosterruine müssen alle wetterfest sein: Darsteller und Helfer ohnehin, und auch die Zuschauer tun gut daran, auf jede Witterung vorbereitet zu sein – obgleich Seidler am Eingang auch Regencapes verkaufen lässt. „Das ist eine clevere Angelegenheit, nicht?“, sagt er und setzt ein Lausbubengesicht auf.
Seine Freude währt nicht lange, denn es regnet sich ein. Er fürchtet nicht um sein Stück – nach Jahren als Winnetou in Annaberg-Buchholz und als Oberbösewicht bei den Störtebeker-Festspielen in Ralswiek ist der Schauspieler Seidler einiges gewohnt, zur Not spiele er auch knietief im Schlamm, sagt er. Doch der Unternehmer Seidler fürchtet um die Zuschauerzahlen. Trotz allgemeinen Lobes für Idee und Umsetzung ist das Theater in der Klosterruine Boitzenburg im vierten Jahr seines Bestehens noch lange keine sichere Bank. „Finanziell ist das grenzwertig“, sagt er, „ich habe in letzter Zeit nichts verdient. Das muss sich ändern, sonst kann ich’s lassen.“ Beim Freiluft-Theater gilt: Gutes Wetter gleich gute Einnahmen. Die letzten Sommer waren eher regenreich.
Vor 15 Jahren hatte Roland Seidler erste Theaterpläne für die Uckermark. Sie waren deutlich größer: Mit dem Deutschen Theater Berlin und dem Nationaltheater in Weimar wollte er eine Klassikbühne in Boitzenburg gründen. Er hatte bereits zwei Minister im Boot, Kontakte nach Brüssel und zur Unesco, aber es scheiterte an den Leuten in der Gemeinde, die lieber ihre Ruhe haben wollten. „Da ist der Uckermärker komisch. Er will zwar Touristen, aber am liebsten solche, die Geld überweisen und dann wegbleiben.“ So wurde nichts aus dem Plan, doch der Kulturförderer Seidler nahm einen zweiten Anlauf: „Nun mache ich halt einfaches Volkstheater, schreibe die Stücke, inszeniere, entwerfe das Bühnenbild und spiele selbst mit“, sagt er mit einem Lächeln, das zwischen Wehmut und Trotz schwingt: „Uckermärker gelten als die stursten Menschen Deutschlands. Was die Gemeinde damals unterschätzt hat, ist: Ich bin auch einer.“
Jahr für Jahr nimmt Seidler sich vor, diesmal nicht mitzuspielen, und Jahr für Jahr tritt er dann doch auf: Weil Schauspieler ausfallen oder kurzfristig andere, besser dotierte Engagements bekommen. „Einmal musste ich alter Mann sogar den d’Artagnan spielen“, erzählt der 57-Jährige etwas kokett und fasst sich an die Leiste, die seit der Hauptprobe am Vortag schmerzt: Muskelzerrung beim Reiten.
Neben der Liebe zum Theater ist es diese uckermärkische Sturheit, die Seidler antreibt, die ihn dazu bringt, Schmerztabletten einzuwerfen, um trotz Verletzung reiten und fechten zu können. Sie hilft ihm, den Regen nach Kräften zu ignorieren, sie lässt ihn die Nachricht, ein Nebendarsteller habe wegen Brechdurchfalls kurz vor der Premiere abgesagt, mit einem Schulterzucken quittieren.
So bringt er seine Generalprobe trotz des Wetters sauber über die Bühne: Eine verschlungene Geschichte um fliehende Tempelritter, finstere Inquisitoren und den strahlenden Helden Robin Hood, den der Drehbuchautor Seidler als wendig-wieseligen Anarchisten anlegt. Als der Schauspieler Seidler schließlich die Bühne betritt – diesmal ersetzt er einen Tempelritter – wird klar, warum es letztlich egal ist, ob er wirklich so widerwillig einspringen muss oder ob das Abenteurer-Herz in ihm nicht doch einen Freudensprung macht, wenn ein Kollege ausfällt. Allein seine Präsenz auf der Bühne macht aus der soliden Mantel- und Degengeschichte ein Erlebnis: Was für eine Stimme, was für ein Charisma, welche Verve! Es ist ein klein wenig, als würde über Boitzenburg die Sonne aufgehen, trotz Regens. Wo die anderen nur spielen, verkörpert Seidler; wo sie deklamieren, lebt er seinen Text – mit jener Stimme, die unter anderem in Musicals am Ost-Berliner Metropoltheater geformt und beim Synchronsprechen für die Defa verfeinert wurde. Als Seidler neben Gojko Mitic durch die Mongolei galoppierte und in der Seeluft von Ralswiek zum Angriff rief, kam der entscheidende Hauch Rauheit hinzu.
Wegen dieser Präsenz sind es, trotz 26 Leuten auf der Bühne und einigen weiteren an der Technik, letztlich doch Seidler-Festspiele, die Aufführungen im Naturtheater Boitzenburg. Mit dem wettergegerbten Uckermärker, unter dessen Kettenhemd sich ein kleiner Bauch wölbt, steht und fällt das Theater, und Seidler weiß das: Er bindet seine 25-jährige Tochter als Regieassistentin und den 16-jährigen Sohn als Schauspieler ein. So lange er lebe, wolle er aber weiter in Boitzenburg Theater spielen, sagt er. Da mittlerweile nicht nur die Touristen, sondern auch immer mehr Uckermärker ins professionell ausgestattete Naturtheater kommen, könnte diese Rechnung aufgehen. Nur den Regen, den muss Seidler künftig ins Drehbuch einbeziehen. Und ihn bei den Auftritten weiterhin stur ignorieren.

