Archiv für die Kategorie „überregional“

Beste Noten für Gransee

Dienstag, 5. Februar 2008

Zeugnisse: Schüler geben im Internet Zensuren / Beliebtester Lehrer lehrt in Strausberg

STRAUSBERG/GRANSEE Es ist ein Halbjahres-Zeugnis, auf das Achims Eltern stolz sein können: Acht Einsen und zwei Zweien weisen den Strausberger (Märkisch-Oderland) als Musterschüler aus – Gesamtnote: 1,3. Beliebt ist er, cool und witzig, stets kompetent, fair, gut vorbereitet, beliebt und menschlich. Dass sein Zeugnis so gut geworden ist, hat Achim allerdings erst von Journalisten erfahren, die ihn anriefen und eine Reaktion erwarteten. Das mag daran liegen, dass Achim, der mit vollem Namen Hans-Joachim Baumert heißt und zudem einen Doktortitel trägt, gewohnt ist, Noten zu vergeben statt zu empfangen. Er ist Lehrer für Kunst, Geschichte und Lebenskunde-Ethik-Religion (LER) an zwei Strausberger Schulen: dem Theodor-Fontane-Gymnasium und der Anne-Frank-Oberschule. Und er ist Brandenburgs beliebtester Lehrer – zumindest wenn es nach dem Schülervotum geht, das 42 Jungen und Mädchen auf dem Internetportal „SpickMich.de“ hinterlassen haben. Dort dürfen seit einiger Zeit Schüler Noten für ihre Lehrer vergeben.
Regelmäßig zur Zeugnisausgabe ruft „SpickMich.de“ die rund 500 000 Schüler, die auf dem Portal angemeldet sind, zur Benotung auf. So lassen sich nicht nur die beliebtesten Lehrer, sondern auch die beliebtesten Schulen ermitteln. In Brandenburg führt das Strittmatter-Gymnasium in Gransee (Oberhavel) die Rangliste mit einer Gesamtnote von 2,2 an. Die besten Zensuren gab es für das moderne Schulgebäude (1,7), die Stimmung unter den Mitschülern und die Schulleitung (je 1,9), kritischer wurden hingegen die Mitbestimmungsmöglichkeiten (3,0) eingeschätzt. Schulleiter Uwe Zietmann bekannte, sich „erstmal gefreut“ zu haben, räumte aber Schwierigkeiten bei der Einordnung des Ergebnisses ein. „Es ist eine interessante Rückmeldung, die wir aber mit aller Vorsicht genießen“, sagte er.
„Lehrer verteilen täglich Noten. Es ist immer wieder erstaunlich, wie empfindlich manche sind, wenn sie selbst bewertet werden“, sagt Bernd Dicks von „SpickMich.de“. Einige Schulen hätten bereits mit Verweisen, Geldstrafen und der Polizei gedroht, falls Schüler an der Online-Bewertung teilnehmen. Durchsetzen können sie das nicht: Die Stimmabgabe im Internet ist anonym. Brandenburgs Lehrer haben ohnehin wenig Grund zur Klage: Mit einem Gesamtnotendurchschnitt von 2,6 liegen sie deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

INTERVIEW „Ein Wahnsinnsdurchschnitt“
Achim Baumert ist Brandenburgs beliebtester Lehrer. Mit ihm sprach Jan Bosschaart .

MAZ: Hat das Zeugnis einen Ehrenplatz bekommen?
Achim Baumert: Ich habe es noch gar nicht bekommen, es ist noch unterwegs.

Wie war Ihre erste Reaktion?
Baumert: Wenig überraschend: Ich habe mich sehr gefreut! Ist doch ein Wahnsinnsdurchschnitt, den ich erreicht habe. (lacht)

Welche Noten freuen Sie besonders?
Baumert: Die Einser in Fachkompetenz und Menschlichkeit. Und dass ich für witzig gehalten werde, denn das entspricht meinem Naturell.

Die Lehrerbewertung sehen viele kritisch – Sie auch?
Baumert: Nach diesem Ergebnis – wohl kaum. Es ist nur fair, wenn die Schüler sich auch artikulieren dürfen.

Erschienen am 05.02.2008

Ein Schritt zu weit

Donnerstag, 24. Januar 2008

Jan Bosschaart über das Für und Wider zur Privatisierung märkischer Seen

Man kann sie ja verstehen, die Sorgen der Fischer: Als Verpächter der Fischereirechte war der Bund in Gestalt der von ihr beauftragten BVVG ein verlässlicher Partner. Die Pachten galten als angemessen, Vertragsverlängerungen waren meist nur eine Formalie. Das Verhalten künftiger privater See-Eigner hingegen ist im Voraus schwer kalkulierbar: Wollen sie ihre Seen selbst bewirtschaften? Oder verpachten sie diese weiter – und wenn, zu welchen Konditionen? Das Land muss sich diese Sorgen nicht zu eigen machen, sondern kann elegant mit dem Finger nach Berlin zeigen und darüber hinaus „Willkommen in der Marktwirtschaft!“ rufen.
Auch wenn man es sich in der Staatskanzlei damit möglicherweise zu einfach macht: Vom Steuerzahler zu fordern, er müsse die Seen erwerben, damit die Fischer verlässliche Pachtbedingungen vorfinden, geht einen Schritt zu weit. In den meisten anderen Branchen müssen schließlich auch marktübliche Pacht bezahlt oder Eigentum erworben werden – sei es nun im Wald und auf dem Feld oder in der Industrie. Und solange Zäune um Seen verboten sind, dürfte es Touristen auch egal sein, wem das Idyll, das sie genießen, eigentlich gehört.

Erschienen am 24.01.2008

Weitsicht und Vernunft

Dienstag, 22. Januar 2008

Jan Bosschaart über den Stellenabbau im Brandenburger Strafvollzug

Sie haben ja recht, die Vollzugsbediensteten: Es ist nicht eben einleuchtend, wenn allenthalben über Kriminalität und schärferen Vollzug debattiert wird, zugleich aber viele Mitarbeiter aus den Haftanstalten entlassen werden. Wo Fordern und Handeln so auseinanderklaffen, kann der Ruf nach harten Strafen von seinem eigenen Echo übertönt werden, wie Hessens Ministerpräsident Koch dieser Tage gerade lernt. In der Justiz sparen, aber mehr von ihr verlangen, passt nicht zusammen. Doch die naheliegende Politikerschelte trifft zumindest in der Mark auch nicht den Kern der Sache: Die Ministerien müssen eben sparen, und angesichts leidlich guter Verhältnisse in den Haftanstalten – relativ viel Personal, relativ wenige Insassen – setzt die CDU-Ministerin eben dort den Rotstift an. Dass sie den Jugendvollzug verschont, ja sogar ein wenig mit Personal päppelt, spricht für Sensibilität und Weitsicht: Als das Jugendstrafvollzugsgesetz im Dezember den Landtag passierte, war der hessische Wahlkampf noch kein Spitzenthema. Dass Beate Blechinger statt mehr Schließern ausschließlich Psychologen und Pädagogen zur Aufstockung des Personals heranzieht, zeigt zudem, dass hier auch Sachlichkeit und Vernunft walten können – trotz Wahlkampfs ihrer Partei in Hessen.

Erschienen am 22.01.2008

„Wie früher!“

Montag, 14. Januar 2008

Jahrestag: Zehntausende gedachten in Berlin Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs

BERLIN Hilde Ketter ist vorbereitet. Dick angezogen und zusätzlich von einer Decke gewärmt, sitzt die 72-Jährige kurz nach 9 Uhr am Sonntagmorgen auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Frankfurter Allee, auf dem Schemel neben sich ein kleines Fernglas und eine Thermoskanne mit frischem Kaffee. Unter ihr, ein Stück die Allee hinab, sammeln sich etwa 50 linke Gruppen zum alljährlichen Gedenkmarsch anlässlich des Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Mit Trommeln, Trillerpfeifen und Parolen vertreiben sie die Kälte, allgegenwärtige Polizisten kontrollieren jeden Neuankömmling auf Waffen und Wurfgegenstände, und die Demonstrationsleitung erinnert per Megaphon an die Regeln: Keine Stahlkappenschuhe, schön zusammenbleiben und Transparente stets in Laufrichtung halten, nicht zur Seite. „Von mir aus kann’s losgehen“, sagt Frau Ketter, die bereits bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen ist und langsam ungeduldig wird. Die Kälte kriecht selbst unter die Decke.
Doch unten schert man sich nicht um die Wünsche der älteren Dame, die „aus Nostalgie“ jedes Jahr den Gedenkmarsch zu Ehren der 1919 von rechten Freikorps ermordeten Arbeiterführern beobachtet. Mit „den Sozen“ habe sie zwar „nichts am Hut“, sagt sie, doch „den Aufmarsch“ schaue sie gern an. „Auch wenn früher viel mehr los war“, fügt sie enttäuscht hinzu. Zu DDR-Zeiten organisierte Politbüro das Gedenken an „Karl und Rosa“, Hunderttausende zogen damals zur „Gedenkstätte der Sozialisten“ auf dem Friedhof Friedrichsfelde. An diesem Sonntag sind es immerhin 3400 Demonstranten, die sich in den Zug einreihen, der „mit kommunistischer Pünktlichkeit“, wie der Sprecher betont, um exakt 10 Uhr startet.
Zwei Punkte sind es, die den Umzug in diesem Jahr herausheben: Zum einen haben rechte Gruppen Krawall angedroht, weshalb die Demonstrationsleitung ein wenig nervös wirkt, zum anderen ist es 20 Jahre her, dass eine kleine Gruppe Dissidenten 1988 auf der Demonstration mit einem Rosa-Luxemburg-Plakat für Meinungsfreiheit warb: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ stand darauf, es war nur kurz zu sehen, bevor Sicherheitskräfte das unterbanden, sorgte aber für Wirbel in westdeutschen Medien. Beide Punkte spielen an diesem Sonntag jedoch keine große Rolle: Von Rechten ist weit und breit nichts zu sehen, wohl auch wegen der massiven Polizeipräsenz, und weil eine NPD–Gegendemonstration verboten wurde. Und an die Dissidenten erinnert niemand öffentlich. Die Linkspartei nimmt ohnehin nicht am Umzug der tendenziell sehr linken Gruppen teil, sondern beschränkt sich auf stilles Gedenken und eine Kranzniederlegung, an der unter anderem Parteivorsitzender Lothar Bisky, Fraktions chef Gregor Gysi und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau teilnahmen. Auch viele Nichtparteigänger kommen an diesem Tag zum Ehrenmal, die meisten mit einer roten Nelke in der Hand. Die Veranstaltungsleitung spricht von etwa 70 000 Besuchern.
Als der Demonstrationszug endlich unter ihrem Balkon vorbeikommt, hellt sich auch Hilde Ketters vor Kälte gerötetes Gesicht auf: Sie hat eine DDR- und eine FDJ-Fahne in der Menge ausgemacht. Als der Zug auch noch die „Internationale“ anstimmt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Wie früher!“ sagt sie.