Erschienen am 18.07.2008

Ellys Knipser

Donnerstag, 15. Mai 2008

Castingshows und das Internet haben einen neuen Modeltypus geschaffen

Seit Heidi Klum im Fernsehen nach neuen Supermodels sucht, werden Modelbörsen im Internet von Mädchen überrannt. Doch statt Geld und Glamour folgt meist ein Vagabundieren zwischen verhängten Wohnzimmern und muffigen Mietstudios.

Elly hat ihren Rollkoffer dabei. Obwohl er relativ neu ist, wirkt er ziemlich abgewetzt. Die schlimmsten Stellen hat sie mit Aufklebern geflickt. Auf einem steht „Mad world – real life“. Der Koffer sieht aus, als könne er den Inhalt mehrerer begehbarer Wandschränke in sich aufnehmen. Und das tut er offenbar auch. Elly, klein, schlank und etwas überschminkt, hält die frisch gefönten schwarzen Haare mit einer Hand aus dem Gesicht, während sie große Teile des Kofferinhalts auf dem Boden des Wohnzimmers ausbreitet: neun paar Schuhe und Stiefel mit bedenklich hohen Absätzen, eine Kollektion abenteuerlich kurzer Röcke, einen Schwung knapper Oberteile, verschiedene knallenge Jeans, dazu Strümpfe, Strapse, Unterwäsche in allen Formen und Farben, zur Krönung eine Corsage aus Leder und ein Brautkleid. Damit Peter aussuchen kann.
Peter ist noch mit dem Aufbau befasst. Prüfend schiebt er einen von zwei Studioblitzern mal hierhin und mal dorthin, stellt sich dann hinter seine Kamera, sieht hindurch, macht „hmm“ und schiebt den Blitzer erneut. Peter ist ein etwas nachlässig gekleideter Mittfünfziger und kommt aus Berlin gereist, um Elly zu fotografieren. Sein Studio ist das Wohnzimmer eines Potsdamer Freundes, das Peter mit einem schwarzen Tuch über der Schrankwand und seinen Blitzern in ein improvisiertes Set verwandelt.
Gefunden und gebucht hat er Elly über ein Internet-Portal namens Fotocommunity, das Models und Fotografen zusammenbringt. Davon gibt es einige in Deutschland, seit im Internet die Communitys wie wild sprießen. Seit auch noch Heidi Klums „Supermodels“ über den Bildschirm stöckelten, werden diese Angebote förmlich überrannt – auf manchen melden sich pro Tag bis zu 80 neue hoffnungsfrohe Models an. Die Seiten heißen Model-Kartei, Aktfotocommunity, oder 123model, und sie funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Anmelden, Fotos einstellen, Arbeitsbereiche eingrenzen – das Spektrum reicht von Portrait über Fashion bis Dessous, Halbakt und Akt – und abwarten. Alles Weitere regeln Angebot und Nachfrage.
An beiden mangelt es nicht. Elly, die unter verschiedenen und ständig wechselnden Pseudonymen bei allen angemeldet ist, sagt, nach dem hundersten Shooting habe sie aufgehört zu zählen. Das war nach vier Monaten im Geschäft und ist jetzt ein halbes Jahr her. Auch Peter kann nicht klagen. Er shootet ein- bis zweimal die Woche, erklärt er unwillig. Vielmehr sagt er nicht, denn das Reden darüber ist Peter unangenehm. Warum er an einem Dienstagvormittag Zeit hat? Wozu er die Fotos macht? Wieviel Erfahrung er hat? Peter winkt ab. Außerdem läuft die Zeit, wie er mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr andeutet.
Für drei Stunden hat er Elly gebucht, „bis Dessous“, wie sie sicherheitshalber noch einmal klarstellt. Bezahlt wird bar und im Voraus, die Rechte am Bild behält Peter. Meist sieht Elly von den fertigen Fotos keines. „Manche senden mir ein, zwei davon zu, aber das ist die Ausnahme“.
Was mit den weiteren geschieht, will sie lieber gar nicht wissen. Dann schließt sich die Wohnzimmertür. „Ans Set gehören nur Knipser und Model“, hat Peter entschieden. Natürlich heißt Elly nicht Elly. Wie sie wirklich heißt, weiß im Modelkosmos niemand. Wenn Elly anruft, unterdrückt sie ihre Telefonnummer. Kontaktaufnahme ist nur über das Internet mit seiner schützenden Anonymität möglich. Außerdem behält Elly auf diese Weise die Kontrolle: Sie entscheidet, wen sie wann zurückruft. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu ihrer Eigenwerbung im Onlineprofil und den begeisterten Fotografenkommentaren: In beiden kommt das Wort „Zeigefreude“ vor. Doch die gilt nur für Ellys Körper. „Das muss so. Das ist Schutz“, sagt sie, als wäre es ein Befehl und schneidet mit einer ruckhaften Geste jede in der Luft liegende Nachfrage ab.
Adrian ist sauer. Mehr als drei Stunden hat der Eineinhalbjährige seine Mutter entbehren müssen, nun thront er auf seinem Kinderstuhl im Café und buhlt um ihre Aufmerksamkeit, indem er nachdrücklich versucht, seinen Obstsalat mit dem Löffel in die Tischplatte einzuarbeiten. Zudem wirft er Servietten, Schnuller, Brotstücke und alle Gegenstände, derer er noch habhaft werden kann, mit Entschlossenheit hinter sich und schaut dann erwartungsvoll in die Runde.
„Ist manchmal nicht einfach mit Job und Kindern“, kommentiert Elly und schlürft ihren Milchcafé. Der Rollkoffer steht hinter ihrem Sitz. Adrians älterer Bruder Fabian ist derweil noch beim Babysitter, denn Elly hat heute noch ein Shooting. Adrian wird gleich „vom neuen Papa geholt“, der erst seit drei Monaten der neue Papa ist, sich aber „rührend um die Kleinen“ kümmert, wie sie betont. „Es macht den Job leichter“, sagt sie. Es ist das zweite Mal, dass der Begriff „Job“ fällt, und Elly spricht die Anführungszeichen immer mit.
Eigentlich ist sie ja noch im Mutterschutz, eigentlich müsste sie sich ja längst bewerben. Aber auf ihren alten Job als Kellnerin hat sie keine Lust – Schichtarbeit, abends nie da, schlechte Bezahlung, kaum Zeit für die Kinder – da sind ihr ihre Knipser lieber. Während sie erzählt, vertilgt Elly eine riesige Frühstücksplatte, obschon es längst Mittag ist. Am Morgen sei dafür keine Zeit geblieben, und überhaupt gehe sie lieber mit leerem, flachem Bauch zum Shooting.
Elly redet sich in Fahrt. Überhaupt sei das Gewicht bei Community-Models nicht so wichtig wie bei den Hungerhaken im Fernsehen. Im Gegenteil, ihre weiblichen Formen machten sie bei den Knipsern erst recht beliebt. Mit nur 1,62 Meter und viel Oberweite hätte sie bei den Agenturen ja ohnehin keine Chance. Zweimal hat sie es versucht, durch ihre Shootings ermutigt. Die haben sich nicht mal die Mühe gemacht abzusagen. Nein, da bleibt sie lieber bei ihren Knipsern.
Knipsern? Elly kichert. „So nennen wir Models die Fotografen aus dem Internet.“ Es gibt feine Differenzierungen: „Schrankwand-Knipser“ – solche ohne eigenes Studio, die vor dem Wohnzimmerschrank zu Hause belichten -, „Spannerknipser“, die keinen Film oder keine Karte in der Kamera haben, sondern nur die Zeit mit dem Model buchen, und schließlich die „Semis“, Hobbyfotografen mit Ambitionen und Erfahrung, deren Bilder vorzeigbar sind. Elly hat aber keine Präferenzen. „Wer zahlt, gewinnt“, sagt sie und schaut dabei so abgeklärt, als habe sie „das Business“, wie sie es nennt, erfunden.
Was nur begeistert sie an diesem Vagabundieren zwischen Wohnzimmern und muffigen Mietstudios? „Das da“, sagt sie und zeigt auf den Koffer hinter sich, „ist das wirkliche Leben. In andere Rollen schlüpfen, mal Zeit für mich haben, im Mittelpunkt stehen, und dafür auch noch Geld bekommen“. Doch welches Leben sind dann Adrian und Fabian, der neue Papa und der Kellnerjob? Elly überlegt. „Na ja, das ist halt ,dieses Leben’“, antwortet sie und verschränkt die Hände vor der Brust. Es klingt ein wenig, als wäre es nur der Vorhof zu etwas Größerem. Dann sagt sie nichts mehr. Ihre Laune ist spürbar gesunken.
Fast hätte sie beim Gehen den Rollkoffer vergessen, so unangenehm muss das Sprechen über „dieses Leben“ gewesen sein. Doch sobald Adrian im Buggy sitzt, fällt er ihr der Koffer wieder ein. Ein Ruck am Griff, dann geht sie los, schiebt das Kind vorneweg. Das wirkliche Leben zieht sie rumpelnd hinter sich her.

Infoxbox: DER HOBBYMODEL-MARKT IN DEUTSCHLAND

13 500 Models und 9 500 Fotografen haben sich beim Branchenprimus „Model-Kartei“ angemeldet. Das Durchschnittsalter der Frauen beträgt 19 Jahre.
In der „Model-Kartei“ sind etwa sieben Prozent der Teilnehmer jünger als 18 Jahre, 44 Prozent zwischen 18 und 25 Jahren und 24 Prozent zwischen 26 und 35 Jahre alt.
Seriöse Schätzungen gehen von 25 000 bis 30 000Hobbymodels in Deutschland aus.
Mehr als vier Fünftel davon präsentieren sich ausschließlich in der weitgehenden Anonymität des Internets und werden auch dort gebucht.
Üblicherweise gewähren neue Gesichter in diesen Foren zwei bis drei kostenlose Foto shootings, um an vorzeigbares Bildmaterial zu gelangen, mit dem sie dann für bezahlte Shootings werben.
Der Stundenverdienst liegt zwischen zirka zehn Euro für Portraitaufnahmen zwischen 20 bis 30 Euro für (bekleidete) Ganzkörperaufnahmen und bis zu 50 Euro für Aktbilder.
Die meisten Models benutzen diese Fotoshootings als teilweise lukrativen Nebenverdienst neben Schule, Studium oder Job.
Die Durchlässigkeit zu den Berufsmodels ist gering: Bislang ist kein Internet-Model in den Kreis der bekannten Schönheiten aufgestiegen. Die werden nach wie vor von Talentsuchern aufgespürt, unter Vertrag genommen und gezielt gefördert.
In den großen Agenturen gelten die Internet-Models hingegen eher als Schmuddelkinder – nicht zuletzt wegen der häufig publizierten Aktaufnahmen, die in der Branche als anrüchig gelten.
Der Heidi-Faktor: Laut Model-Kartei-Betreiber Hendrik Siemens melden sich während der Ausstrahlung von Heidi Klums Modelcasting-Show mehr und vor allem jüngere Mädchen an als im Jahresmittel.