Erschienen am 14.01.2008

Netter Versuch!

Samstag, 12. Januar 2008

Jan Bosschaart über den Alarmismus der Wirte beim Nichtraucherschutz

Das Trommeln in eigener Sache gehört zum Handwerkszeug im Verbandsgeschäft. Dazu sind Verbände da: um die Kräfte zu bündeln und der geeinten Stimme mehr Gewicht zu verleihen. Dieses Gewicht aber muss Uwe Strunk, Hauptgeschäftsführer des Brandenburgischen Hotel- und Gaststättenverbandes, schwer auf der Seele gelastet haben, als er ein Interview über den Ärger der Gastwirte wegen des Rauchverbots gab. Es ließ aus dem Trommeln einen veritablen Paukenschlag werden. Dass es Cafés gebe, in denen seit dem 1. Januar deshalb nicht einmal ein Stück Kuchen verkauft wurde, behauptete er. Mag sein, dass ihn der Knall selbst erschreckt hat, denn ein konkretes Beispiel blieb der Cheflobbyist der märkischen Wirte auch auf Nachfrage schuldig. Sein angedeuteter Fall in der Prignitz beruht bei genauerem Hinsehen jedenfalls eher auf einer Mischung aus Angst vor dem Ausbleiben der Raucher und der saisonal typischen Flaute im Gastgewerbe. Das heißt nicht, dass das Rauchverbot nicht die Gefahr birgt, kleine Lokale in den Ruin zu treiben. Es beweist nur, dass es für solche Aussagen noch zu früh ist. Bis das geklärt ist, gilt: Netter Versuch, Herr Strunk!

Erschienen am 12.01.2008

Lauwarmer Entzug

Donnerstag, 3. Januar 2008

Nichtraucherschutz: Seit Neujahr gilt das Rauchverbot in Gaststätten, aber nicht jeder hält sich daran

Seit drei Tagen ist die Zigarette im Lokal verboten. Die Gastwirte reagieren mit kaltem Entzug, langsamer Entwöhnung – und strikter Verweigerung.

POTSDAM Richard Putters Welt ist in der Silvesternacht ein kleines Stück heller geworden. Der 33-Jährige, der sich selbst als Gourmet, als Wein- und Kaffeekenner bezeichnet, geht seither mit weniger Vorbehalten in Restaurants und Cafés. „Ich habe nie verstanden, wie man in nikotingetränkter, rauchverpesteter Luft Genuss erleben soll“, sagt der Potsdamer und wedelt imaginäre Rauchschwaden weg. Die Geste ist überflüssig: Im Spezialitätenkaffee in den Potsdamer Bahnhofspassagen, wo Putter seinen Latte Macchiato schlürft, sind die Aschenbecher seit dem 1. Januar abgeschafft worden. Und Putter ist nicht der einzige, den das freut. „Einige Gäste sind froh, jetzt überall sitzen zu können, nicht nur in der Nichtraucherecke“, sagt Filialleiterin Yvonne Sprenger. Einige, aber nicht alle: Fünf Gäste machten auf der Schwelle kehrt, als sie vom kategorischen Rauchverbot im Café erfuhren, zwei weitere haben diskutiert, letztlich aber doch einen Kaffee bestellt.
So rigoros wie dort verfuhr man nicht überall: Die meisten Lokale ließen ihre Gäste in der Silvesternacht auch nach 0 Uhr weiterrauchen. „Aschenbecher einsammeln wäre uns zu albern gewesen“, sagt Bob Demtröder vom Potsdamer Alex-Restaurant. Doch auch bei ihm gilt seit Dienstagmittag: Wer seine Zigarette braucht, muss vor die Tür. Dort stehen Wärmedecken und Heizpilze bereit. Weil einige Kunden ihrem Unmut lautstark Luft machten, wird das Alex künftig bis zum frühen Abend auch das Rauchen zumindest an der Theke wieder erlauben – zu viele drohten, nicht wiederzukommen. Das aber kann nur eine Übergangslösung sein: Spätestens zum 30. Juni ist auch damit Schluss, denn dann werden die im Nichtraucherschutzgesetz bislang nur angedrohten Bußgelder auch erhoben: 100 Euro für rauchende Gäste und 1000 Euro für Wirte, die das nicht unterbinden. Bis dahin kocht jeder sein eigenes Süppchen: Vom rigorosen Entsorgen aller Aschenbecher über die Auslagerung rauchender Gäste in den Raucherraum bis zur maximalen Ausnutzung der Übergangsphase – oder durch radikale Verweigerung. Dabei ist eine Zweiteilung zu beobachten: Während die gehobenen Restaurants und Hotels seit dem Neujahrstag den Tabakqualm aus ihren Räumen verbannt haben, weigern sich die Eckkneipen und Bars noch.
So wie Ulrich „Uli“ Kasiske. Kasiske ist Kneipier in Berlin-Friedrichshain und ein erbitterter Gegner des neuen Gesetzes. Gemeinsam mit zwei Stammgästen hat er die „Initiative für Genuss Berlin“ gegründet, die in der Hauptstadt fleißig Unterschriften gegen das Gesetz sammelt. 20 000 benötigt sie in einer ersten Stufe, rund 6000 hat Kasiske schon zusammen. „Bei mir rauchen 95 Prozent der Gäste“, sagt er, „ich will ja nur, dass jeder Wirt selbst entscheiden darf.“ Mit seiner Initiative und mit der Ankündigung, in ein noch einzurichtendes Raucherzimmer seiner Kneipe einen Tunnel einzubauen, damit Nichtraucher nikotinfrei zu den Toiletten gelangen, hat er es in diesen Tagen bereits zu einiger Presseberühmtheit gebracht.
Am Tag zwei der rauchfreien Gaststätten formierte sich auch der Widerstand. Nicht jeder ging dabei so weit wie jener Gast eines Restaurants auf der Nordseeinsel Wangerooge, der aus Wut über das Rauchverbot auf den Wirt mit einer Bierflasche einprügelte: Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Dehoga etwa beschränkte sich darauf, seine Kritik an den Gesetzen zu erneuern. Bereits kurz vor Weihnachten strengte der Verband eine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht an, um vor allem die Eckkneipen zu schützen. Bayerische Wirte, die dem strengsten Gesetz ausgesetzt sind, erklärten gestern, sie planten zudem eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe, und die Internetseite „Zigarrenplattform.de“ rief „alle Tabakgenießer und politisch wachen Nichtraucher“ auf, „die Ausbreitung einer Verbotskultur in Deutschland zu bekämpfen!“. Aus einer anderen Richtung kam Kritik von der brandenburgischen Bundestagsabgeordneten Petra Bierwirth (SPD), die Chefin des Umweltausschusses ist: Sie forderte einen Verzicht auf Heizpilze, die Wirte vor ihren Lokalen aufstellen, um rauchende Gäste nicht in der Kälte stehen zu lassen. Die Geräte führten zu einem enormen CO2-Ausstoß.
Auch in Frankreich und Portugal gelten seit dem 1. Januar Rauchverbote in Lokalen. Das fiel vor allem Antonio Nunes auf die Füße: Der Chef der für das portugiesische Nichtraucherschutzgesetz zuständigen Behörde wurde in der Silvesternacht von einer Tageszeitung rauchend in einem Lissabonner Kasino ertappt. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass das Gesetz auch Kasinos einschließe, gab er zu Protokoll und will nochmal nachlesen.

Erschienen am 03.01.2008

Letzte Ausfahrt Heiligendamm

Samstag, 14. April 2007

Attac: Im Jahr des G 8-Gipfels droht der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit

POTSDAM In der „Galerie“ finden sich Bilder aus besseren Tagen: Die Potsdamer Attacies beim G8-Gipfel in Evian (Sommer 2003) und beim Europäischen Sozialforum in Paris (November 2003). Unter Termine steht: „Nächstes Treffen 2005, Montag“. Die Rubrik „Aktuelles“ vermerkt eine Protestdemo am 16. Februar 2005. Kurzum: Auf der Internetseite von Attac Potsdam liegt eine spürbare Staubschicht. Auch auf Mails und Anrufe reagiert zunächst niemand. Damit ist Potsdam kein Einzelfall, die Attac-Hauptseite beweist es – viele Ortsgruppen haben den Betrieb vorübergehend oder dauerhaft eingesellt: Emden: „Die Gruppe ruht im Moment, es soll aber bald weitergehen.“ Oder Greifswald: „Zurzeit finden keine Treffen statt.“ Was also ist los mit Attac, dem einstigen Medienliebling, der „Stimme der Globalisierungskritiker“?
„Attac ist in ein Loch gefallen, man macht eine formidable Orientierungskrise durch“, sagt Ralf Baus, der für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung mehrere Dossiers über das Netzwerk verfasst hat. Ein Grund sei die abgenommene Aufmerksamkeit der Medien. Aber erklärt das das Phänomen nicht quasi von hinten nach vorn? „Die Medien haben Attac groß gemacht“, bestätigt Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin über soziale Bewegungen forscht: „Attac war nie ein Vorkämpfer der Globalisierungskritik. Und es ist nicht groß: Im Vergleich mit den Gewerkschaften oder Greenpeace ist es sogar ein Zwerg. Aber sie sind im richtigen Moment von den Medien emporgespült worden.“
Geboren wurde die Protestbewegung schon einige Jahre zuvor in Frankreich. In einem berühmt gewordenen Leitartikel der französischen links-intellektuellen „Le Monde diplomatique“ forderte der Journalist Ignacio Ramonet die Einführung einer Steuer auf internationale Devisengeschäfte, die so genannte Tobin-Steuer, um die internationalen Finanzmärkte zu demokratisieren. Der Aufruf erzeugte soviel Resonanz, dass es innerhalb weniger Monate Anfang 1998 zur Gründung von Attac kam. Der Name leitet sich aus der französischen Abkürzung für „Verein für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“ ab. Der deutsche Ableger des Netzwerks erblickte im Jahr 2000 das Licht der Öffentlichkeit. Ein denkbar günstiger Moment: Die beiden linken Parteien im Bundestag waren an der Regierung und hatten ein Jahr zuvor Deutschland in den ersten Kriegseinsatz seit Gründung der Bundesrepublik geführt. Linker Protest fand im Parteiensystem keinen Ansprechpartner mehr.
„Gerade für viele junge Leute war Attac eine interessante Gruppe: Sie erhofften sich eine schnelle Veränderung in der Politik und wurden von den lockeren Netzwerkstrukturen angezogen“, sagt Dieter Rucht. In wenigen Jahren explodierten die Mitgliedszahlen förmlich: von 2000 im Dezember 2000 auf 12 000 im Dezember 2003. Daran ist vor allem Genua schuld. Kein Ereignis hat soviel Aufmerksamkeit auf Attac gelenkt wie der G 8-Gipfel im Juni 2001 in Italien, bei dem es zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen zwischen teils militanten Globalisierungsgegnern und der Polizei kam. „Das war das Format von Attac: Wo die Großen der Welt zusammenkommen, sind wir demonstrierend dabei, und wenn es Randale gibt, haben wir mediale Aufmerksamkeit“, umschreibt Ralf Baus den Mechanismus. Die „nicht eindeutige Abgrenzung von Gewalt“ hält er für den schwierigsten Aspekt an Attac. Dass die Gruppe immer wieder mit dieser Frage ringt, zeigt sich auch vor dem G 8-Gipfel im Juni in Heiligendamm: Weil sich der Attac-Vorsitzende Peter Wahl im Vorfeld eindeutig vom gewaltsamen Protest distanzieren wollte, distanzierte sich plötzlich der G 8-kritische „Gipfelsoli“ von Attac.
Mediale Aufmerksamkeit hat den Charakter einer Droge: Sie putscht und pusht, aber sie flacht schnell wieder ab. So schnell, dass Attac nicht immer nachlegen konnte. Im Überraschungserfolg von Attac 2001 lag bereits der Keim des Untergangs: Der Medienhype spülte Tausende Mitglieder ins Netzwerk, das darauf gar nicht vorbereitet war. Auch war nicht jeder Neuzugang zum Besten der Organisation: Die Randale in Genua machte Attac vor allem für radikale Linke interessant, kirchliche Gruppen wie Pax Christi oder Umweltverbände wurden an den Rand gedrängt. Also ging man in die Breite, um jedem seine Spielwiese zu geben. Vielfach wurde das Thema Globalisierung dazu aufs Nationale oder gar Regionale heruntergebrochen. Plötzlich gab es Arbeitsgruppen zur Bahnprivatisierung und zu kommunaler Abwasserproblematik. Attac zerfaserte. Das Konsensprinzip, nach dem eine Mehrheit für Entschließungen nicht genügt, sondern stets allgemeine Übereinstimmung herrschen muss, machte die aus 170 Organisationen bestehende Gruppe zum zahnlosen Tiger.
Nicht zuletzt ist Attac auch ein wenig das Opfer seines eigenen Erfolges geworden. Kernforderungen der Globalisierungskritiker sind längst Allgemeingut: Als Franz Müntefering (SPD) im Frühjahr 2005 Finanzinvestoren mit einer Heuschreckenplage verglich und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) weltweite Finanzspekulationen auf die Tagesordnung der G 8 setzte, nahmen sie globalisierungskritische Kernthemen auf. „Wenn Themen einer Gruppe in die Öffentlichkeit einsickern, steht der ursprüngliche Impulsgeber nicht mehr lange im Zentrum“, sagt Bewegungsforscher Rucht. Eine Erfahrung, die auch Greenpeace und die Grünen machen mussten. Erfolg kann für soziale Bewegungen tödlich sein, wenn sie sich nicht rasch neu orientieren.
Bewegungsforscher Dieter Rucht sieht die größere Dynamik der Globalisierungskritik ohnehin bei christlichen Gruppen in Afrika und den sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas. „Die Dynamik geht nicht von den kapitalistischen Kernländern aus. Die Kraft, die Energie und vor allem die Evidenz der Problematik sind in den Südländern viel stärker spürbar“, sagt er.
Was also passiert mit Attac? Geht es unter? Thomas Baus sieht keine Perspektive. Ein Großereignis wie Heiligendamm könne zwar die Orientierungskrise überdecken, aber nicht lösen, glaubt er. Dieter Rucht hingegen sieht Attac momentan nicht aktiv bedroht. Durch die G 8-Mobilisierung gebe es „einen Zufluss an Kräften“. Exorbitantes Wachstum erwartet er aber nicht.
Am Ende gibt es doch noch Rückmeldung von der Potsdamer Attac-Website. Man sei derzeit dabei, die Gruppe neu zu formieren, heißt es. Was das genau bedeutet, ob die alte Gruppe tot und eine neue im Aufbau ist, verrät der Sprecher auch auf Rückfrage nicht. Man sei mit den Vorbereitungen für den Gipfel voll ausgelastet. Das scheint auch drigend nötig zu sein: Auf dem steilen Weg nach unten ist Heiligendamm die letzte Ausfahrt.