Erschienen am 15.05.2008

Lebensmut aus dem Arztkoffer

Freitag, 7. März 2008

Eine Berliner Ärztin betreut seit mehr als 15 Jahren Obdachlose – oft auf eigene Kosten

Einige Kollegen nennen sie Nestbeschmutzerin, doch Barbara Weichler-Wolfgramm lässt sich davon auch nach der Pensionierung nicht bremsen.

BERLIN Wenn es gar nicht mehr geht, fängt Barbara Weichler-Wolfgramm an zu schreiben. Über die Fälle, die sie zu sehr mitnehmen, wie den Punk, der einen Schlaganfall erlitt. Mit 21 Jahren – wegen Drogen und wegen Alkohols. Die Ärztin brachte ihn in eine Therapie, und als er nach einiger Zeit wieder gehen und sprechen konnte, war er im Nu wieder auf der Straße, trank wieder, nahm wieder Drogen. „Das war sein Leben, und die anderen dort waren seine Familie“, sagt sie resigniert. Gut 20 Geschichten sind zusammengekommen, in ihrem „Totenbuch“. Irgendwann will sie ein richtiges Buch daraus machen, es veröffentlichen, aber das wird noch Jahre dauern. Bisher fühlt sich Barbara Weichler-Wolfgramm nicht einmal in der Lage, die Geschichten auch nur erneut zu lesen.
Unlängst hat sie das Bundesverdienstkreuz bekommen – weil sie sich seit gut 15 Jahren ehrenamtlich um Obdachlose, Punks und Straßenkinder in Berlin kümmert, sie untersucht und versorgt.
Es begann 1992: Barbara Weichler-Wolfgramm hatte die Vertretungsarbeit satt, und in einer Praxisbeteiligung am Kurfürstendamm fühlte sie sich nicht gebraucht. Sie wollte die gesellschaftliche Veränderung im Osten hautnah miterleben, also ließ sie sich im Friedrichshain nieder. Viele Patienten kamen aus der Hausbesetzerszene, die meisten stammten aus Osteuropa und waren illegal in Deutschland. Schnell sprach sich herum, dass da eine Ärztin ist, die kostenlos behandelt und niemanden meldet. Wegen dieses Rufs fragte die Caritas, ob sie im Arztbus Obdachlose versorgen wolle. Sie wollte – zweimal pro Woche fuhr Weichler-Wolfgramm mit. Und weil auch das noch nicht genügte, ging sie mit ihrem Arztkoffer zu den Punks – auf den Alexanderplatz oder wo immer sie gerade gebraucht wurde. In der Berliner Stadtmission baute die Ärztin seit 1996 auch noch die Krankenstation auf. „Das waren harte Jahre“, sagt sie heute, „aber auch sehr schöne“.
Mittlerweile ist Weichler-Wolfgramm in Rente. Zumindest formal, denn viele Patienten verarztet sie immer noch, auch in der Krankenstation ist sie mindestens zweimal pro Woche, obwohl sie dafür von ihrem neuen Wohnort Halle anreisen muss. Frei von äußeren Zwängen Medizin machen zu können, ohne das „Damoklesschwert des Punktsystems und der Abrechnungen“ über sich zu spüren, sei ein riesiger Luxus, betont sie.
Die Probleme ihrer Klientel sind stets die gleichen: Verdauungs- und Stoffwechselstörungen durch Alkohol und Drogensucht, Lungenkrankheiten und Bronchitis von der Kälte im Winter, Hautkrankheiten wie Krätze sowie Läuse und Flöhe wegen mangelnder Hygiene. Und es ist eine störrische, eigenwillige Kundschaft, die nicht selten Probleme mit Autorität hat. Für Weichler-Wolfgramm ist das kein Problem. Sie lässt sich von allen duzen, wird aber auch mal laut, wenn nötig. Das kommt nicht immer gut an, wovon einige derbe Verwünschungen auf ihrer Tür in der Krankenstation zeugen, doch ihre Patienten vertrauen ihr und schätzen die Begegnung auf Augenhöhe. Viele kommen wieder.
Vielleicht weil sie spüren, dass auch die Ärztin keine Freundin von Autoritäten ist – ganz besonders, wenn Autoritäten ihrem Engagement Steine in den Weg legen. Als die Caritas die Haltestellen des Obdachlosenbusses zu sehr einschränkte, nahm Weichler-Wolfgramm ihren Hut. Dass einige Bezirksämter sich noch immer weigern, die Kosten für Behandlungen von Obdachlosen zu übernehmen, macht sie wütend. Punks hingegen bewundert sie für ihre Freiheit und schätzt deren klare Kommunikation: „Wenn die mies drauf sind, lassen sie es dich spüren.“ Gegenüber den Alternativen – „dem Gefängnis Hartz IV und dem Gefängnis der Vereinsamung“ – empfindet Weichler-Wolfgramm Punks und Obdachlose geradezu als frei. Doch sie neigt nicht zur sozialromantischen Verklärung: „Obdachlosigkeit in Deutschland und speziell in Berlin ist eine selbstgewählte Härte. Es gibt Angebote en masse, die Versorgung ist sehr gut.“
1946 geboren, wächst Barbara Weichler-Wolfgramm in Hamburg auf, später in Berlin. Nach dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg studiert sie zunächst „aus Verlegenheit“ Soziologie, weil der Numerus Clausus für Medizin sie in die Warteschleife drängt. Doch was sie anpackt, bringt sie nach Möglichkeit auch zu Ende, und so ist Weichler-Wolfgramm Diplom-Soziologin, bevor sie sich für Medizin einschreibt. Die Sichtweise, die durch das Erststudium geprägt wurde, habe ihr später sehr geholfen, sagt sie, auch wenn sich die Arbeit mit Obdachlosen, in die sie nach eigenem Bekunden „so reinschlitterte“, da noch längst nicht abzeichnete.
85 Euro kostet ein Tag in der Krankenstation der Stadtmission, und das sind nur die Kosten der Unterbringung. Die medizinische Versorgung finanziert Barbara Weichler-Wolfgramm aus eigener Tasche. Wenn es gelingt, die Patienten zu versichern, kann sie sich das Geld von der Krankenkasse zurückholen. Was auf diese Weise hereinkommt, decke lediglich ihre Kosten, sagt sie. Viel bedrohlicher aber erscheint ihr die „überbordende Bürokratie im Gesundheitswesen und die Gefahr, dass der Patient an letzter Stelle landet“.
Am Schlimmsten sei es, wenn ein Patient noch medizinischer Hilfe bedarf, aber auf die Straße gesetzt wird, weil die Kosten nicht geklärt sind. Das gebe es auch in der Stadtmission. Dann würde Weichler-Wolfgramm sich am liebsten wieder ihren Arztkoffer schnappen und auf die Straße rausgehen.
Gegen dieses Denken nützt auch ihr Bundesverdienstkreuz wenig. Sie hat lange überlegt, es anzunehmen. Dass es ihr von der Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner von der Linkspartei überreicht werden sollte, hat sie schließlich überzeugt – und der Umstand, dass sie damit jene Ärztekollegen ärgern konnte, die eine kostenlose Behandlung von Obdachlosen als Nestbeschmutzung bezeichnen.
Wenn unter ihrer Behandlung jemand neuen Lebensmut schöpft, wenn er mehr auf sich achtet, ist das Weichler-Wolfgramms größter Erfolg. Der Regelfall ist das nicht. „Wenn jemandem völlig egal ist, was er seinem Körper antut, steckt dahinter immer eine tiefe Depression“, sagt Barbara Weichler-Wolfgramm über die seelischen Härten ihrer Arbeit. Diese Depression macht mitunter auch vor ihr selbst nicht halt. „Manchmal ist es bitter, nicht helfen zu können.“ Gegen diese Bitterkeit rennt sie mit ihrem Arztkoffer an – jeden Tag aufs Neue.