Erschienen am 14.04.2007

Terroristen beim Therapeuten

Donnerstag, 5. April 2007

RAF-Täter und ihr Leben „danach“

Man muss sich den Psychoanalytiker als harten Hund vorstellen. Als einen, der es gewohnt ist, die tiefsten Tiefen menschlicher Abgründe weitgehend stumm zu ertragen; der standhält, wenn der andere seine schlimmsten Traumata in der Beziehung zum Analytiker wiederholt. Deshalb bekommt die Zahl besonderes Gewicht: Acht! Acht gestandene Therapeuten haben sie verschlissen, die 15 Mitglieder der RAF und des „2. Juni“, die sich über Jahre mit Psychologen zu Gesprächen trafen. Die Gruppe entstand 1996 nach einem Vortrag über die Traumatisierung politischer Gefangener in Chile. Ohne Absprache fanden sich 15 ehemalige RAF-Terroristen im Publikum, viele frisch aus der Haft entlassen. Sie suchten das Gespräch, weil sie Parallelen sahen zwischen dem Bericht und ihrer Haftzeit. Der Redner, selbst Psychologe, war entsetzt: Wie konnten sich Terroristen, die in einem Rechtsstaat verurteilt und inhaftiert waren, mit Folteropfern in Chile gleichsetzen? Er lehnte ab, doch andere Kollegen ließen sich ein.
Zehn Psychologen waren es, die an Deformation schon einiges gesehen hatten. Einiges, aber nicht diese Gruppe, die zwar um Hilfe ersuchte, aber schon das Wort Therapie nicht ertrug. Nur zwei sind geblieben. Sie haben ein Buch herausgegeben, das reflektiert – ihre Sicht und die der Gruppenmitglieder Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts, Roland Mayer und Ella Rollnik. Leicht ist auch den Therapeuten das Bleiben nicht gefallen. „Nie zuvor habe ich soviel Entwertung und so wenig empathisches Mitschwingen erlebt“, schreibt Angelika Holderberg. Sie fürchtete oft, „verloren zu gehen im Strudel von Spaltung und Verleugnung, der zu Paranoia, Selbstzerstörung und Flucht in Allmachts-fantasien führte“. Und Volker Friedrich ergänzt: „Viele der Therapeuten sind gegangen, weil sie die Leere der Beziehungen in der Gruppe nicht ertragen konnten.“ Auch große Teile der Gruppe verließen die Sitzungen bald. Weil sie nicht bereit waren, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, weil sie sich in gegenseitigen Vorwürfen verstrickten und weil sie es nicht ertrugen, dass die sie vermeintlich tragende RAF längst zerbrochen war. „Es glich einem Tigerkäfig. Das Kollektiv war kommunikationsunfähig. Die unbesprochenen Widersprüche aus 20 Jahren waren explodiert und lagen als Trümmer zwischen uns“, schreibt Knut Folkerts.
Als das Buch verfasst wurde, war die Debatte um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar nicht absehbar. Dennoch liest es sich wie ein Kommentar dazu. Gefangenschaft, Sonderhaftbedingungen und Isolation machen eine Selbstdistanzierung – die notwendige Voraussetzung für Reflektion und Reue – unmöglich. Der Glaube an die Sache, an die Gemeinschaft im Terror und das eitle, ja narzisstische sich für etwas Besseres halten waren in Stammheim, Celle und Bruchsal schlechterdings überlebensnotwendig.
Trotz einiger Erfolge in dieser seltsamen Gruppe: Bis zur Frage der Reue ist niemand vorgedrungen. Zu einer kritischere Sicht auf sich selbst und die RAF hingegen schon. „Wir waren das lebende Dementi dessen, wofür wir zu kämpfen behaupteten: Identität, Souveränität, Authentizität“, schreibt Roland Mayer. Bis zu solcher Erkenntnis vergingen sieben Jahre zähen Ringens mit sich und den anderen. Ein Therapeut, der nach drei Jahren ging, schreibt, es sei schwer gefallen, „die alte, ungeschmälerte Wut, die unerschütterliche Selbstgerechtigkeit“ zu ertragen. Bis zuletzt habe er auf ein Zeichen der Übernahme persönlicher Schuld oder Reue gewartet. Es kam nicht. „Der eigene Mythos fuhr mit allen davon“. Stattdessen dominierten Wut, das Gefühl, verraten worden zu sein, Opferrolle und Selbstmitleid. Man muss sich den Terroristen als schwer deformierte Persönlichkeit vorstellen.