Erschienen am 07.03.2008

Gut aufgestellte Gegenszene

Donnerstag, 14. Februar 2008

Rechtsextremismus: Vorsitzender betrachtet das Brandenburger Aktionsbündnis als eine Erfolgsgeschichte

Der Wittstocker Superintendent Heinz-Joachim Lohmann sitzt dem Aktionsbündnis gegen Rechtsextremismus vor, das vor zehn Jahren gegründet wurde. Mit Lohmann sprach Jan Bosschaart.

MAZ: Das Aktionsbündnis wird zehn Jahre alt. Was hat es bisher bewirkt?
Heinz-Joachim Lohmann: Es hat eine steigende Aufmerksamkeit für das Problem des Rechtsextremismus im Land geschaffen. Es hat an ein paar Stellen dazu beigetragen, Rechtsextremismus zurückzudrängen. Und es hat Leute zum Kampf gegen Rechtsextremismus geführt, die sonst nie zusammengetreten wären – Gewerkschaften und Arbeitgeber ebenso wie Kirchen und den Humanistischen Verband, den Flüchtlingsrat und den Städte- und Gemeindebund.

Wo sehen Sie noch die größten Baustellen?
Lohmann: Die Probleme haben sich verlagert. Das Aktionsbündnis wurde in einer Zeit gegründet, in der Ausländerwohnheime brannten und es viel mörderische rechtsextreme Gewalt auf den Straßen gab. Heute drängen die Rechtsextremen stattdessen in die Parlamente. Wir haben begonnen, darauf zu reagieren, zum Beispiel mit einer Diskussionsreihe im ganzen Land.

Die DVU ist in diesen zehn Jahren zweimal in den Landtag eingezogen. War das ein Rückschlag für das Bündnis?
Lohmann: Zu erwarten, wir könnten jeglichen Rechtsextremismus mit Stumpf und Stiel entfernen, wäre übertrieben. Es geht darum zu zeigen, dass die Mehrheit der Gesellschaft weder rechtsextrem ist, noch mit Rechtsextremismus etwas zu tun haben will. Natürlich hört der Rechtsextremismus davon nicht auf. Die DVU ist zweimal nur deshalb in den Landtag gekommen, weil sie extrem populistische Wahlkämpfe geführt und die Stimmen vieler Unzufriedener bekommen hat.

Ein Potsdamer Politologe sagte kürzlich, das Land begünstige den Rechtsextremismus in dünn besiedelten Gebieten, weil es nur noch die Zentren fördert. Macht die Landespolitik hier Fehler auf Kosten des Bündnisses?
Lohmann: Meines Wissens stimmt das nicht: Die meisten rechtsextremen Gewalttaten werden aus Potsdam gemeldet. Dort gibt es aber eine gut aufgestellte Gegenszene, was in der ländlichen Weite oft nicht der Fall ist. Die Aufstellung dieser Gegenszene ist das Ziel des Aktionsbündnisses: von ganz links bis zur CDU, von den Bürgerlichen bis zur Antifa.

Fühlen Sie sich von der Politik ausreichend unterstützt?
Lohmann: An die Zusammenarbeit mit der Landesregierung habe ich keine Forderungen. Die eigentlichen Kämpfe werden in den Städten und Gemeinden geschlagen. Da läuft es zwar unterschiedlich gut, aber besser als vor zehn Jahren. Gerade in den letzten zwei Jahren ist es verstärkt lokal angekommen, dass Rechtsextremismus etwas ist, was wir in Brandenburg nicht haben wollen.

Ist es nicht ein Pyrrhussieg, wenn sich die Rechten aus der Öffentlichkeit in Parlamente zurückziehen?
Lohmann: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Rechten im Anzug und mit freundlich frisiertem Haar in Brandenburg stark punkten. Vielmehr hat sich das Land in den letzten 15 Jahren gut aufgestellt und angemessen reagiert. Ein Erfolg dessen ist, dass es keine flächendeckende rechtsextreme parteiliche Struktur gibt. Von organisiertem Rechtsextremismus reden wir vor allem im Südosten des Landes und mit Abstrichen im Nordosten. Die NPD wird die DVU zwar verdrängen, aber sie ist nicht so aufgestellt, dass sie überall antreten oder gar ganze Landstriche übernehmen könnte.

Im Jahr 2000 entspann sich eine teils harsche Debatte darüber, ob auch der Linksextremismus zum Aufgabenspektrum des Bündnisses gehört. Wie hat sich das auf lange Sicht auf die Arbeit ausgewirkt?
Lohmann: Wir sind gestärkt daraus hervorgegangen. Der damals neue Innenminister kam aus Berlin und brachte seine Erfahrungen von dort mit. Mein Eindruck ist, dass Jörg Schönbohm die These aufgegeben hat, dass Linksextremismus hier eine große Gefahr ist. Er sagt heute ganz selbstverständlich: Der Brandenburg bedrohende Extremismus ist Rechtsextremismus.

Muss sich das Bündnis auch gegen das Stimmenfischen mit den Vorurteilen der schweigenden Mehrheit positionieren, wie es im hessischen Wahlkampf geschah? Oder gefährdet das den gesellschaftlichen Konsens, der für die angestrebte Breite des Bündnisses nötig ist?
Lohmann: Es hat ja in Hessen zum Glück nicht wirklich funktioniert. Dass Roland Koch zwölf Prozentpunkte verloren hat, ist gerade dieser Kampagne geschuldet. Jugendliche Straftäter zwischen zwölf und 25 Jahren mit Migrationshintergrund würde in Brandenburg selbst im Wahlkampf niemand aufs Plakat heben, denn bei uns ist die Gewalt in dieser Altersgruppe einheimisch und hat häufig eine Glatze. Zudem ist in Brandenburg der Konsens in dieser Frage von Linkspartei bis CDU zu groß, um sich so niederzumachen, dass davon die Rechten profitieren.

Wie lange wird das Bündnis noch gebraucht?
Lohmann: Solange Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt in Brandenburg ein Thema sind, wird das Bündnis gebraucht. Es ist im Moment kein Ende abzusehen, aber ich kann mir vorstellen, dass die Vernunft siegt und Rechtsextremismus irgendwann weitgehend verschwunden ist. Aber das lässt sich zeitlich nicht eingrenzen – solange es noch rechtsextreme Straftaten gibt und die Rechten bei Wahlen mehr als 0,2 Prozent bekommen, wird das Bündnis gebraucht.

Erschienen am 14.02.2008

Ein bisschen anachronistisch

Samstag, 9. Februar 2008

Nostalgie: Der ehemalige „Chor der Parteiveteranen“ hat die Wende überlebt und so manchem Mitglied das Weltbild gerettet

Sie sind im Durchschnitt 72 Jahre alt, und sie proben im Sitzen – doch die Stimmen des einstigen Parteichors sind noch ungebrochen.