Angelika Holderberg (Hrsg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Psychosozial-Verlag, Gießen 2007. 224 Seiten, 19,90 Euro

Erschienen am 05.04.2007

Keine Anleitung zur Interpretation der DDR

Donnerstag, 29. März 2007

Ein Buch zur Debatte: Wie weit darf Politik das kollektive Gedächtnis normieren?

Den Begriff „Geschichtspolitik“ hört Martin Sabrow nicht gern. Er verliert dann für einen Augenblick sein entspannt-distanziertes Lächeln. Der Historiker war Vorsitzender einer Kommission, die im Auftrag der Bundesregierung zwischen 2005 und 2006 Vorschläge zur „Neuordnung der DDR-Erinnerungslandschaft“ erarbeitete. An der Arbeit und am Bericht entzündete sich eine aufgeregte Debatte, die in der medialen Wahrnehmung zeitweise zum „neuen Historikerstreit“ aufgebauscht wurde. Widerspruch entspann sich vor allem an der Forderung, dem DDR-Alltag im kollektiven Gedächtnis breiteren Raum zu gewähren. Damit öffne die Kommission einer „weichspülenden Diktaturverharmlosung“ Tür und Tor, so der Vorwurf. Ein Buch, das die Debatte dokumentiert, ist dieser Tage erschienen.
Es ist heiß und hoffnungslos überfüllt im Seminarraum des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) am Neuen Markt in Potsdam, als ZZF-Direktor Sabrow das Werk vorstellt. Und es wird schnell deutlich, dass sich die Kampflinien seit der Präsentation des Berichts im Sommer 2006, die knapp an einem Eklat vorbeischrammte, nicht wesentlich verändert haben. „Eine Expertenkommission, die über die Zukunft der Erinnerung bestimmt, das hatten wir doch schon“, ruft ein älterer Herr erregt, „ich hatte gehofft, diese leidvolle Erfahrung nicht erneut machen zu müssen.“ Martin Sabrow räumt ein, die DDR sei eine „Konsensdiktatur“ gewesen, verwahrt sich aber gegen den Kern des Vorwurfs. Erinnerungen entstünden unabhängig von Kommissionen, sagt er, und weil das zugleich den Zweck seines Gremiums in Frage stellt, fügt er hinzu: „Wir wollten nur die Richtung beeinflussen.“ So recht überzeugen mag das die wenigsten. Der Journalist und Historiker Peter Bender betont, das immer Geschichtspolitik herauskomme, wenn Politik sich mit Geschichte befasse. Das müsse nicht per se schlecht sein. Die Kommission habe weder die Diktatur noch den Widerstand relativiert und der Versuchung widerstanden, ein Schwarz-Weiß-Bild der DDR zu zeichnen. Bender bemängelt allerdings das völlige Fehlen der Außenpolitik im Bericht. „Das ist ein großes Manko. Vieles, was in der DDR geschah, wurde nicht im Politbüro, sondern in Moskau und Washington entschieden.“ Zudem sei die DDR nicht immer gleich gewesen: „Es ist ein verdammter Unterschied, ob wir über Ulbrichts Rasereien der 50er oder die autoritäre Langeweile der 80er Jahre reden.“
Als auch noch Reinhard Rürup, ehemals Direktor der Berliner „Topografie des Terrors“, anfügt, zeitgeschichtliche Forschung sei immer Geschichtspolitik, und wer das verleugne, sitze einer Illusion auf, springt Rainer Eckert auf. Der Leipziger Historiker war Kommissionsmitglied. Die gesamte Debatte gründe vom ersten Tag an auf einem für Deutschland symptomatischen Missverständnis, schimpft er: „Wir wollten keine Geschichte der DDR schreiben, keine Interpretationsanleitung.“ Vielmehr lautete der Auftrag, Empfehlungen an die Politik zu formulieren, wie Gedenkstätten und Gedenkpolitik zu organisieren seien. „Wir haben nie politisch argumentiert“, fügt er hinzu. „Als ob das einen großen Unterschied machte“, murmelt jemand im Plenum.
Indirekt hat Martin Sabrow die Schwierigkeiten da längst eingeräumt. Auf die Frage, ob in und mit Hilfe seiner Kommission Stellvertreter-Kriege der wichtigsten politischen Richtungen in Deutschland ausgefochten wurden, verstummt er kurz: „Nach langem Nachdenken muss ich sagen: ja!“