BERLIN Beim 60. Jahrestag der Gründung der DDR-Grenztruppen haben sie auch gesungen. Die liebevoll geführte Chronik vermerkt es genau: Es war am 1. Dezember 2006 in Strausberg (Märkisch-Oderland). Der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler war dabei und andere ranghohe Ex-NVA-Leute. Der Ernst-Busch-Chor sang das „Einheitsfrontlied“ von Brecht. „Bisschen anachronistisch“ findet Jochen Fischer das beim Durchblättern der Chronik, und auch historisch nicht korrekt: 1946 gab es die DDR noch nicht. Aber Fischer ist ja auch nur hier, weil er jeden Dienstag seine Frau zur Chorprobe bringt, wie er betont.
Die probt mit etwa 50 anderen Mitgliedern des Ernst-Busch-Chors im Kulturhaus Berlin-Karlshorst gerade einen russischen Walzer. Gäbe es hier nicht modernes Mobiliar, man könnte glauben, es habe die Wende nie gegeben. Das ist den meisten Chormitgliedern durchaus willkommen. Schließlich hieß das Ensemble bis zur Wende „Chor der Parteiveteranen der SED“ und unterstand direkt der SED-Bezirksleitung. Um Mitglied zu werden, bedurfte es 25-jähriger Parteimitgliedschaft, davon mindestens 15 Jahre als Funktionär.
Dass der Chor die Wende überhaupt überlebte, verdankt er vornehmlich Rolf Stöckigt. Der frühere Professor für die Geschichte der Arbeiterbewegung kam 1987 mit seiner Pensionierung zum Ensemble und freute sich auf einen ruhigen Lebensabend. Der November 1989 machte einen Strich durch diese Rechnung: Stöckigt wurde Vorsitzender und musste die Sänger durch die Wendewirren dirigieren. „Der alte Vorstand tat sich schwer, die waren ohne Anleitung durch die SED völlig hilflos“, erinnert er sich. Gegen einige Widerstände boxte Stöckigt, der noch heute im Vorstand wegen seiner liberalen Haltungen kritisiert wird, die neue Satzung durch: Die parteipolitische Unabhängigkeit sicherte das Überleben des Chores. Auch im Repertoire räumte er auf: „,Die Partei, die Partei, die hat immer recht’, das haben wir ersatzlos gestrichen. Stattdessen singen wir jetzt ,Die Gedanken sind frei’“, sagt der 86-Jährige. Seit dem Jahreswechsel ist Rolf Stöckigt kein aktiver Sänger mehr. Nicht, weil die Stimme nicht mehr mitspielt, sondern weil ihn seine Beine nicht mehr lange genug tragen. Er ist mit diesem Problem nicht allein: Der Chor probt im Sitzen, das älteste Mitglied ist 99, das jüngste 60 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 72. Chorleiter Klaus Hartke, der früher beim Ernst-Weinert-Ensemble, der „Musiktruppe der NVA“ arbeitete, sagt, er müsse neue Lieder abschleifen, ihnen die Höhen und Tiefen nehmen, weil die alternden Stimmen mit dem Neuen nicht so gut zurechtkommen. „An der Stimmgewalt mangelt es aber nicht, die muss ich eher bremsen.“ Das 250 Lieder starke Repertoire hat er behutsam erweitert. Neben die Kernkompetenz der Arbeiterlieder – am liebsten von Hanns Eisler – sind Volkslieder und klassische Chöre getreten, sogar das eine oder andere Kirchenlied hat sich eingeschlichen. „Das Publikum soll ja bedient werden“, sagt Hartke, als wolle er sich entschuldigen. Die Parteilieder der SED probt er hingegen nicht mehr, „das wäre irreal“, auch nicht die Grenzerlieder aus seiner Zeit als Oberst der Nationalen Volksarmee,, „obwohl einige davon sehr schön sind“, wie er betont.
Rolf Stöckigt mag keine Interviews. Die zahlreichen Journalisten, die immer noch anfragen, kommen meist nur, um sich lustig zu machen über die ewig Gestrigen. „Die wollen gar nicht wahrhaben, dass wir nur noch ein antifaschistischer Chor sind, der Wert legt auf seine Tradition aus der Arbeiterbewegung.“ Dass es je ein Arbeiterchor war, darf aber bezweifelt werden: Auf der Mitgliederliste stehen ein Ex-General beim Wachbataillon, Offiziere, Ex-Generaldirektoren von Kombinaten und Wissenschaftler.
Seiner Linie ist der Chor treu geblieben. Neben etwa 25 Konzerten pro Jahr vermerkt die Chronik, die stets ein bisschen an Wandzeitung erinnert, auch Spendensammlungen für Kuba, eine Grußnote an Täve Schur zum 75., das „Lob des Revolutionärs Ernst Thälmann“ und die Forderung, das KPD-Verbot aufzuheben.
Immer häufiger sind auch Traueranzeigen ehemaliger Mitglieder eingeklebt und Fotos vom Singen an deren Gräbern. Während sie vorn „Conquest of paradise“ proben, erzählt Rolf Stöckigt, dass einige Mitglieder in Chorkleidung beerdigt werden möchten. In einer Uniform, die sie mit den Genossen verbindet, die noch immer, wenn nicht gar stärker als zu DDR-Zeiten, zusammenhalten. Genossen, die eine Welt pflegen, die nur noch in ihren kollektiven Erinnerungen und den Liedern besteht. Sie haben ihr Paradies nach der Wende nicht erobert – aber verteidigt.

Info-Box: ERNST-BUSCH-CHOR
Der „Chor der Parteiveteranen der SED“ wurde 1972 gegründet. Er entstand im Rahmen der Singebewegung.
Die SED fand schnell Gefallen an dem Ensemble, unterstützte es finanziell und unterstellte den Chor schließlich der Bezirksleitung in Berlin.
1983 benannte sich der Chor nach dem Schauspieler, Regisseur und Sänger Ernst Busch, der unter anderem durch seine Interpretationen von Arbeiterliedern Ruhm erntete.
Busch zu Ehren gibt der Chor noch heute jährlich ein großes Konzert an oder um Buschs Geburtstag, dem 22. Januar.
Rund 4000 Menschen hören den Chor jährlich – bei fünf eigenen Konzerten und zahlreichen Gastauftritten, etwa dem Pressefest des „Neuen Deutschland“.
2008 erscheint die dritte CD des Chors.

Erschienen am 09.02.2008

Freibier statt Wegzugsprämien

Freitag, 8. Februar 2008

Aschermittwoch: Linkspartei und SPD dienen der CDU als Zielscheiben / Hilke und Pflüger geben sich angriffslustig

Rund 900 Gäste kamen zum politischen Kehraus der CDU nach Doberlug-Kirchhain. Es war der erste mit Ulrich Junghanns als Hauptredner.

DOBERLUG-KIRCHHAIN Der Mann von der CDU-Ortsgruppe Elsterland nimmt gleich drei Freibier, denn er will auf Nummer sicher gehen, was einen unterhaltsamen Abend angeht: „Beim Schönbohm“, sagt er entschuldigend, „war’s immer amüsant. Der Uli ist zwar ein guter Mann, aber kein Gute-Laune-Drops.“ Dass viele Parteimitglieder diese Auffassung über ihren Vorsitzenden Ulrich Junghanns teilen, muss bezweifelt werden: Von Beginn an ist die Stadthalle in Doberlug-Kirchhain (Elbe–Elster) gut gefüllt. Mit 500 Gästen hat die CDU gerechnet, fast 900 sind gekommen. Vielleicht ist es Neugier darauf, wie sich Junghanns bei seinem Aschermittwochs-Debüt schlägt, vielleicht ist die Lust auf zünftige Generalabrechnung bei Bier, Brezeln und Blasmusik auch nach einer Zwangspause im Vorjahr gewachsen: Infolge der E-Mail-Affäre fiel der Politische Aschermittwoch der märkischen CDU 2007 aus.
Zunächst stürmt Generalsekretär Rolf Hilke für ein zehnminütiges Grußwort auf die Bühne – und sichert sich sogleich Aufmerksamkeit: „Die SPD plant eine Einöde im Süden Brandenburgs, sie will ihn verwildern lassen“, ruft er. „Doch bei der CDU gibt’s keine Wegzugsprämie, sondern Freibier fürs Kommen.“ Hoppla, da reiben sich einige im Saal die Augen. Das geht ja munter los. Und Hilke legt nach: „Die Linke im Land schnürt munter Wünsch-Dir-was-Pakete, und die SPD rennt blind hinterher. Doch egal, wie schnell sie läuft, die Linke ist immer schon da.“ Da hat Hilke einen Rat für den Koalitionspartner: „Wer sich parfümiert neben einen Misthaufen stellt, lässt den nicht besser riechen. Er fängt nur selbst an zu stinken!“ So geht es weiter. Applaus im Saal, Erstaunen, Begeisterung. „Das waren die längsten zehn Minuten des heutigen Abends“, sagt der Moderator, denn Hilke hat sich 20 Minuten lang in Form geredet. Was der Moderator nicht wissen kann: Unterhaltsamer wird es nicht mehr.
Ulrich Junghanns gibt sich aber redlich Mühe. Der Satz „Es gibt viele Themen, die man ansprechen müsste“, gehört dennoch nicht zu den eindrucksvollsten Eröffnungen. Dann ist er erstmal bei der Lage in Hessen, bevor er zur märkischen SPD kommt: Ihr hält Junghanns vor, derzeit Eintrittskarten für die nächste Regierungskoalition zu verteilen: „Mindestens der Mindestlohn ist offenbar gefordert“, ruft er und warnt vor Rot-Rot in der Mark. Zur Situation in seiner Partei sagt Junghanns, „in der Brandenburger CDU unter Prinz Ulrich kann man sich wohlfühlen“. Falls das Ironie war angesichts des Machtkampfes mit Ex-Generalsekretär Sven Petke, lässt er es sich nicht anmerken. Am Schluss versucht Junghanns dann noch einen Witz über dicke Märker. Niemand lacht. „Das mit den Scherzen, das sollte er lassen“, diagnostiziert der Mann aus dem Elsterland trocken über seinen leeren Biergläsern. Ganz anders Berlins CDU-Fraktions chef Friedbert Pflüger. Der kommt zwar deutlich zu spät aus Köln – die Band spielte, um die Zeit zu dehnen, schon den „Holzmichl“ – steht aber ab dem ersten Wort auf dem Gaspedal. „Seien Sie stolz auf Ulrich Junghanns. Er ist der erfolgreichste Wirtschaftsminister der neuen Länder. Brandenburg hat mehr Wachstum als Berlin“, ruft er. Jubel. „Berlin und Brandenburg gehören zusammen!“ Tosender Applaus. Als er ein „tugendhaftes, bescheidenes Preußen“ beschwört, das Werte wie „Anstand, Ehre und Pünktlichkeit“ zu schätzen wisse, gibt es stehende Ovationen. Dass Pflüger die Gäste warten ließ, ist vergessen. „Das Land sollte von niemandem regiert werden, der diese Tugenden als Sekundärtugenden disqualifiziert, als Tugenden, mit denen man auch ein KZ führen könnte“, ruft Pflüger, mittlerweile seines Jackets entledigt, in Anspielung auf ein uraltes Oskar-Lafontaine-Zitat. Zum Schluss kommt er noch zu seinem Lieblingsthema: dem Weiterbetrieb des Flughafens Tempfelhof. „Ich danke Uli Junghanns, Sven Petke und Jörg Schönböhm, dass sie sagen, wir brauchen Tempelhof weiterhin“, ruft er. „ Tempelhof gefährdet Schönefeld nicht. Das steht weder im Grundgesetz noch in den zehn Geboten.“

Erschienen am 08.02.2008


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