Erschienen am 29.03.2007 (Kultur)

Noch eine Kapitulation

Freitag, 23. März 2007

Das Frankfurter Scheidungs-Urteil und die Leitkultur-Debatte

Von HENRY LOHMAR
und JAN BOSSCHAART

POTSDAM Henryk M. Broder ergeht sich in Sarkasmus. „Was sich noch nicht herumgesprochen hat: Ich habe diese Frau bezahlt“, sagt der Berliner Publizist über die Familienrichterin aus Frankfurt/Main, die Gewalt in einer muslimischen Ehe gerechtfertigt hat. In der Tat: Der am Mittwoch bekannt gewordene Fall passt wunderbar zu Broders These, wonach der Westen in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sein Heil zunehmend im Appeasement, in der vorauseilenden Selbstaufgabe, sucht. „Hurra, wir kapitulieren“, hat „Spiegel“-Autor Broder sein jüngstes Buch genannt, in dem er sich mit diesem Phänomen beschäftigt.
Die Frankfurter Richterin hatte die vorzeitige Scheidung einer Muslimin von ihrem Mann, der sie geschlagen haben soll, abgelehnt und festgelegt, dass es „keine unzumutbare Härte“ sei, das Trennungsjahr abzuwarten. Sie berief sich dabei auf eine Sure des Korans und argumentierte, im marokkanischen Kulturkreis des Paares sei das Züchtigungsrecht des Mannes gegenüber seiner Frau nicht unüblich (MAZ berichtete). Die Frau, eine Deutsche marokkanischer Abstammung, wollte eine schnelle Scheidung mit der Begründung, ihr Mann habe sie geschlagen. Sie lehnte die Richterin schließlich als befangen ab, ein anderer Richter gab diesem Antrag am Mittwoch statt.
Der Fall hat bundesweit für große Aufregung gesorgt und eine neue Debatte über westliche Leitkultur und die Wehrhaftigkeit des demokratischen Rechtsstaats ausgelöst. Eine vernünftige Erklärung aber, wie eine deutsche Richterin auf die Idee kommen kann, den Koran quasi über das Grundgesetz zu stellen, hat keiner. Ein Einzelfall? Keinesfalls, sagt Henryk M. Broder. Es komme immer wieder vor, „dass Leuten ihr kultureller Hintergrund als mildernder Umstand angerechnet wird.“ Bekannteste Beispiele aus jüngster Zeit sind wohl der Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen und, in dessen Gefolge, die Absetzung der Berliner „Idomeneo“-Inszenierung. In der Interpretation des Mozart-Stücks war ein abgeschlagener Mohammed-Kopf auf der Bühne gezeigt worden.
Aber auch aus der Justiz gibt es Beispiele. So hatte ein Urteil des Potsdamer Landgerichts gegen das ZDF im vergangenen Mai für Unverständnis gesorgt. Die Richter untersagten dem Sender, einen früheren Imam der Berliner Mevlana-Moschee „Hassprediger“ zu nennen. Das ZDF-Magazin „Frontal21“ hatte über den Imam berichtet und ihn im Frühjahr 2005 auf der Internetseite ZDF-Online als „Hassprediger“ bezeichnet, der unter anderem Deutsche als „stinkende Ungläubige“ tituliert habe, die in die Hölle kämen. In der Urteilsbegründung hieß es, der Begriff „Hassprediger“ sei keine reine Meinungsäußerung, sondern enthalte den Vorwurf einer strafbaren Aussage.
Die Begründung der Frankfurter Familienrichterin wurde gestern einhellig zurückgewiesen. Der Zentralrat der Muslime bezeichnete das Verhalten als „skandalös und auch rassistisch“, die Frauenrechtlerin Seyran Ates warf der Richterin gar Menschenverachtung vor. „Gewalt darf mit nichts gerechtfertigt werden. Die Richterin sollte schleunigst suspendiert werden“, forderte der Bundesvorsitzende der türkischen Vereinigung, Kenan Kolat. Frauenrechtlerin Alice Schwarzer beklagte auf Spiegel Online „eine Unterwanderung des deutschen Rechtssystems durch islamische Kräfte im Namen eines anderen Kulturkreises“.
Interessant ist nun, was aus der Frankfurter Familienrichterin wird. Disziplinarische Konsequenzen seien abwegig, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Jürgen Lünemann. Er bezeichnete den Fall aber als „klare Fehlentscheidung.“ Autor Broder hat eine andere Idee: „Ich wünsche dieser Frau, dass sie in einen saudi-arabischen Harem verheiratet wird. Dann hätte sie die Praxis zu ihrer Theorie.“

Erschienen am 23.03.2007


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